Unser Abschnitt steht unmittelbar hinter dem Abschnitt, in welchem Johannes von den damaligen Autoritäten nach seiner Bevollmächtigung für sein Handeln am Jordan gefragt wird. Daraufhin legt er für Jesus sein Zeugnis ab. Und dieses Zeugnis verdichtet sich in unseren Versen noch einmal: Er ist demjenigen begegnet, auf den sein ganzes Leben hingeordnet war - und in dieser Begegnung hat er Neues erkannt: Seine Gewissheit, dass der Mensch Jesus der von ihm Erwartete ist, wurde durch Gott selbst bestätigt.Das Zeugnis lautet knapp und prägnant: "Sehet, das Lamm Gottes". Es ist wohl ein Bild, in welchem die Urgemeinde wie in einer Kurzformel des Glaubens das Entscheidende des Christentums zusammengefasst hat: Gott kommt nicht mit Gewalt, sondern in Niedrigkeit - er bekämpft die Sünde nicht, sondern "erträgt" sie - und schenkt damit eine neue Möglichkeit, wie der Mensch mit der Schuld umgehen kann.
Das Bild des Lammes ist einerseits den Abschnitten vom Gottesknecht des Jesaja-Buches (Kap.53) entnommen, - und andererseits dem Buch Exodus (Kap.12), wo das Blut des Lammes an der Türpfosten der Israeliten diese vor dem Todesengel schützt. So war für den damaligen Hörer in diesem Bild sowohl der Gedanke einer sühnenden Stellvertretung als auch einer stellvertretenden Befreiung eingeschlossen. Wir müssen uns heute dieser Inhalte erst wieder bewusst werden - was durch Meditation der alttestamentlichen Stellen verhältnismäßig leicht möglich ist.Weiter begegnet uns in unserem Abschnitt die Vorstellung der Präexistenz Jesu: "denn er war eher als ich". Wir tun uns gedanklich schwer mit dieser Glaubensaussage - meditierend können wir vor dem Geheimnis still werden, dass unsere menschlichen Raum- und Zeitvorstellungen bei Gott nicht gelten. Meister Eckehart kann sagen, dass Gott über jede Raum- und Zeitvorstellung erhaben ist, und dass dieses den "Gelehrten" sogar einsichtig sein müsste, während es der "Ungelehrte" glauben solle.