Situationen, Aufgaben und
mitmenschliche Beziehungen, die mein Alltag mir anbietet, als Möglichkeiten
wahrnehmen, mein geistliches Leben zu vertiefen
1. Vom Alltag als Übungsfeld für das geistliche Leben
2. Von der Gelassenheit als Mitte des geistlichen Lebens
3. Von verschiedenen Gebetsweisen zur Einbeziehung des Alltags in das geistliche Leben
1. Vom Alltag als Übungsfeld für das geistliche LebenWenn es ein Grundsatz meditativen Lebens ist, immer im einzelnen das Ganze, im Kleinen das Große zu erfahren, dann kann man von dieser Sicht her den Wert des alltäglichen Lebens mit seinen Bewährungschancen nicht hoch genug einschätzen.
Der ganz "normale", oft "grau" erscheinende Alltag ist das entscheidende Übungsfeld für die Verwirklichung unseres geistlichen Lebens. Hier werden unsere hochfliegenden Pläne und Prinzipien "geerdet", das heißt, sie werden an die Wirklichkeit unseres realen Lebens gebunden. Im geistlichen Leben gibt es hin und wieder herausragende Höhen und unerwartete Abgründe - das eigentliche innere Wachstum jedoch vollzieht sich in weiten Teilen unter "Sonne, Wind und Regen" der alltäglichen Geschehnisse, Aufgaben und menschlichen Beziehungen. Der Alltag ist der eigentliche Ort der Übung für die großen Entscheidungsstufen des Lebens - er ist der Ort, wo sich die einmal getroffenen Grundentscheidung Tag für Tag verwirklichen kann.
Dabei geht es, im Großen wie im Kleinen, immer neu um das "Abstimmen" meiner eigenen Pläne oder Wünsche auf den Willen Gottes. Willi Lambert gebraucht in diesem Zusammenhang das Bild vom "Abschmecken": Habe ich mich für eine Speise entschieden, kann ich diese sehr unterschiedlich abschmecken. Doch manche Gewürze fallen sofort aus den Überlegungen heraus. So kann ich die großen und kleinen Entscheidungen meines Lebens mit dem Willen Gottes "abschmecken". Große, anscheinend einmalige Lebensentscheidungen sind nie ein einmaliger Akt, der dann abgeschlossen wäre. Jede solche große Entscheidung entfaltet sich im Lebensvollzug, sie fließt nach und nach in die kleinen Entscheidungen des Alltags ein und bestimmt diese. Daneben steht die andere Erfahrung: im Vollzug der kleinen alltäglichen Entscheidungen wachse und reife ich für die große Lebensentscheidung, die vielleicht eines Tages unerwartet vor mir steht. Alltagsentscheidungen sind das Übungsfeld für die großen Lebensentscheidungen - und diese wiederum verwirklichen sich im Vollzug des alltäglichen Lebens.
Und das ist eng mit etwas anderem verbunden: Nichts, was ich denke, höre oder lese, prägt mich so stark wie das, was ich tue, ja, was ich bewußt übe. Das ist ja das Anliegen dieses ganzen Kurses, mich durch eigenes Üben in den Prozeß wachsender Liebe hineinzugeben, mir diesen Prozeß bewußtzumachen und ihn konsequent zu vertiefen.
Wachsen in der Liebe ist möglich, solange ein Mensch lebt. Die Liebesantwort des Menschen auf die Liebe Gottes, in welcher Weise sie auch gegeben werden mag, ist ein lebenslanger Prozeß: der Weg des Nachfolgens. Nun wurde bereits gesagt: Nachfolge ist nicht Nachahmung (s. Woche 10, Tag 5). Ich lebe unter anderen inneren und äußeren Bedingungen als Jesus Christus in Palästina, aber ich lebe auch unter anderen inneren und äußeren Bedingungen als der Mensch neben mir. Mein konkretes Leben mit allem, was dazugehört, ist das "Material", aus dem ich meine eigene Nachfolge gestalten soll.
