Woche 2

Die Transparenz der Welt neu erspüren im Verweilen vor dem Geheimnis


Einführung in die zweite Übungswoche


Überblick:
1. Von der Wichtigkeit des Verweilens
2. Vom Umgang mit Ikonen

1. Von der Wichtigkeit des Verweilens
Mehr als Generationen vor uns werden wir heute nach der prägenden Kraft unseres christlichen Glaubens gefragt. Man nimmt uns keinen nur gesprochenen, sondern allein einen gelebten Glauben ab. Und auch wir selbst möchten keine "halben", sondern "ganze" Christen sein und als solche leben. Wie aber kommen wir dazu, daß unserem Leben eine christliche Prägung von innen her abzuspüren ist? Wir wissen viel, wir lesen und hören immer wieder Neues, auch in der Kirche. doch kann es geschehen, daß all dieses Wissen im Verstand bleibt und keine prägende Kraft auf unser Leben ausübt.

Die urchristliche Meditation lebt davon, daß der Glaubende betend und meditierend immer neu das Bild Jesu Christi anschaut - dieses Bild, wie es uns die Evangelien in so vielfältiger Weise "vor Augen stellen" und "ins Herz malen". Je mehr ich mich diesem Bild meditierend aussetze und davor verweile, desto tiefer prägt es sich mir ein. Es prägt mich dadurch von innen her, bis es sich mehr und mehr auch in meinem ganzen Sein ausprägt. Das griechische Wort "typos"- wir kennen es aus dem Fremdwort "typisch" - wird im Neuen Testament an vielen Stellen gebraucht. Es meint ursprünglich sowohl das Prägende als auch das Geprägte, wie es im Siegel und im Siegelbild anschaulich wird. Unsere deutsche Übersetzung "Bild" läßt wenig erkennen von der prägenden Kraft eines Bildes. In der christlichen Meditation geht es darum, daß ich mich bewußt dem aussetze, wovon ich mich prägen lassen möchte, damit ich dadurch selbst wiederum zum prägenden Vorbild für andere werden kann. (1 Thess 1,7; 2 Thess 3,9).

Das aber ist ein Prozeß, der langsam vor sich geht, weil hier etwas wachsen und reifen möchte. Dazu muß ich neu das Innehalten (lassen Sie dieses aussterbende Wort einmal ganz in sich ein!) und das Verweilen lernen und üben. Verweilend setze ich mich Gott aus, halte ich mich Gott hin, in der Zuversicht, daß er etwas mit mir tun wird; aber ohne zu wissen, was er tun will und wie und wann dieses geschehen wird.

Solches Stillehalten und Verweilen gilt für das ganze Tun dieses Kurses. Ich muß es immer neu durchhalten gegen innere und äußere Widerstände. Vielleicht fühle ich in den ersten zehn Minuten der Gebetszeit überhaupt nichts anderes als erschreckende innere Leere. Doch wenn ich diese Zeit durchhalte, kann es geschehen, daß sich plötzlich ein neuer Blick für mich öffnet oder eine wesentliche Erkenntnis von mir Besitz nimmt) die passiven Ausdrucksformen sich hier bewußt gewählt). Ähnliches kann auch erst nach einer Zeit scheinbarer innerer Leere von dreißig bis vierzig Minuten geschehen - ja, manchmal erschließt sich mir ein Wort oder ein Bild überhaupt erst nach vielen Meditationen, die mich ganz leer zu lassen scheinen. Mich beschämt oft, wenn ich lese, wie manche Wüstenväter monate-, ja jahrelang um das Verständnis eines einzigen Bibelverses gerungen haben, bis er sich ihnen endlich erschloß.

Für uns ist entscheidend wichtig, daß wir die Zeit anscheinend "ergebnisloser" Meditationen nie als verlorene Zeit ansehen. Gerade in solchen Zeiten scheinbarer Leere geschieht oft viel mehr, als wir meinen. Hier wächst und reift häufig ganz im verborgenen eine Frucht, die wir erst viel später erkennen und ernten können. "Herr, dasein vor Dir, das ist alles" - das ist das Entscheidende, nicht das, was für mich spürbar dabei herauskommt.

