Mancher Gipfel wird nur erreicht, wenn der Wanderer bereit ist, sich auch auf gefahrvolle Strecken einzulassen. An bestimmten Wegen in den österreichischen Alpen steht ein Schild: "Weitergehen nur bei Schwindelfreiheit und Trittsicherheit". Vielleicht ist ein Gletscher zu überqueren - vielleicht führt der Weg an einem tiefen Abgrund vorüber - vielleicht führt er durch eine enge Felsspalte, wo ich mich nur noch an Seilen oder Ketten fortbewegen kann, vielleicht bricht ein Unwetter los, dem ich schutzlos ausgesetzt bin. Auch diese Erfahrungen können wir wieder in sprichwortähnliche, über sich hinausweisende Worte bringen:
- "Manchen Schritt darf ich nur tun, wenn ich schwindelfrei bleibe, obwohl sich der Abgrund neben mir zeigt."- "Trittsicherheit setzt voraus, dass ich das nächste Stück Boden, auf das ich meinen Fuß setzen will, als tragfähig erkenne und dass ich mein Gleichgewicht halten kann."
- "Mancher Gipfel ist nur mit einem Bergführer zu besteigen, der weiß, wo der Weg weitergeht und wo besondere Gefahren des Absturzes bestehen."
- "Nach dem Überwinden einer schmalen, engen Felsspalte tun sich oft überraschend neue Ausblicke auf."
- "Nach einem Unwetter ist die Sicht oft besonders klar, die Blaufärbung der Wasserfälle einzigartig schön."
- "Die Bergbahn nimmt ihren Weg oft durch die Dunkelheit des Berginnern, um uns schneller auf den Gipfel zu bringen".
Eine Ordensschwester, welche mit sechzig Jahren erstmals das Hochgebirge erlebte, schrieb mir überwältigt: "Der Berg mit all seiner Bedrohung, dem Absturz, der Höhe, den Gefahren, dem Schweiß, der Angst, mit allem, was eben zum Berg gehört, war mir nicht fremd, kannte ich ihn doch aus all den inneren Wegen... der Berg ist --- der WEG!" Christen aller Zeiten, die ernsthaft versucht haben, sich auf den Weg der Nachfolge Christi einzulassen, mussten erfahren, dass dieser Weg häufig durch gefahrvolle, dunkle und harte Strecken führt. "Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach", sagt Jesus, "denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's erhalten" (Lk 9,23f). Meister Eckehart sagt zu dieser Stelle : "Wenn unser Herr einen besseren Weg gewusst hätte, er hätte ihn genannt." Der Weg der Nachfolge führt nicht am Leiden, an Schmerz und Tod vorbei, sondern durch diese hindurch zur Auferstehung - es ist der Weg Jesu Christi selbst, auf den wir gestellt werden. Aber für uns, die wir von der Osterwirklichkeit herkommen, fällt bereits in das Dunkel hinein ein Strahl des Osterlichtes. Nur von dieser Möglichkeit her kann ich versuchen, Meister Ecke"Leidensmystik" zeigt sich bei ihm besonders deutlich, dass er nicht nur "die höchsten Gipfel erstiegen hat", sondern dass er manchmal schon überhaupt diese Erde mit ihrer Schwerkraft hinter sich gelassen zu haben scheint - in seinem "Einsgewordensein" mit Gott. Er sieht Schmerz und Leid aus einer anderen Perspektive als wir westlichen Menschen des 20.Jahrhunderts, die wir so oft verlernt haben, mit Schmerz und Leid richtig umzugehen. Meister Eckehart traut uns zu, dass auch wir uns diese neue Sicht zu eigen machen können.Aber das fordert uns einiges ab: Ganz persönlich muss ich bekennen, dass ich selbst jedes Mal innerlich zittere, wenn ich mich mit einer Gruppe auf die Leidensmystik Meister Eckeharts einlasse. Vor kurzem erlebte ich, dass eine junge Frau nach dieser Einheit deutlich kundgab, sie könne damit nichts anfangen. Ihr Gottesbild sehe anders aus. Da erwiderte ihr eine ältere Teilnehmerin der Gruppe, sie möge dankbar sein, wenn sie dunkle Wegstrecken in ihrem jungen Leben noch nicht erfahren habe. Aber sie kämen gewiss - und dann sei es gut, darauf vorbereitet zu sein.