Zum Verständnis des Gemeinten möchte ich ein persönliches Erlebnis erzählen. Es ist schon lange her, als in einer Predigt verdeutlicht werden sollte, daß ein Mensch nichts, absolut gar nichts besitzt, was er Gott anbieten könnte. Dazu gebrauchte der Pfarrer das Beispiel eines Kindes, das der Mutter ja nichts anderes schenken kann als das, was er erst von der Mutter bekommen muß. Bei diesem Bild erwachte ein innerer Widerstand in mir, den ich damals nicht deuten konnte. Weshalb das Bild nicht stimmt, begriff ich, als ich eigene Kinder hatte: Jede Mutter und jeder Vater erlebt es, daß ein kleines Kind, wenn es den Eltern etwas schenken will, zwar das "Material" vom Erwachsenen bekommen muß - daß aber dieses Kind dann aus dem Material selbst etwas "machen" kann. Vielleicht stickt es eine kleine Decke, vielleicht malt es ein Bild, oder es kauft vom selbstersparten Geld etwas ein. Das alles tut es mit einer Freude, die zeigt, wieviel eigenes das Kind in ein solches Geschenk hineingibt. So sehe ich oft mein Leben, wie es mir konkret im Großen und Kleinen gegeben ist: als Material, aus dem ich das Geschenk der Liebe - ganz unvollkommen - "basteln" möchte. Und dazu kommt noch eine Erfahrung, die mir immer geheimnisvoller wird: Indem das Kind sich darum müht, den Eltern etwas zu schenken, wächst und vertieft sich seine Liebe zu den Eltern. Liebe wächst im Schenken, im Sich-Mühen um und für den anderen. Das werden viele Mütter bezeugen, die für ein behindertes Kind sorgen. Und dieses innere Gesetz gilt auch für unsere Antwort der Liebe auf die Liebe Gottes: Indem wir sie wirklich zu geben versuchen, wächst die Liebe. Hier wird das Haus unseres geistlichen Lebens auf Fels gebaut, wie Jesus sagt (Mt 7,24f). So steht dieser Hauptteil an einer wesentlichen Stelle innerhalb der Dynamik eines geistlichen Liebesweges.
Wenn es nun mein konkreter Alltag ist, der das "Material" für meine Liebesantwort abgeben soll, so gewinnt dieser Alltag mit seinen ungezählten großen und kleinen Geschehnissen, Aufgaben und Begegnungen eine bisher ungeahnte Bedeutung. Versuche ich, auch nur einen Teil dieser Möglichkeiten für mein geistliches Leben fruchtbar zu machen, so öffnen sich viele neue Wege. Deshalb erfordert es die Fülle des Stoffes, diese elfte Woche in drei Varianten anzubieten, in denen der Akzent jeweils verschieden gesetzt ist: auf das Annehmen des persönlichen Lebensschicksals, auf die Bewältigung der konkreten Alltagsaufgaben oder auf die mitmenschlichen Beziehungen. Die Varianten können einander ergänzen, eine jede kann aber auch für sich stehen - auch im konkreten Alltag sind diese drei Dimensionen menschlichen Lebensvollzugs nicht voneinander zu trennen.
Aus diesem Grunde muß hier jeder selbst entscheiden, was ihm "guttut" (Ignatius) - ob er das reiche Stoff- und Übungsangebot dieser Woche voll wahrnehmen will oder ob er sich beschränken sollte: entweder, indem er sich für eine der drei Varianten entscheidet - entsprechend seiner Grundentscheidung - oder ob er sich aus jeder der drei möglichen Übungswochen je zwei Übungseinheiten auswählt, von deren Thematik er sich im Augenblick besonders "angesprochen" fühlt. (In jedem Falle sollte im Blickfeld bleiben, daß die anderen Übungsangebote zu gegebener Zeit ebenfalls wahrgenommen werden können.)
Exkurs:
Weshalb wurde bei dieser elften Übungswoche diese - von allen anderen Übungswochen abweichende - Form gewählt?An keiner anderen Stelle unseres Briefkurses unterschieden sich die Erfahrungen der Teilnehmer so stark wie bei diesen Übungsangeboten, die den Alltag einbezogen. Während manche Kursteilnehmer äußerten, die Meditationen dieser Übungsthemen hätten für sie mit Abstand weniger Tiefe gehabt als die bisherigen, schrieben andere, in diesen Wochen hätten sie Ziel und Mitte des ganzen Kursangebotes erlebt. Hier endlich hätten sie zur Einheit von Gebet und Leben gefunden. Wie mögen diese unterschiedlichen Erfahrungen zu erklären sein?