So geht es in der zweiten Woche darum, daß ich mich einmal ganz auf das Wagnis des Verweilens einlasse. es ist ein Wagnis, weil ich in dieser Zeit vielleicht etwas anderes verpassen könnte. Aber nur, wer dieses Wagnis auf sich nimmt, kann erleben, daß ihm die Welt wieder in neuer Weise transparent wird und sich ihm das in ihr verborgene Geheimnis enthüllt. Und dann wird er spüren, daß es gar nichts verpaßt hat. Im Gegenteil: Die ganze Fülle und der ganze Reichtum des Lebens eröffnen sich dort, wo ich auf das Vielerlei verzichte, um an einer Stelle in die Tiefe zu gehen. Paul Tillich kann sagen: Dort begegnet mir Gott.

Das wollen wir nun in dieser Woche an einem einzigen Bild üben, das man als eines der tiefsten Meditationsbilder der Christenheit bezeichnet hat. Es ist die Ikone "Heilige Dreifaltigkeit" von Andrei Rubljow.

Wenn wir uns hier für eine ganze Woche auf das Meditieren einer Ikone einlassen, wird es für manchen hilfreich sein, eine kurze Einführung in die Welt der Ikonen überhaupt zu bekommen.
 

Hinweis: Wer etwa nach zwei oder drei Meditationen der Rubljow-Ikone feststellt, daß er keinerlei Zugang zu dieser Art von Bildern oder zu diesem besonderen Bild findet, der sollte sich die Freiheit nehmen, ein ihn ansprechendes Bild statt dieser Ikone zu meditieren - in den angebotenen Schritten. Doch ist es gut, nicht zu schnell zu diesem Ersatzangebot zu greifen, weil die Rubljowsche Ikone erst nach langer, intensiver Betrachtung erschließt.

2. Vom Umgang mit Ikonen
Manchem wird es mit Ikonen ähnlich ergehen, wie es mit persönlich über Jahre hin ergangen ist: Hin und wieder begegnet mir eine Ikone, manchmal empfand ich sie sofort als ansprechend, meistens aber als sehr fremdartig. Dennoch wuchs in mir das Verlangen, mich einmal tiefer mit diesem Gebiet christlicher Frömmigkeit zu befassen. Eine Kur bot mir Gelegenheit dazu: Ich borgte mir drei Ikonenbände aus der Kurbibliothek aus, schaute mir ein Bild nach dem anderen an und las den dazugehörigen Kurztext. Das Bild, das mich am meisten angesprochen hatte, stellte ich mir dann am Abend auf meinen Nachttisch mit einer brennenden Kerze davor (Ikonen brauchen Kerzenlicht, um das Geheimnis ihrer Farbwirkung voll zu entfalten). So verweilte ich meditierend mindestens eine halbe Stunde vor dem Bild. Ich hatte wohl verborgene Schätze erahnt, aber nicht im entferntesten für möglich gehalten, welch ein Reichtum hier zu heben ist. Erst im verweilenden Meditieren erschloß sich mir etwas von dem Geheimnis der Ikonen und lockte mich, immer tiefer in diese Welt einzudringen.

Nach einiger Zeit stellte ich fest, daß ich immer wieder zu einer einzigen Ikone zurückkehrte - der Dreifaltigkeits-Ikone von Rubljow. Sie wurde mir von Abend zu Abend wertvoller.

Und weiter merkte ich, daß wir in unserer so anders geprägten Kultur einige Grundkenntnisse brauchen, wenn wir diese Bilder so verstehen wollen, wie sie vom Künstler gemeint sind: als Gebets- und Meditationsbilder, die den Meditierenden näher zu Gott ziehen wollen. Was muß ich wissen, um eine Ikone in ihren wesentlichen Anliegen zu verstehen?

