Die Weite des für mich sichtbaren Horizontes wird mit zunehmender Höhe immer umfassender - und das Ziel rückt stellenweise immer klarer ins Blickfeld. Es gibt bei Bergwanderungen unvergessliche Erlebnisse: Vielleicht meint man, an der Grenze seiner Kraft angekommen zu sein und nicht mehr weiter zu können. Da tut sich plötzlich bei einer Wegbiegung ein Blick auf, der den ersehnten Gipfel ganz nahe zeigt. Und mit dieser Nähe zeigt er sich in seiner ganzen Schönheit und Differenziertheit - im Gegensatz zu früheren Blicken, wo man nur die Konturen erkennen konnte. Welche neue Kraft wird da freigesetzt - ich denke nicht mehr an meine Müdigkeit oder gar an ein Aufgeben!Solche neue Kraft brauchen wir für die nächste Wegstrecke, deshalb wollen wir von einer neuen Sicht aus, die in uns durch die bisherige Wegstrecke gewachsen sein mag, das Ziel mit seinen vielen Gipfeln neu als lockende Möglichkeit tief in uns aufnehmen und uns zum neuen Weitergehen rufen lassen.
Meister Eckehart schreibt von dem, was er von solcher "Höhe" aus erkennt. Und je höher wir selbst mit ihm gestiegen sind, desto tiefer und besser werden wir verstehen und nachvollziehen können, was er sagt und uns anbietet. Ich darf hier noch einmal an sein Wort erinnern: "Solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange könnt ihr mich nicht verstehen" (309,9ff) .Vielleicht haben wir es im Verlaufe unseres bisherigen Weges selbst erlebt, dass wir plötzlich an einen "Ausblick" kamen, wo uns etwas, was wir vorher nicht sehen konnten, aus einer neuen Sicht erkennbar wurde; dass uns plötzlich etwas "aufging", was bis dahin "außerhalb unseres Horizontes" lag.
Das mag uns Mut machen, auch manchem von dem, was wir nun in den nächsten Wochen von Meister Eckehart hören werden, ein Stück "Vorschuss - Vertrauen" zu schenken: Er steht einfach einige Meter über unserem Standpunkt, und von dort aus hat er einen weiteren Blick. Deshalb steht diese Woche mit ihren "Gipfelblicken" an dieser Stelle des Kurses: Sie gleicht einem Ausblick, der auch dem, der erst auf halber Höhe steht, doch das Ziel in einer vorher nicht möglichen Weise vor Augen stellt. Ein Stück eigener Weg muss schon hinter uns liegen, ehe wir uns auf diese Thematik einlassen können. Und das wird sich dann in den nächsten Wochen noch verstärken. Sehen wir also das, was uns in den Übungen dieser Woche begegnen wird, als solch einen "Blick auf die Gipfelregion" an - auf ein Ziel, das jedoch (und das sprengt das Bild der Bergwanderung, wie alle Bilder begrenzt sind) nicht in unerreichbarer Ferne vor uns aufscheint, sondern das uns nahe ist, wie es näher gar nicht sein kann: Es liegt nicht außen, sondern innen in einem jedem von uns!
Immer wieder stellt sich Meister Eckehart die Frage: Wenn es Gottes Wesen ist, zu geben, soviel er nur immer kann (vgl. Woche 2. Tag 7), wenn Gott schrankenlos schenken möchte - weshalb ist es dann so unterschiedlich, was verschiedene Menschen wirklich von ihm empfangen - an Erkenntnissen und an Fülle des Lebens? "Weshalb empfangen wir nicht Gleiches?" fragt er - und gibt seine Antwort in verschiedenen Varianten, doch mit einem einzigen Thema: Es liegt an unserer unterschiedlichen Empfangsbereitschaft, dass wir unterschiedlich empfangen. Die Offenheit für den Empfang des Göttlichen wird mit zunehmender "Gelassenheit" immer größer: "Je... reiner die Kräfte der Seele sind, um so vollkommener und umfassender nehmen sie das, was sie erfassen, auf und empfangen um so mehr und empfinden um so größere Wonne und werden um so mehr eins mit dem, was sie aufnehmen, und zwar in dem Maße, dass (schließlich) die oberste Kraft der Seele, die aller Dinge bloß ist und mit nichts etwas gemein hat, nicht weniger als Gott selbst in der Weite und Fülle seines Seins aufnimmt " (115,5ff).