- Die erste Möglichkeit sehe ich persönlich in den verschiedenen Ansatzpunkten: "Es gibt Menschen, sie von oben her leben, und es gibt andere, die von unten her leben", wurde uns auf einem Meditationskurs gesagt. Dieses Wort unseres damaligen Leiters gründete auf einem reichen Schatz eigener und ihm anvertrauter Erfahrungen im geistlichen Leben. er erklärte seine Ansicht genauer: "Immer geht es im geistlichen Leben um die Integration des ganzen Menschen. Wer ‘von oben her’ lebt, dessen Aufgabe ist es, mehr und mehr den ganzen Bereich des Irdischen, also seines Lebensschicksals, seiner Aufgaben, seiner Mitmenschen, in seine geistliche Dynamik zu integrieren. Das ist oft ein harter und langwieriger, ja häufig ein sehr schmerzhafter Prozeß - weil sich dieser Mensch dabei häufig so vorkommt, als hinderten ihn diese ‘äußeren’ Dinge an seinem eigentlichen Weg. Er muß es üben, gerade an diesen scheinbaren Hindernissen zur Ganzheit, zur Fülle zu reifen.
Wer dagegen ‘von unten her’ lebt, dem ist dieses irdische Leben mit allen Höhen und Tiefen vertraut. Hier ist seine Welt - und seine Aufgabe besteht darin, immer wieder, Stück um Stück, die irdischen Gegebenheiten in ihrer Vorläufigkeit zu sehen, sie auf ihre letzte Tiefe und ihren tiefsten Sinn hin zu transzendieren - um so auf seine Weise immer neu und immer tiefer auf Gott zu treffen und so mehr und mehr zur Ganzheit zu reifen."
Niemand kann sich seine Weise, zu sein, aussuchen - sie ist ihm vorgegeben. Deshalb liegt in unserer Unterscheidung auch keinerlei Wertung. Jedoch ist es möglich, daß diese verschiedene Ansatzweise bei einzelnen auch zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen bei den gleichen Übungsangeboten führt.
- Die zweite Möglichkeit der Erklärung sehe ich persönlich in der Sache selbst:
"Wie kann ich die Begegnung mit einem Menschen im voraus meditieren, wenn ich früh überhaupt noch nicht weiß, ob ich an diesem Tag einem Menschen begegnen werde?" fragte eine Teilnehmerin. In den Übungsangeboten dieser drei Wochen werden Möglichkeiten angesprochen, die jeder in seinem Leben erfährt und verarbeiten muß - aber wohl nicht gerade zu dem Zeitpunkt, wenn diese Übung "dran" ist. Das kann den Nachteil haben, daß mir in diesem Augenblick die konkret angesprochene Situation so fern ist, daß ich überhaupt nicht in eine echte Meditation hineinkomme. Aber es kann auch einen Vorteil haben: Im Ernstfall bin ich oft emotional so tief beteiligt, daß ich zu keiner echten Meditation fähig bin. Dann ist es gut, auf frühere Erkenntnisse und Erfahrungen zurückgreifen zu können, die ich im geschützten Raum emotionaler Ausgeglichenheit gemacht habe.
