11.5. Deine Geburt in mir lässt mich etwas davon ahnen,
dass selbst meine Sünde mich dir näher bringen kann

Hinführung:
"Den Guten schlagen alle Dinge zum Guten aus, wie Sankt Paulus (vgl. Röm 8,28) sagt und wie Sankt Augustin äußert: 'Ja, selbst die Sünden'"' (71,12ff). Auf diese Überlegungen gründet Meister Eckehart seine - für uns so unglaublich klingende - Lehre über die Sünde. Wir müssen gewiss sehr tief Luft holen, wenn wir bei ihm lesen: "Du sollst aber Gott darin recht vertrauen, dass er dir's nicht hat widerfahren lassen (= das Fallen in die Sünde), ohne dein Bestes daraus ziehen zu wollen" (72,3)! Oder wenn er gar so weit geht, zu sagen: "Ja, wer recht in den Willen Gottes versetzt wäre, der sollte nicht wollen, dass die Sünde, in die er gefallen, nicht geschehen wäre. Freilich nicht im Hinblick darauf, dass sie gegen Gott gerichtet war, sondern, sofern du dadurch zu größerer Liebe gebunden und du dadurch erniedrigt und gedemütigt bist" (71,29ff).

Sind solche Worte nicht zu extrem? Sollten wir sie lieber beiseite lassen auf unserem Weg?... Wer dies will, kann das jederzeit tun. Ich persönlich entdeckte jedoch in den letzten Jahren, dass ich in seelsorgerlichen Gesprächen kaum einen anderen Gedanken Meister Eckeharts so häufig hilfreich brauchen konnte wie seine Worte über Sünde und Sündenvergebung! Durch die Erkenntnis seiner Sünde - die eben meistens nur geschieht, wenn diese Schuld auch wirklich begangen worden ist - kommt der Mensch zu größerer Dankbarkeit und Liebe Gott gegenüber, der ihm solche Schuld vergibt. Und deshalb lässt Gott manchen Menschen in Sünde fallen, wie sogar seine geliebten Apostel! Meister Eckehart nimmt die Sünde wahrhaft nicht leicht - im Gegenteil, er kann sagen: "Leid und das größte Leid habe ich wegen der Sünde - denn ich täte um alles, was geschaffen oder erschaffbar ist... kein Sünde" (112,3ff). Und dennoch weiß er, dass der Mensch "von solchen Vorfällen in diesem Leben nie ganz verschont bleiben (kann)" (71,7f). Wie der Mensch trotz dieser Erfahrungen aus der "Gottesgeburt" und ihren Möglichkeiten heraus leben kann, möchte uns Meister Eckehart vermitteln.

Meditationswort:
"Je größer und je schwerer die Sünden sind, um so unermeßlich lieber vergibt sie Gott" (73,23f).
Lebensmeditation:
"Je gebrechlicher sich der Mensch findet und je mehr er gefehlt hat, desto mehr Ursache hat er, sich mit ungeteilter Liebe an Gott zu binden, bei dem es keine Sünde und Gebresten gibt... Und je schwerer man (selbst) die Sünde anschlägt, um so bereiter ist Gott, die Sünde zu vergeben, zur Seele zu kommen und die Sünde zu vertreiben; ist doch ein jeder am meisten beflissen, das abzutun, was ihm am meisten zuwider ist" (73,14ff).
Biblische Grundlage:
Jesus sagt: "Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen" (Mt 9,3).
Wiederholungsgebet:
- Mein Gott, dessen Ewigkeit mich berührt, wo ich wage, aus dem Geschenk empfangener Vergebung in Freude meinen Weg weiterzugehen -
Kontemplation:
Ich komme mit meiner Sünde zu Jesus und verweile vor ihm...
Weitere Textstelle:
"Wenn aber der Mensch sich völlig aus den Sünden erhebt und ganz von ihnen abkehrt, dann tut der getreue Gott, als ob der Mensch nie in Sünde gefallen wäre, und will ihn aller seiner Sünden nicht einen Augenblick entgelten lassen; ... er könnte mit einem solchen Menschen alle Vertraulichkeit haben, die er je mit einer Kreatur unterhielt. Wenn anders er ihn nur jetzt bereit findet, so sieht er nicht an, was er vorher gewesen ist. Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist" (72,3ff).

* Gerade im Zusammenhang mit der Erfahrung von Schuld und Vergebung gebraucht Meister Eckehart das kostbare Wort von der "Vertraulichkeit", die Gott mit einem Menschen haben kann. Was für eigene Erfahrungen dieses Meisters müssen hinter solchen Worten stehen!

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