In Meditationskursen erleben wir häufig, wieviel leichter es vielen Teilnehmern fällt, ein naturales Symbol zu meditieren als einen biblischen Text. Vielleicht ist es oft die jahrelange Kenntnis, vielleicht ist es aber auch die Fülle des Stoffes, die das Eindringen in die Tiefe blockiert. Was ist dazu zu sagen?
- Wenn der Text so bekannt ist, daß er ihn fast auswendig kann, der kann seine Blockade überwinden, indem er sich bewußtmacht, daß gerade das "Auswendig-Können" eine große Hilfe ist, die Botschaft "inwendig" in sich aufzunehmen.Wieder muß ich hier die verschiedenen Ebenen betrachten: Erklärt mir jemand das Gesetz der Schwerkraft, dann kenne ich es und brauche es mir nicht wieder neu sagen zu lassen. Sagt mir dagegen ein Mensch, daß er mich liebhat, dann werde ich ihm kaum antworten: "Das weiß ich doch schon!" Wort Gottes ist Zuspruch, den ich immer neu brauche, auch wenn ich ihn verstandesmäßig "kenne".- Meditieren kann ich nur das, was einfach und wesentlich ist. Das heißt, es muß "typisch", "symbolisch", also wiederholbar und übertragbar sein. Deshalb ist eine wesentliche Voraussetzung für das Meditieren einer biblischen Erzählung, daß ich fähig bin, die Fülle des Stoffes auf ihre wesentlichen symbolischen Grundelemente zu reduzieren. Gerade dadurch hat Andrei Rubljow mit seiner Dreifaltigkeits-Ikone ein so großes Kunstwerk und gleichzeitig dieses einzigartige Meditationsbild geschaffen, daß er die breit angelegte epische Erzählung des Alten Testamentes auf so wenige, wesentliche Grundelemente beschränkte.
Die Übungsaufgabe des heutigen Tages baut sich auf der Übung des Wiederholungsgebets auf. Nachdem Sie nun schon drei Tage von verschiedenen Ansätzen her die Geschichte der Blindenheilung des Bartimäus meditiert haben, sollten Sie heute einmal versuchen, aus dieser Erzählung einige ganz kurze, wesentliche Sätze zu formulieren, die sich als "Gesätze" für ein eigenes Wiederholungsgebet eignen.
Dabei achten Sie bitte auf folgendes:
- Die Formulierung solcher kurzen, ganz einfachen und wesentlichen Sätze hilft dazu, einen biblischen Text meditationsfähig zu machen.
- Die Formulierung der Sätze ist noch nicht Meditation; sie ist Frucht der Meditation und Vorarbeit für weitere Meditation.
- Die Sätze sollen so kurz und einfach wie möglich sein, ohne doch so allgemein zu bleiben, daß sie auf jeden anderen biblischen Text anwendbar sind.
- In jedem der Sätze sollte neben dem Wort "du" (dir, dich o.ä.) das Wort "ich" (mir, mich, mein o.ä.) vorkommen, damit deutlich wird, daß es ein persönlicher Gebetssatz ist.
- Erfahrungsgemäß verändern und vereinfachen sich diese Sätze dann noch, wenn ich sie in der Form des Wiederholungsgebetes bete.
Markus 10,46-52 (Blindenheilung)Gepriesen sei der Herr, der Sohn des lebendigen Gottes,
1. (der) du ...
Herr Jesus Christus, Erlöser der Welt, unser Heiland und Bruder, erbarme dich unser (meiner).
2. (der) du ...
3. (der) du ...
4. (der) du ...
5. (der) du ...Bemerkung:
In dieser Form läßt sich jede Geschichte der Evangelien als Gebet umformen. Von Kursteilnehmern wurde mir häufig bestätigt, wie wichtig ihnen gerade diese Übung für ihre tägliche biblische Meditation geworden sei. Erfahrungsgemäß ist dabei die schriftliche Formulierung solcher Sätze eine große Hilfe. Dazu kommt noch ein Weiteres: Wenn ich morgens den Text so vorbereitet habe, dann kann ich ihn im Laufe des Tages als Wiederholungsgebet zu verschiedenen Anlässen beten. Dadurch lasse ich von dem, was mir in der Gebetszeit aufgegangen ist oder was ich mir vorgenommen habe, mehr und mehr meinen ganzen Tag durchdringen. Wir kennen es ja alle, wie schnell wir oft im Laufe eines Tages wieder vergessen, was uns beim Beten wichtig geworden ist. Die zarten Keime des aufgehenden Samens werden nur allzu schnell von den Dornen des Alltags überwuchert (Mt 13,7).