„Hineinwachsen in den Lebensstil des Hauses“

An mir geschehen lassen, dass nicht mehr ich lebe, sondern dass Christus in mir lebt


Einführung in den fünften Hauptteil

Überblick:
1. Vom „Lebensstil“ eines Hauses"
2. Von der Aussage des Bildes

3. Von der entscheidenden Wichtigkeit eigener Erfahrungen

1. Vom „Lebensstil“ eines Hauses

  Es gibt Häuser, die einen ganz klaren und eindeutigen Lebensstil haben. Die Prägung durch diesen Stil ist so stark, dass jeder Besucher davon etwas spürt.
  Was für Häuser standen mir persönlich vor Augen, als ich über diese Frage nachsann? Zuerst waren es die Exerzitienhäuser der katholischen Kirche, in denen wir mit unseren Einkehrtagen zu Gast sein dürfen; Häuser, deren Stil bestimmt ist durch das stille Sorgen weniger Ordensschwestern. Diese Häuser sind ausgerich­tet auf die Aufgabe, der sie sich verpflichtet fühlen: anderen Menschen zur Stille zu verhelfen. So kann jede große und wichtige Aufgabe den Stil eines Hauses prägen.
  Dann hatte ich andere Häuser vor Augen, die geprägt waren durch eine starke Persönlichkeit, deren Strahlkraft den Stil des Lebens in diesem Hause bestimmte. Nicht durch eine autoritäre Struktur, sondern durch freiwillige Einordnung und Zusammenarbeit aller Mitarbeiter wirken solche Häuser oft wie Magneten, die andere Menschen anziehen, weil sie ihnen ein Stück Heimat und Geborgenheit geben können.
  Und schließlich sah ich Häuser vor mir, in denen die Struktur einer Familie den Stil des Hauses in ihrer eigenen Weise formt. Hier hat die „Harmonie“, die das „harmonische“ Zusammenleben ermöglicht, eine tragfähige Grundlage, indem sich die Glieder solch einer Familie bewusst „aufeinander einstellen“ und „miteinander abstimmen“.


2. Von der Aussage des Bildes

  In unserem Zusammenhang wollen wir das Bild vom „Lebensstil eines Hauses“ auf die große Verheißung anwenden, die Christus ausspricht, wenn er sagt: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ (Joh 14,23) - oder, wie es Paulus sagt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Der „Stil“ meines Lebens als Christ soll mehr und mehr davon „geprägt“ (s. 33 f) werden, dass ich mein Leben in allen Dimensionen bewusst von Christus prägen lasse, so dass er in mir und durch mich - in aller menschlichen Begrenztheit, die meinem Leben eigen ist - in dieser Welt gegenwärtig sein kann. Nach drei Richtungen hin soll das entfaltet werden:

- Erstens geht es dabei um eine Gewichtsverlagerung vom Ich zum Du, die in der inneren Dynamik echter Liebe angelegt ist. Dieser   fünfte Hauptteil hat die Einübung in eine innere Wachsamkeit vor Augen, durch die ich mir mehr und mehr dessen bewusst werde,  was sich oft unmerklich in mir vollzieht. Schritt um Schritt - einmal schneller, einmal langsamer, häufig von Rückschlägen unterbrochen   - ereignet sich in einem Leben, das durch die Liebe zu Gott bestimmt wird, eine Akzentverlagerung: Das innere Schwergewicht   verlagert sich allmählich von meinem eigenen Ich auf das Du Gottes. Wir könnten auch sagen: Es geschieht eine  Gewichtsverschiebung von der Meditation auf die Kontemplation.