Bevor wir uns nun auf diesen einsamen Weg der Eckehart'schen Leidensmystik einlassen, müssen wir uns unbedingt noch drei Fragen stellen:
Manches, was Meister Eckehart über das Leiden sagt, mag uns schockieren: Geht es da nicht um ein ungesundes Verdrängen von Schmerz und Leid? Wir sagten schon: Loslassen kann ich nur das, was ich besitze! Viel besser als frühere Generationen wissen wir heute um die psychologische Notwendigkeit, Leiden zuzulassen und auch alle Stufen des Sterbens - wie sie Kübler-Ross aufzeigt - in einer echten "Trauerarbeit" durchzustehen: Leugnung und Abwehr (Nicht - wahr - haben - Wollen); Anklage und Zorn (Aggressionen); Verhandeln und Hin- und Her - Erwägen; Trauer und Erleiden des Schmerzes; Annahme und Versöhnung.* Und noch ein anderes haben wir heute unbedingt zu beachten, wenn wir uns von Meister Eckehart in seinen Weg der Leidensmystik einbeziehen lassen: Das Annehmen meines eigenen Leides, das ich nicht ändern kann, darf niemals dazu führen, gegenüber dem Leid und Unrecht, welches in der Welt geschieht, nicht laut aufzuschreien! Hier hat die Kirche der Vergangenheit oft falsche Weichen gestellt, wenn sie Leid vorschnell glorifizierte gegen einen gesunden, gottgewollten Lebenswillen!Noch wichtiger scheint mir die nächste Frage zu sein:
Wir kennen die Frage, ob wir nach Auschwitz noch beten können. Ähnlich fragt man sich bei manchen Worten Meister Eckeharts über das Leid: Dürfen wir heute überhaupt noch solche Worte in den Mund nehmen? Ich glaube, es ist gut, dass wir verstummt sind mit allem Reden, welches sich mit dem Sinn des Leidens prinzipiell befasst. Generationen vor uns meinten, Gott rechtfertigen zu müssen mit ihrer "Theodizee - Lehre": Sie glaubten, eine Antwort auf die Frage finden zu können, wie Gott überhaupt Leiden zulassen könne. Doch alle diese Versuche sind gescheitert.
Hier geht es um etwas grundlegend anderes: Wo immer Meister Eckehart etwas über den Sinn des Leidens sagt, spricht er die Menschen an und schränkt das zu Sagende bewusst auf die Menschen ein, "um die es recht steht" - "die sich Gott überlassen und mit allem Fleiß seinen Willen suchen" (168,6f). Diese Einschränkung nimmt alles, was er sagt, aus einer theoretischen Beweisführung heraus, die allgemein und für jeden gültig sein könnte. Einzig und allein darum geht es ihm, wie ich als Christ, der sich um eine innige Verbindung mit Gott müht, mit dem umgehe, was mir in meinem konkreten Leben als Leid und Schmerz auferlegt ist - und was als unauflösbarer Rest immer noch bleibt, wenn ich alles geändert habe, was zu ändern mir möglich ist. Wie kann ich diesen bleibenden Rest für mein geistliches Leben fruchtbar werden lassen? Das Leiden, das mir Gott zumutet, nachdem ich mich ihm überlassen habe, soll mir nicht Hindernis, sondern darf mir zum zwar steilen, aber mich besonders unmittelbar zu Gott führenden Weg werden! Im Gegensatz zu allen Bußpredigern, von denen es zu seiner Zeit viele gab, lehnt Meister Eckehart alles Leiden ab, das sich der Mensch selbst auferlegt. Was mir als "Schicksal" aufgegeben ist, das hat mir Gott ge -"schickt" - daran gibt es für diesen von Gottesliebe durchglühten Prediger keinen Zweifel. Es gibt kein "blindes Schicksal" - sondern nur einen Gott, der mich liebt wie seinen eigenen Sohn - und der weiß, was mir gut tut, auch wenn ich es im Augenblick nicht begreife. Auch Jesus rang sich nur unter Tränen dahin durch, als Willen des Vaters anzunehmen, was ihm geschah. Mehr war nicht einmal ihm vergönnt. Trotzdem stellen sich weitere Fragen:
Spricht dieser Mann nicht etwa "vom grünen Tisch", wenn er vom Leiden spricht? Hat er selbst wirklich hautnah erfahren, was Schmerz und Leiden bedeutet? Oder: Ist nicht vielleicht vieles von dem, was dieser Ordenspriester schreibt, nur in einem abgeschiedenen Leben hinter Klostermauern möglich? Diese und ähnliche Fragen werden mir häufig gestellt.Das Leben dieses Mystikers mag uns Antwort auf solche Fragen geben. Versuchen wir einmal, uns ein wenig in seinen Lebensweg hineinzuspüren: Dieser Dominikaner, dem seine Ordensregel keine Benutzung von Pferd oder Wagen erlaubte, hat in seinem Leben zu Fuß ungeheure Wegstrecken zurückgelegt: Erfurt - Paris - Erfurt - Paris - Straßburg - Köln: Das sind nur einige bekannte Stationen seines Lebens. Aber weit darüber hinaus war er unterwegs, um Klöster zu visitieren und vieles andere mehr. Da war keine Rede von einem Leben hinter beschaulichen Klostermauern. Diese Wege aber brachten ihn mit vielen Menschen in Berührung - und das in einer Zeit voller Naturkatastrophen, die das 13. Jahrhundert erlebte: Erdbeben, Überschwemmungen, Pestepidemien wühlten damals die Herzen der Menschen bis ins Tiefste auf. Was mag ihm da alles zu Ohren gekommen sein - dem Manne, der sagt: "Was einem andern geschieht, sei's bös oder gut, das soll für dich so sein, als ob es dir geschähe"? (175,12f)...
In diesem Zusammenhang erscheint mir ein Abschnitt aus einer Predigt Meister Eckeharts besonders aufschlussreich: "Nun aber sagen unsere biederen Leute, man müsse so vollkommen werden, dass uns keinerlei Freude mehr bewegen könne und man unberührbar sei für Freude und Leid. Sie tun Unrecht daran... (Selbst) Christus war das nicht eigen; das ließ er erkennen, als er sprach: 'Meine Seele ist betrübt bis in den Tod' (Mt 26,38)" (287,11ff).Deutlich lese ich hier zwischen den Zeilen, wie stark diesen Mann die Frage bewegt haben muss: Weshalb werde ich mit zunehmender Nähe Gottes immer sensibler, weshalb wird mir immer "weher", weshalb werde ich immer schmerzempfindlicher, anstatt mit zunehmender Gotteserfahrung unberührbarer für Schmerz und Leid zu werden - wie es die heidnischen Philosophen als Ziel aufstellten? Eines Tages muss ihm die Antwort geworden sein - vielleicht "aus dem Herzen Gottes unmittelbar" (309,10ff): Je "edler" (d.h. gottförmiger) ein Mensch ist - desto sensibler wird er auch für Schmerz und Leid. Und von daher sieht er Christus und beschreibt die Tiefe seines Schmerzes in Worten, die eigentlich wieder alles Sagbare hinter sich lassen: "Christus taten Worte so weh, dass, wenn aller Kreaturen Weh auf eine (einzige) Kreatur gefallen wäre, dies nicht so schlimm gewesen wäre, wie es Christus weh war; und das kam vom Adel seiner Natur..." (287,21ff). Gott nahm auch Meister Eckehart dann beim Wort - wie es Gottes Art ist: Er lässt uns nicht einfach "große Worte" machen, sondern irgendwann stellt uns Gott in unserem Leben die Frage nach der "Deckung" solcher Worte. Am Ende seines Lebens steht dieser Mann vor dem Ketzergericht seiner Kirche, mit allen inneren und äußeren Nöten, die solch ein Schicksal auferlegte. Meister Eckehart ist sich seiner Unschuld gewiss und will sich vor dem Papst selbst verteidigen. Auf dem Weg nach Avignon ist er verschollen. Niemand weiß bis heute Zeit und Ort seines Todes.