Meinen Alltag, ganz gleich, ob ich besonders die Geschehnisse, die Aufgaben oder die menschlichen Beziehungen im Blick habe, kann ich nur dort zum "Material" für meine Liebesantwort werden lassen, wo ich dieses Material als "Vorgabe" annehme und mich nicht dagegen auflehne. Dazu muß und darf ich als erste Gabe, die mir Gott vor allem anderen gegeben hat, mein eigenes, konkretes Leben sehen. Gehorsam, der allen anderen Akten des Gehorsams vor Gott vorausgeht, heißt: mein Leben, wie es bisher gewachsen und gereift ist, als von Gott gegeben und gleichzeitig aufgegeben anzunehmen. Aus unzähligen Komponenten setzt sich dieses konkrete Leben zusammen: Es ist bestimmt durch die Zeit, in die ich hinein geboren wurde, und das Milieu, das mich als Kind aufnahm, durch meine persönliche Veranlagung und meine Erziehung, durch die Menschen, die mich prägten - sowohl positiv als auch negativ. Dazu gehört aber auch alles, was mir im Laufe dieses Lebens konkret begegnet: die verschiedenen alltäglichen Situationen mit ihren Freuden und Enttäuschungen, meine gesuchten und ungekochten Aufgaben, die geplanten und ungeplanten Begegnungen mit anderen Menschen.Hier liegt die entscheidende Grundlage für die Verwirklichung meines geistlichen Lebens: daß ich mehr und mehr übe, dieses alles nicht als "blindes Schicksal" zu verstehen, sondern als das Material, das Gott mir einmalig und unaustauschbar zugeordnet hat. Allein im Annehmen meines Lebens als Gabe und Aufgabe werde ich meine Form der Nachfolge Jesu finden. Nur so kann ich in, mit und unter der Verwirklichung meines menschliches Daseins mein geistliches Leben nach dem Plan Gottes gestalten.
Dabei ist es ganz wichtig, ein häufiges Mißverständnis zu klären: Wenn ich in der genannten Weise mein reales Leben von Gott annehme, so bedeutet das keinerlei Form von Fatalismus. Gerade das echte Annehmen macht mich dafür wach zu unterscheiden, was ich ändern kann und soll - und was als "Rest" bleibt, den ich auf mich nehmen muß als die mir persönlich von Gott anvertraute und für ihn und den Bau seines Reiches wichtige Aufgabe, die mir kein anderer abnehmen kann. Denn solange ich mich auflehne oder in eine Scheinwelt fliehe, entziehe ich mich der Möglichkeit, das mir zugeteilte "Material" zu bearbeiten. Also nicht ein resigniertes Mich-Abfinden, sondern das nüchterne "So ist es" gibt mir die Voraussetzung, sachgerecht zu reagieren und dadurch eine echte Antwort der Liebe zu geben.
Damit rückt ein anderes Wort in den Gesichtskreis - ein Begriff, um den das ganze Denken Meister Eckeharts und der von ihm beeinflußten Mystiker kreist: die "Gelassenheit". Nur wenn ich mich mit allem, was ich bin und habe, ja mit allem, was mir begegnet, Gott über"lasse", nur wenn ich im Vertrauen auf seine Liebe zu"lasse", was auf mich zukommt, wenn ich mich darauf ein"lasse", daß mein ganzes Leben in seinem "So", "Hier" und "Nun" Gabe und Aufgabe Gottes für mich ist, werde ich Schritt um Schritt in die Erkenntnis eingeführt, an welcher Stelle dieses Lebens Gott mich in meiner unaustauschbaren Eigenart einsetzen möchte - an welcher Stelle er mich aber auch mit seiner ganzen Fülle beschenken will.
Die Fülle Gottes, die uns als Angebot der zehnten Übungswoche vor Augen stand, kann mich plötzlich überfluten, ohne daß ich einen Grund dafür nennen könnte. Es kann aber auch sein, daß ich in einem allmählichen Wachstumsprozeß in solche Fülle mehr und mehr hinein wachse, ohne daß ich dieses Geschehen jeweils als einen kontinuierlichen Fortschritt registrieren könnte. Bei Gott geht es anders zu - vielfältiger. Was mir aber überhaupt hilft, einen inneren Wachstumsprozeß zu spüren und vor allem zu vertiefen, ist allein das regelmäßige Beten, das den Alltag nicht ausklammert, sondern ihn einbezieht.