Dabei soll hier unter „Meditation“ ein Vorgang verstanden werden, in dem sich der Mensch um die Öffnung und Bereitung für Gott   bemüht, wobei der Akzent auf dem Tun des Menschen liegt, während „Kontemplation“ in dem Sinne verstanden wird, wie sie Johannes  vom Kreuz[116] beschrieben hat: dass Gott selbst in unmittelbarer Weise in der „dunklen Beschauung“ („dunkel“ ist diese Beschauung,   weil ein Mensch das „überhelle“ Licht Gottes nicht zu erkennen vermag) auf den Menschen einwirkt, wobei sich der Mensch eigentlich  nur noch passiv verhalten, etwas an sich geschehen lassen kann. In der Wirklichkeit sind diese beiden Aspekte kaum je ganz zu  trennen. All unser Tun ist ja immer schon umgriffen und ermöglicht von der Gnade Gottes - und Gott wirkt in diesem Leben an uns -  immer unter Einbeziehung, nicht unter Ausschluss unserer menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Und doch gibt es   Situationen, in denen ich im nachhinein recht deutlich erkenne: Hier lag das Hauptgewicht auf meiner eigenen Aktivität - oder: Hier hat  Gott fast ohne mein Zutun das Wirken übernommen. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten spielt sich in einer breiten Skala unser  geistliches Leben ab.

- Zweitens geht es in diesem Hauptteil um das große Angebot der Teilhabe des Christen am Lebensschicksal Jesu Christi. Hier  begegnen wir einem zentralen Anliegen des Apostels Paulus: Durch die Taufe und durch die Teilnahme an der Eucharistie wird ein  Christ einbezogen in eine wahrhaftige Lebens- und Schicksalsgemeinschaft mit Christus.Was hier geschieht, ist so neuartig, so  einzigartig, dass die zur Verfügung stehende Sprache nicht ausreicht, um davon zu sprechen. Deshalb bildet der Apostel eine Reihe  von neuen Worten, mit denen er seine große Vision eines christlichen Daseins aus­zusagen versucht. Er benutzt dazu bekannte  Verben, die er mit der Vorsilbe „syn“ zusammensetzt. Dieses „syn“ heißt „mit“, wird aber in der damaligen Zeit nicht in der  gewöhnlichen griechischen Umgangssprache verwendet, sondern bleibt der gehobenen, feierlichen Sprache vorbehalten. Diese Silbe  „syn“ verbindet nun Paulus mit verschiedenen Worten, die das Schicksal Jesu Christi beleuchten, und wendet es auf den Christen an:
  Ein Christ kann mit Christus - mitarbeiten - mitleiden - mitgekreuzigt werden - mitsterben - mitauferweckt werden - mit das Leben  erhalten - mitleben - mitthronen - mitherrschen - mitverherrlicht werden. Wir kennen solche Zusammensetzung aus dem Fremdwort  Sympathie, was wörtlich heißt: Mitleiden. Es geht also um ein wirkliches Eingehen des Christen in das Leben, Sterben und  Auferstehen Jesu Christi, die das ganze Leben mehr und mehr formen und durchdringen.

Diese Schicksalsgemeinschaft des Christen mit Christus ist von Gott gewollt. Ermöglicht ist sie durch das „für euch“ Jesu, das sein  ganzes Leben durchzieht. Es durchbricht die Isolierung, die zwischen Mensch und Mensch besteht, und schafft damit eine neue  Qualität des Lebens - eben diese Möglichkeit des Mitlebens mit Christus. Der evangelische Neutestamentler Harald Riesenfeld  entfaltet diesen Gedanken aus einer gründlichen Kenntnis der Gedankenwelt des Apostels Paulus heraus: Dass der Tod Jesu „für  uns“ geschah, ist grundlegend für die Verkündigung der ersten Christenheit. Dieses „für euch“ Christi ermöglicht das „mit Christus“  der Christen. Es öffnet gewissermaßen eine Tür in der Trennwand, die normalerweise zwischen Mensch und Mensch besteht. Durch  diese „Tür“ kann der Christ nun in diese Schicksalsgemeinschaft eintreten.

Das Eintreten in diese Schicksalsgemeinschaft mit Christus kann in zweierlei Weise geschehen: Einerseits öffnet mir das „für euch“  die Möglichkeit, in einer tiefen Wirklichkeit am Leben und am Schicksal Jesu Christi Anteil zu bekommen. Andererseits kann es mir  gerade eine Seinswirklichkeit vermitteln, auf die Jesus „für mich“ verzichtet hat. Weil Jesus gestorben ist, deshalb darf ich nun leben:
  „Er wechselt mit uns wunderlich:
   Fleisch und Blut nimmt er an
   und gibt uns in seins Vaters Reich
   die klare Gottheit dran.
   Er wird ein Knecht und ich ein Herr,
   das mag ein Wechsel sein!
   Wie könnt es doch sein freundlicher,
   das herze Jesulein!“ (Nikolaus Herrmann 1560)

   oder:

   „Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben;
   in deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben.
   Dein Kreuz ist unser Trost, die Wunden unser Heil,
   dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil.“[A. Thibesius 1596-1652)

   Und noch etwas ist in diesem Zusammenhang zu sagen: Vielleicht wundert es manchen, dass häufig das „für euch“ Jesu Christi in  ein „für dich“ umgeändert wurde. Es ist der Sinn des meditativen Erkennens, dass ich allgemeingültige Wahrheiten nicht nur zur  Kenntnis nehme, sondern sie in mein Leben einlasse - ganz konkret. Damit aber lasse ich sie an meiner Stelle in diese Welt ein. Nur  was mich selbst durchdrungen hat, kann ich auch glaubhaft weitergeben, und so stelle ich durch solche Schicksalsgemeinschaft mit  Christus mein Leben zur Verfügung, so dass Christus in mir und durch ich „symbolisch“ in dieser Welt gegenwärtig sein kann.

- Drittens geht es deshalb um die Möglichkeit, mein konkretes Leben als ein geistliches Symbol zu sehen, und zwar immer im vollen   Sinne dessen, was wir als die verschiedenen Möglichkeiten eines geistlichen Symbols immer wieder angesprochen haben (s. Anliegen der dritten Übungswoche: Vom Wesen des geistlichen Symbols):  Wo mein Leben mehr und mehr in das Mitleben, Mitleiden, Mitsterben und Mitauferstehen mit Christus einbezogen wird, kann es für  andere Menschen zum Zeichen werden - und damit zum geistlichen Symbol. Dieses Symbol kann in dem, der ihm begegnet, eine tief  verborgene Sehnsucht aufbrechen lassen: vielleicht eine Sehnsucht nach einem erfüllteren Leben als bisher.

In der früheren Kirche wurde das Wort geprägt: „Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.“[Tertullian] Im Hintergrund eines solchen  Wortes muss eine Erfahrung stehen, die nicht selbst gewesen sein mag: Nichtchristen erlebten, mit welcher sieghaften Freude manche der Märtyrer um ihres Glaubens willen in den Tod gingen. Das erweckte in ihnen die Sehnsucht nach einer ähnlichen Gelassenheit gegenüber der Todesfurcht. Und viele von ihnen suchten nach der Erfüllung dieser Sehnsucht: Sie ließen sich taufen und nahmen die Botschaft der Auferstehung an. (Erste Dimension eines geistlichen Symbols)

Ein Leben in der Schicksalsgemeinschaft mit Christus hat und vermittelt als geistliches Symbol wahren und echten Anteil an dem,  worauf es hinweist: am Leben und Heilswerk Jesu Christi. Mich hat es tief bewegt, als ich eines Tages entdeckte, dass Paulus mit  großer Selbstverständlichkeit das „für euch“ Jesu auch für sein eigenes Leiden gebraucht: „Wie uns nämlich die Leiden Christi  überreich zuteil geworden sind, so wird uns durch Christus auch überreicher Trost zuteil. Sind wir aber in Not, so ist es zu (wörtlich  übersetzt „für“) eurem Trost und Heil“ (2 Kor 1,5f). (Zweite Dimension eines geistlichen Symbols)

Dass jedes Symbol weit über sich hinaus weist auf etwas, das jedes sinnfällige Zeichen weit übersteigt, das wird gerade dort  unübersehbar deutlich, wo mein Leben selbst in seiner Schwachheit und Unvollkommenheit zu einem Symbol des Lebens und des Weges Jesu Christi werden soll. „Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch“, sagt Petrus zu dem, der vor ihm niederfällt (Apg 10,26). Niemals darf es zu einer undifferenzierten Identifikation des Christen mit Christus kommen - der Abstand bleibt immer weit größer als  jede Nähe. (Dritte Dimension eines geistlichen Symbols).

