HAUPTTEIL
II:
"DER WEG": Gelassenheit
MEIN
GOTT, WIE KANN ICH DEINER LIEBE IMMER TIEFER EMPFANGEN UND IHR ENTSPRECHEN?
Einführung
in den zweiten Hauptteil:
Das
Bild des Weges bei einer Bergwanderung
Auch
an den Beginn des zweiten Hauptteiles möchte ich wieder einige Symbolworte
stellen, die in gemeinsamen Meditationsübungen gefunden wurden. Und
es wäre auch hier gut, wenn Sie diese Worte durch eigene ergänzen
oder auch ersetzen würden: Das können Sie entweder als Einstimmung
in diesen neuen Hauptteil tun - oder auch während des Weges. Es kann
hilfreich sein, wenn sich Hindernisse oder Blockaden einstellen, diese
in solch einem Symbolbild anschaulich werden zu lassen.
-
- "Beim
Steigen entfernt mich jeder Schritt mehr von meinem Ausgangspunkt
und bewegt mich mehr auf mein Ziel zu."
-
- "Glatte
und gebahnte Wege finden wir gewöhnlich nur am Beginn einer Hochgebirgswanderung."
-
- "Schmale
und steile Wege mögen gefährlich sein und unsere ganze Aufmerksamkeit
fordern, aber sie bergen auch die größten Freuden und Überraschungen."
-
- "Je
höher
ich komme, desto steiler und steiniger wird der Weg - aber die Aussichten
werden auch immer umfassender."
-
- "Mit
jedem Schritt, den ich aufwärts steige, wird mir das, was zurückbleibt,
kleiner, ferner und unbedeutender."
-
- "Nicht
jeder
kann jeden Gipfel erklimmen."
-
- "Nicht
jede Höhe ist für mich ersteigbar, aber ich darf mich oft auch
von
unten an der Schönheit freuen."
-
- "Wenn
es gefährlich wird, ist es gut, einen Bergführer zu haben."
-
- "Manchmal
kann ich den Weg kaum erkennen - wie dankbar bin ich dann, wenn ich ein
Wegzeichen
finde."
-
- "Manche
Gipfel erreiche ich nur auf ungebahnten Wegen."
-
"Auf
manchen Gipfel kann ich mich einfach und still (durch einen Lift) hinauftragen
lassen." (Auch
das gibt es im geistlichen Leben!)
-
- "Nach
dem Erreichen eines ersten Gipfels führt der Weg oft wieder
in
die Tiefe, ehe ich den nächsten Gipfel erreiche."
Von diesen
Worten ist vieles unmittelbar übertragbar auf den geistlichen Weg,
wie ihn uns Meister Eckehart anbietet. Die Bildworte können sich im
Verlauf dieses Übungsweges mehr und mehr in ihrer Gleichnishaftigkeit
erschließen. Den einen wird mehr das eine, den anderen mehr etwas
anderes ansprechen. Das ist normal - ebenso wie nicht jeder eine wirkliche
Gebirgswanderung in der gleichen Weise erlebt und vollzieht.
Möglichkeiten
und Grenzen auf diesem Weg
Ähnlich
wie eine Hochgebirgstour kein Spaziergang ist, sondern oft letzte Kräfte
und Möglichkeiten eines Bergsteigers herausfordert, so kann man bleibende
Gott-Nähe und unzerstörbare Freude auf dem spirituellen Weg normalerweise
nicht zum "Nulltarif" haben. Das bezeugen uns unsere Mystiker einhellig.
Jedoch sind - und hier wird das Bild der Bergwanderung gesprengt - im geistlichen
Leben "Höhen- und Gipfelerfahrungen" niemals allein durch menschliche
Anstrengungen zu erreichen. Sie bleiben, ungeachtet aller Bemühungen
des Menschen, immer freies Geschenk der göttlichen Liebe, sie bleiben
jeder menschlichen Verfügbarkeit entzogen.
Wenn
wir es bisher noch nicht gespürt haben sollten, so wird es uns in
den nächsten Wochen ganz deutlich werden, wieviel Meister Eckehart
vom Menschen einfordern kann. Er will uns zu "Höchstleistungen" herausfordern,
durch welche wir uns mehr und mehr der Fülle Gottes öffnen
können. Er lockt uns, nicht nur etwas von außen zu übernehmen,
sondern es von innen her wachsen zu lassen. Und in dem Maße, wie
ich mich vor Gott bis in mein innerstes Zentrum hinein öffne und alle
Hindernisse beseitige, kann er mich von innen her mehr und mehr durchdringen
und verwandeln.
Doch ist
das nicht das einzige, was uns dieser Mystiker zu sagen hat. Er weiß
nicht nur um die menschlichen Möglichkeiten, sondern er kennt
auch
die Schwächen des Menschen. An einer Stelle wird dies
besonders deutlich, wo er sagt: "...es ist (zwar) unvollkommen. Doch
muß man's hinnehmen, so wie manche Leute übers Meer fahren mit
halbem Winde und auch hinüberkommen" (214,15ff).Das ist einfach
unsere menschliche Wirklichkeit - es bewahrt uns vor jeder Überheblichkeit
anderen Menschen gegenüber, aber vor allem auch vor allen Minderwertigkeitsgefühlen,
die in uns selbst aufwachen können: Haben wir doch immer wieder das
Bedürfnis, "vollkommen zu sein". Ich möchte Sie herzlich darum
bitten, das Bild vom "halben Wind" während der Arbeit in den nächsten
Wochen ständig im Auge zu behalten, wenn in Ihnen das Gefühl
aufkommt, nicht die gleichen "Höhen" ersteigen zu können wie
ein anderer.