Das Grundelement eines geistlichen Weges ist die innere Haltung einer hellen Wachsamkeit: "Seid gleich den Menschen, die auf ihren Herren warten ... damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun" (Lk 12,36). Der Ruf zum Warten durchzieht das ganze Neue Testament: Christen sind wartende Menschen. Ihr Warten braucht sich nicht auf die endzeitliche Wiederkunft Christi zu beschränken. Wer auf den Herrn wartet, der immer anders kommen wird, als es sich der Mensch vorstellt (Mt 24,23-27; 42-44; 50), übt sich in er wartenden, wachen Aufmerksamkeit für den Herrn, der mir in, mit und unter den alltäglichen Geschehnissen meines konkreten Lebens begegnet. Meister Eckehart gebraucht das Bild von den verschiedenen Kleidern, in denen Gott auf den Menschen zukommt - manchmal ist es die Freude, ein anderes Mal das Leid, heute begegnet er mir in der Fülle, morgen in der Leere. Und Meister Eckehart warnt vor der großen Gefahr, das "Kleid Gottes" mit Gott selbst zu verwechseln. Allein die Liebe schützt vor dieser Verwechslung: Je tiefer die Liebe eines Menschen wächst, um so leichter erkennt er auch den Herrn in seinen unterschiedlichen Wesen, in denen er ihm jeweils begegnet. Es geht um eine lebenslange Übung darin, "die Dinge zu durchbrechen und ... Gott darin zu ergreifen". Dazu kann uns eine Weise des Betens helfen, die Willi Lambert als "Gebet der liebenden Aufmerksamkeit" bezeichnet. Es ist dies eine Form des Betens, die ich - außerhalb der täglichen festen Gebetszeit - immer wieder einmal im Laufe des Tages üben kann und die reiche Frucht verspricht. Mögen es fünf oder zehn Minuten sein oder auch nur ein kurzer Weg von einer Aufgabe zur anderen, den ich bewußt langsam gehe - ich sollte solche kleinen "Pufferzonen" zwischen die großen Hauptaufgabengebiete eines Tages einschieben, damit der Tag klar strukturiert wird. Sonst reiben sich die verschiedenen Aufgaben aneinander wie ein Wirbel, wenn die Bandscheiben verbraucht sind. Ein kurzer Blick liebender Aufmerksamkeit für Gott und in diesem Blick eine knappe Bestandsaufnahme, eine Bewertung dessen, was ich eben getan habe - und dann die innere Einstellung auf das, was jetzt vor mir liegt: Das ist der Sinn dieses Gebetes in seinen verschiedenen Möglichkeiten. Es kann mir helfen, meinen konkreten Alltag mehr und mehr im Licht Gottes zu erfahren.Willi Lambert nimmt mit dieser Übung die jesuitische Tradition des "examen" auf, der Viertelstunde Besinnung mitten am Tag, die Ignatius für "das Wichtigste" im geistlichen Leben hielt. Verschiedene Worte, die diese Viertelstunde bezeichnen, geben deutliche Hinweise darauf, worum es geht und wo die Akzente liegen können: "Wenn von Auswertung gesprochen wird, dann drückt sich hierin die Überzeugung aus, daß das Leben, daß jeder Tag, daß jedes Erlebnis einen Wert in sich birgt, den man übersehen oder aber ahnen, ausgraben und schätzen kann ... Wenn vom Gebet der Verantwortung die Sprache ist, so will dies sagen ... (es geht um) schweigendes, hörendes, sprechendes Gesprächsereignis ... Dialog ... Im Gebet der Verantwortung geschieht die Standortbestimmung des Menschen im Angesicht Gottes. Wenn ... (von der ) Lebensbetrachtung die Rede ist, dann drückt sich hier im Sprachgebrauch aus, daß der Gegenstand (der Betrachtung) ... das Leben, mein ganzes Leben ist, soweit ich darin den Menschen und Gott gegenüberstehe. Gebet der liebenden Aufmerksamkeit ... will sagen: Das Geheimnis des Lebens erschließt sich nur dem liebend Aufmerksamen. Der Blick für die großen Aufmerksamkeiten Gottes befähigt zu eigenen Aufmerksamkeiten der Liebe."
Wer sich intensiv um diese Gebetsweise bemüht und sie wirklich übt, dem kann ich fraglos versprechen, daß sein geistliches Leben in eine größere Tiefe gelangt. Verschiedene Möglichkeiten dazu werden im Rahmen dieser Übungswochen aufgezeigt. Probieren sie aus, was Ihnen liegt, lassen Sie beiseite, wogegen Sie innere Sperren haben - und vor allem: Entdecken Sie selbst für sich neue, eigene Möglichkeiten für diese Durchdringung des gesamten Tages mit dem Gebet.