   Wie groß die Gefahr einer dämonischen Verzerrung für ein Symbolbild ist, wird kaum an einer anderen Stelle so sichtbar wie dort, wo  ein Christenleben zu einem Symbol des Lebens Jesu Christi werden soll, das diese Wirklichkeit wahrhaft in sich trägt. Wer den  Abstand vergessen würde, wer sein Leben nicht mehr nur als Zeichen, als ein Hinweis auf das unendlich viel Größere verstünde,  dessen Leben wäre kein Symbol mehr, sondern ein dämonisches Zerrbild dessen, worauf es hinweisen sollte. Der uralte Mythos  berichtet vom Fall der Engel: Satan wollte sich selbst an die Stelle Gottes setzen - und er verlor damit seine Engel-Natur. Auch an die  großartige Prophetie vom „Sündenfall“ der Menschen können wir uns hier erinnern: „Ihr werdet sein wie Gott“ - das war die große  Versuchung, der der Mensch erlag. (Vierte Dimension eines geistlichen Symbols)

   Und dennoch sind wir - als Menschen - als sinnenhafte Eindrücke und leibhaftes Erleben gebunden. Wir alle sind darauf  angewiesen, dass wir die Zuwendung, die Nähe und die Liebe Gottes in, mit und unter der Zuwendung, Nähe und Liebe anderer  Menschen erfahren. Ja, die Welt ist darauf angewiesen, sie in ihrem Leben - in aller Begrenztheit und Schwachheit - „symbolisch“ das  Leben Christ sichtbar werden zu lassen. Nicht als neutrale Verkündiger einer von uns unabhängigen Botschaft sind wir als Christen von Gott gerufen, sondern als Zeugen: „Ihr werdet meine Zeugen sein... bis an das Ende der Erde“ (Apg 1,8). Ein Zeuge im biblischen Sinne aber ist ein Mensch, der die Botschaft, die er verkündet, mit seinem Leben deckt, „verleiblicht“. (Fünfte Dimension eines  geistlichen Symbols)


3. Von der entscheidenden Wichtigkeit eigener Erfahrungen
  Noch mehr als für die bisherigen Hauptteile wird für diesen letzten Teil gelten, dass allein eigene Erfahrungen den Zugang zum Verstehen schaffen. Solche Erfahrungen können auf ganz verschiedene Stufen, in ganz unterschiedlichen Tiefen geschehen. Wir tief solche Erfahrungen jeweils gehen, ist bei weitem nicht nur eine Frage der Übung und der eigenen An­strengung eines Menschen, sondern es ist vor allem eine Frage danach, wohin Gott einen Menschen führen will. Das ist nun sehr unterschiedlich, und die Gründe dafür sind im Geheimnis Gottes verborgen. Doch sollte ein jeder um das bitten, was Gott ihm zugedacht und zugemessen hat. Und wenn ihm das zuteil wird, dann wird er „volle Genüge haben“ (Joh 10,10).

So bewegt sich unser Weg hier wieder auf einem schmalen Grat: Auf der einen Seite besteht die Gefahr, dass ich meine, Gott müsse mich unbedingt mit der größtmöglichen Fülle begnaden, sonst ginge mir etwas verloren. Je mehr ich aber nach dieser Fülle verlange, je mehr ich sie haben will, je mehr ich versuche, danach zu greifen, desto weniger Chancen habe ich, sie zu bekommen. Darüber sind sich
alle geistlichen Lehrer einig.

Auf der anderen Seite besteht aber auch die Gefahr, dass ich mich vor der Fülle verschließe, die Gott mir zugedacht hat. Dies geschieht sowohl dort, wo ich zu gering von Gottes Möglichkeiten denke und zu wenig an seinen Willen glaube, dass er mich in das Bild Jesu einformen will - als auch da, wo ich das, was mir bereits gegeben ist, zuwenig erkenne; wo ich es nicht genügend wahrnehme. Dabei versäume ich, mich der Gabe entsprechend zu verhalten und immer neu dafür zu danken.

Deshalb ist es sich nur entscheidend, dass ich meine eigenen Erfahrungen mit Gott mache, sondern dass ich mir diese Erfahrungen auch wieder und wieder bewusst mache, das heißt, dass ich sie reflektiere, um Gott dafür zu danken, ihn zu loben und zu preisen. Das ist ganz besonders wichtig für diese Wegstrecke, auf der uns dieser fünfte Hauptteil mit seinen Übungsangeboten begleiten will.



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