Immer ist das in der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk und dem einzelnen Menschen der Beginn: daß da ein "Wort Gottes" (Symbolbegriff beachten!) einen Menschen trifft - und daß damit die Heilsgeschichte dieses Lebens beginnt. An diejenigen, die Gott in besonderer Weise für eine bestimmte Aufgabe beruft, ergeht solch ein Wort oft unmittelbar, unüberhörbar. Meistens jedoch trifft dieses Wort den Menschen verhüllt, vermittelt durch menschliches Wort, menschliche Tat oder irgendein besonderes Geschehen im Leben.Solch ein Wort stellt den Menschen immer vor eine Entscheidung - er kann sich öffnen oder auch verschließen. Wer aber zugestimmt hat, wird erfahren, wie ihn dieses "Wort" durch sein Leben weiter begleitet. Am spürbarsten geschieht dies dort, wo ein Mensch diesem Wort reichlich Gelegenheit bietet, an ihm zu wirken, indem er sich ihm täglich aussetzt im regelmäßigen Hören, Lesen oder Meditieren der biblischen Botschaft, durch die Gott seit mehreren tausend Jahren Menschen immer neu anspricht.
Als der Prophet Natan dem König David die Gleichnisgeschichte vom reichen Mann mit seinen hundert und von dem armen Mann mit seinem einen Schaf erzählt, sagt er dem König das lapidare Wort: "Du bist der Mann" (2 Sam 12,7). Und David vermag sofort diese Geschichte in sein Leben zu übertragen. Er weiß, was gemeint ist. Um dieses Übertragen-Können geht es, wenn mir die Bibel wieder zum Wort Gottes für mich und mein Leben werden soll.
In fast jedem Abschnitt der Bibel geht es um wesentliche "typische" Grunderfahrungen, die Menschen mit dem lebendigen Gott machen. Diese symbolischen Grunderfahrungen muß ich herausfinden, um sie auf mein Leben übertragen zu können. In dieser Weise spricht Gott mich heute durch das Wort der Schrift an. So stellt uns die Bibel zum Beispiel eine Reihe von Symbolgestalten vor Augen. Jede dieser Gestalten symbolisiert eine bestimmte Lebensweise so anschaulich, daß sie, weit über den Raum des biblischen Denkens hinaus, als Symbolfiguren in unsere Sprache eingegangen sind. Denken wir an Ausdrücke wie "Hiobspost" oder "Judaslohn". Irgend etwas Entsprechendes klingt in unserer Vorstellung mit, wenn wir solche Symbolgestalten meditieren, wenn wir sie anschauen und uns so lange in sie hineinversetzen, bis wir die Stelle in uns entdecken, wo sie einen verborgenen Winkel unserer Seele ansprechen, aufdecken, zum Mitschwingen bringen. Wer von uns hat nicht in sich ein Stücklein eines verborgenen "Pharisäers" - wer erkennt sich nicht in seiner "Martha"-Gestalt? So kann ich mich in fast jedem Menschen wiederfinden, von dem die Bibel erzählt. Allerdings muß ich dazu das, was mir an einer konkreten Gestalt begegnet, auf mein Leben übertragen. Kann ich mich aber auch in einem Aussätzigen wiederfinden? Gewiß, wenn ich mich im Blick auf ihn dort angesprochen fühle, wo ich "unrein" bin, wo ich etwas Ungutes in mir weiß, durch das ich andere Menschen "anstecken" könnte, wo ich mich aus der Gemeinschaft anderer Menschen "ausgestoßen" erlebe ... Je länger ich mich meditierend in die Gestalt des Aussätzigen einfühle, desto mehr entdecke ich in meinem Dasein, was seiner Not in meinem Leben entspricht. So wird er mir zur Symbolgestalt.
Aber noch eine andere Möglichkeit bietet mir die gleiche Erzählung an: Ich kann mich persönlich angesprochen wissen durch das, was Jesus selbst tut, als er dem Aussätzigen begegnet. Nachfolge Jesu meint doch: schauen, was er tut, wie er redet, wie er lebt - um mich dadurch von Gott selbst ansprechen zu lassen: So habe ich den Menschen ursprünglich gemeint, als ich ihn geschaffen habe "zu meinem Bilde", so habe ich auch dich gemeint. Und dann kann ich fragen, wo mir die "Aussätzigen" unserer heutigen Zeit und Gesellschaft begegnen und wie ich ihnen gegenüber denke und handle.
Diese ausführliche Hinführung zur ersten Übung dieser Woche mag für manchen nichts Neues sagen. Dennoch konnte nach meiner Erfahrung nicht aus sie verzichtet werden, weil es gerade bei dieser Übung um die entscheidende Grundlage allen biblischen Meditierens geht: Wenn es mir nicht gelingt, das Wort der Bibel als das mich ansprechende Wort Gottes zu erfahren, über dem ich ins Gespräch mit Gott komme, ins persönliche Gebet, dann fehlt allem weiterem, was wir tun wollen, die grundlegende Voraussetzung.
So soll jeder in dieser ersten Übung versuchen, sich durch die biblische Geschichte der Blindenheilung persönlich von Gott an-sprechen zu lassen: "Du bist der Mann." Diese Geschichte meint mich, Gott meint in dieser Geschichte mich - ich muß das Blindsein des Bartimäus symbolisch-gleichnishaft auf mich, auf mein "Blindsein", auf meine Sehnsucht nach dem "Licht" übertragen.
Markus 10,46-52 (Blindenheilung)Ich lese die Erzählung ganz langsam, Wort um Wort, und versuche, mit meinen inneren Sinnen ganz dabeizusein, zu sehen, die Stimmen zu hören, mich in die Personen einzufühlen...
- Als wen spricht Gott mich durch diese Geschichte an?
- In welcher Beziehung war oder bin ich oft "blind"? ...
- Wie bin ich bisher mit meiner "Blindheit" umgegangen? ...
- Wann habe ich es erlebt, daß mir plötzlich "die Augen aufgingen" oder daß es mir "wie Schuppen von den Augen fiel"? ...
Bemerkung: Wo bei den Übungen Anregungen zum Meditieren gegeben werden, sollen sie Hilfen sein. Besser ist es, wenn jemand solche Hilfen nicht braucht und seinen eigenen Weg findet.