Während ich mich vor Jahren einmal auf der Heimfahrt von Exerzitien in der Bahn um die eben besprochene Weise des Betens bemühte, stürmte ein junger Mann an mir vorüber, es machte "klick" - und der Aufhänger meiner Jacke war abgerissen. Sollte ich mich ärgern? Sollte ich darauf warten, daß er um Entschuldigung bat? Oder sollte ich statt dessen lieber fragen: Mein Gott, was willst du mir jetzt damit sagen? ... Wo stürme ich vielleicht auch rücksichtslos an anderen Menschen vorbei und merke gar nicht, wenn dabei etwas kaputtgeht? Oder: Warum ist der Aufhänger abgerissen? Weil er schon morsch war. Wenn ich ihn nähen werde, werde ich noch andere Stellen an der Jacke entdecken, die auszubessern sind. Ist es nicht manchmal gut, einmal alles genau auf morsche Stellen hin zu überprüfen? ... Was war geschehen? Ich hatte ein ganz alltägliches Erlebnis in einer stillen Nachmeditation in seiner Zeichenhaftigkeit und Übertragbarkeit für mein Leben zu erkennen und fruchtbar werden zu lassen.Situationen, Aufgaben, menschliche Begegnungen füllen den Tag oft pausenlos aus. Eines drängt das andere, kaum ein Ereignis enthüllt sich ganz in seiner möglichen geistlichen Tiefe. Deshalb sollte ich immer wieder einmal ein Geschehen aus dieser vorüberziehenden Flut herausnehmen, um "seine Botschaft an mich" im geschützten Raum einer Meditation bis in seine geistliche Tiefe hinein zu erspüren.
Das kann in anderer Weise in einer Vorausmeditation geschehen. Wenn ich eine vor mir liegende Arbeit oder eine zu erwartende Begegnung langsam und aufmerksam voraus-meditiere, wenn ich diese Arbeit in meiner Vorstellung gewissermaßen bereits verrichte oder mich meditierend schon ganz auf den anderen Menschen einstelle, der zu mir kommen will, dann kann ich in solchem abgeschirmten Raum des Meditierens das, was vor mir liegt, in seiner symbolischen Tiefe und Übertragbarkeit und in seiner geistlichen Bedeutung "erfassen"
Solche Vorausmeditation setzt Kräfte frei für das Tun, sie läßt mich aus meiner geistlichen Mitte her dem Mitmenschen begegnen - sofern ich mich dann während des Vollzugs für das in der Meditation Geschehene offenhalte und es zulasse. Dazu hilft noch das Angebot einer weiteren Gebetsweise:
Wer hat es noch nicht erlebt: Während der Gebetszeit tauchten wichtige Erkenntnisse auf, die dessen wert gewesen wären, sie in das Leben zu übernehmen. Doch im Laufe des Tages überschwemmten neue Eindrücke das Erkannte so stark, daß es einfach aus der Erinnerung verschwunden, wie ausgelöscht war. Oder ich lese ein geistliches Buch, das mir Wesentliches zu sagen hat. Wie schnell vergesse ich das Gelesene! Gibt es einen Weg, wichtige Erkenntnisse so in mich aufzunehmen, daß sie zu einem Teil meines Wesens werden, mich durchdringen und prägen? An dieser Stelle habe ich persönlich das selbstgeformte Wiederholungsgebet als eine entscheidende Hilfe erfahren. Was mir für die nächste Zeit bedeutungsvoll erschien, formulierte ich als ein "Gesätz" für ein Wiederholungsgebet (vgl. Woche 1, Tag 4) ). Was mir in einem Buch als so wichtig erschien, daß ich es als bleibenden inneren Besitz behalten wollte, brachte ich ebenso in diese Form. Damit hatte ich das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden und dabei Worte formuliert, die bis in die meditative Schicht eindringen konnten. In dieser selbstgestalteten Form konnte ich nun dieses Wiederholungsgebet während des Tages öfter wieder aufnehmen, ja, das es formuliert vorlag, konnte ich jederzeit darauf zurückgreifen, wenn ich mich in einer Situation vorfand, die gerade diese Gebetsgedanken erforderte.Ich möchte Ihnen Mut dazu machen, immer wieder selbst solche Gebete zu formulieren. Es bringt reiche Frucht