Aber
es mag dennoch sein, dass uns manches, was Meister Eckehart von "einem
Menschen, um den es recht steht," erwartet, doch als "zu steil" erscheint.
Dann gäbe es eine Möglichkeit, durch das eine oder andere Wort
Meister Eckeharts "hindurchzubrechen" mit der Frage, unmittelbar an Gott
gerichtet: "Mein Gott, bist vielleicht du selbst es, der sich mehr
von mir wünscht, als ich mir selbst zutraue - weil du mir zum vollenLeben
verhelfen willst?"
Gelassenheit
als Grundübung geistlichen Lebens
Damit
der Mensch fähig wird, des ganzen Reichtums teilhaft zu werden, den
Gott ihm schenken möchte, muß er sich mehr und mehr für
Gottes Liebe öffnen und bereiten. Denn: Nur was leer ist, kann neu
gefüllt werden. Es ist schon im menschlichen Bereich eine bekannte
Erfahrung: Das Gefäß, in das ich etwas Kostbares füllen
will, muß ich vorher gründlich reinigen und entleeren. Nun geht
es aber hier um Gott selbst, der sich dem Menschen schenken will. Sicher
gilt es, dass wir solchen Schatz in irdenen Gefäßen haben (2
Kor 4,7) - aber gerade dieser Schatz wertet das Gefäß in höchster
Weise auf (vgl. Woche 2). Nur ein Mensch, der in sich weit und offen ist,
ist wahrhaft empfangsbereit für Gott. Meister Eckehart gebraucht für
diese Aufgabe des Menschen auf seinem Weg mit Gott das so verheißungsvolle
und gleichzeitig so oft mißverstandene Wort: "Gelassenheit".
Wenn wir uns darauf einlassen, werden wir es spüren: Gelassenheit
im Sinne der christlichen Mystiker ist alles andere als ein einfaches Laufenlassen
der Dinge. Es ist kein Sich-zur-Ruhe-Setzen, weil alles schon irgendwie
von allein wird. Im Gegenteil: Gelassenheit im Sinne Meister Eckeharts
ist die höchste Aufgabe, die ein Mensch überhaupt angreifen
kann. Gelassenheit ist für ihn kein Zustand, den ich einmal erreichen
und dann erreicht haben könnte, sondern es ist ein Weg mit einer
einzigartigen inneren Dynamik. Es gibt hier kein anderes Ziel, als
auf dem Weg zu bleiben. Mit der Übung der Gelassenheit kommt der Mensch
in diesem Leben an kein Ende: "Du mußt wissen, dass sich noch
nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht
gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen" (57,3ff).
Die Dynamik des Weges selbst ist die Erfüllung. Das schließt
nicht aus, dass sich der Blick auf das letzte Ziel immer schon einmal augenblicksweise
auftut, das schließt auch nicht aus, dass allein das Gehen dieses
Weges oft bereits schon so etwas wie eine letzte und tiefste Erfüllung
aller Sehnsucht in sich birgt. Und es schließt auch nicht aus, dass
es verschiedene Stadien auf diesem Wege gibt, die sich voneinander unterscheiden.
Meister Eckehart spricht von "geübten" und von "anhebenden" Menschen
auf diesem Wege. Doch er stellt keine Stufenleiter des geistlichen Lebens
auf, wie das zu seiner Zeit und auch später üblich war und wurde.
Gelassenheit
als Alltagsübung
Mit
jedem Schritt, den ich gehe, verliert das, was ich zurücklasse, an
Gewicht und Bedeutung - wenn ich beim Weitergehen das Zurückbleibende
wirklich loslasse. Dabei geht es sowohl um ein freiwilliges Mich-Lösen
von einer bestimmten Sache oder einem Menschen - als auch um die Vollendung
dieser Ansätze, wo Gott eingreift: Eines Tages wird er mir das nehmen,
woran ich mein Herz in falscher Weise gehängt habe. Mir scheint es
sogar so zu sein, als ob jedes freiwillige Loslassen - wo immer es auch
geschieht - vor Gott wie eine "Bereitschaftserklärung" angesehen wird,
mir von ihm - wenn es nottut - auch das nehmen zu lassen, was freiwillig
zu lassen über meine Kräfte ginge. Und das alles vollzieht sich
mitten im Alltag. Für den Menschen, der sich im Blick auf den einen
Gott selbst um immer größere Einheit bemüht, kann es
letztlich auch keine Trennung mehr geben zwischen "profanem Alltagsleben"
und "geistlichem Leben". So geht es in den folgenden Wochen um das ganz
konkrete Einüben des Loslassens, wie es mir mein alltägliches
Leben anbietet und ermöglicht. "Der Alltag als Übung" heißt
ein Buch von Karlfried Graf Dürckheim - er geht darin vor allem auf
bestimmte Körperhaltungen ein, in denen und durch die ich üben
kann, in meiner Mitte zu bleiben. Das Anliegen Meister Eckeharts ist es,
dieses Thema für das gesamte konkrete Leben durchzuspielen.