- Ikonen sind Gebetsbilder schlechthin. Nichts anderes wollen sie sein. Fastend und betend bereitete sich ursprünglich der Ikonenmaler - manchmal monatelang - auf das Malen einer einzigen Ikone vor. In dieser meditativen Stille versucht er, innerlich das Urbild zu schauen, das er in seinem Bild darstellen will ("Ikone" kommt von griechisch: eikonos - das Abbild). Dabei fühlt sich dann der Künstler in seinem Malen von dessen Hand geführt und geleitet, dessen Bild er malt. Ist solch ein Bild einmal in dieser Weise gültig gestaltet worden, können spätere Ikonenmaler das Bild übernehmen. Das erklärt die Ähnlichkeit vieler Ikonen, die das gleiche Thema darstellen. Und gerade in dieser formalen Ähnlichkeit kann sich dann die künstlerische - und damit auch die geistliche - Tiefe eines großen Künstlers wie Rubljow voll entfalten. Alle Kräfte sind frei für die Durchgeistigung der Darstellung.

Weil diese Bilder nun aus Gebet und Meditieren erwachsen sind, deshalb tragen sie in einzigartiger Weise die Möglichkeit in sich, den Betenden in die Meditation, den Meditierenden ins Gebet hineinzuziehen.

- Ikonen sind Verkündigungsbilder, gemalte Botschaft der Heilsgeheimnisse. Während der orthodoxe Christ stundenlang der "göttlichen Liturgie" beiwohnt, hat er die Ikonen vor Augen. Sie lassen die wesentlichen Offenbarungsinhalte der christlichen Botschaft in sein Herz hineinströmen. Wie Jesus Christus sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15) geworden ist, so weiß der orthodoxe Christ im Abbild der Ikone deren Urbild geheimnisvoll wirklich gegenwärtig. In der Ikone Jesu kann er diesem selbst begegnen. "Wirklich" ist hier im Wortsinn gemeint: Wirkend, mich berührend, mir begegnend - und mich dadurch mehr und mehr von innen her verwandelnd. Diese Erfahrung ist so intensiv, daß sich der Gebrauch der Ikonen als Gebetsbilder in den letzen Jahren auch in geistlichen Gemeinschaften der katholischen und der evangelischen Kirche weit verbreitet hat.

- Dem Verkündigungscharakter der Ikonen dient ihre ganze Gestaltung, nichts ist davon ausgenommen:

Zuerst fällt wohl am meisten ins Auge, wie anders der Ikonenmaler mit der Perspektive umgeht, als wir es zumeist gewöhnt sind. Die Perspektive der abendländischen Kunst zieht den Betrachter eines Bildes in eine unendliche Ferne hinein: Gott ist dadurch erfahrbar als der Ferne, Jenseitige, Transzendente. Eine Ikone dagegen läßt das Bild gewissermaßen auf den Schauenden zukommen. Man hat darum von der "umgekehrten Perspektive" der Ikonen gesprochen: "Der östliche Mensch versteht sich als vom Heiligen eingehüllt, vom Göttlichen überschattet... Er braucht diesem nicht nachzueilen, es ist bereits gegenwärtig." Und in [diesem] auf den Betenden zukommenden Bild kommt die Botschaft der Offenbarung auf ihn zu.

Die Lichtquelle kommt bei vielen Ikonen nicht von außen - die Gestalten selbst scheinen das Licht auszustrahlen. Diesem Licht setzt sich der Betende aus.

Die Farben haben ihren bestimmten Symbolwert, wie wir es auch aus der mittelalterlichen abendländischen Kunst kennen: Gold ist eigentlich keine Farbe, sondern unmittelbarer Ausdruck er ewigen Herrlichkeit Gottes. Weiß ist die Farbe des Lichtes, das Verklärung, der Auferstehung - ähnlich wie Gelb, daß dem Weiß sehr nahe steht. Blau meint die göttliche Jenseitigkeit, zieht den Blick über das Sichtbare hinaus in ein nicht mehr erkennbares Unsichtbares. Rot weist hin auf das Blut Christi, seine Herrschaft über den Tod, und Grün ist die Farbe des Lebens überhaupt. Dagegen ist Dunkelbraun bis hin zum Schwarz die Farbe der Askese, der Trauer, ja oft des Dunklen und Bösen schlechthin.

Auf vielen Ikonen stehen die Farben rein und unvermischt nebeneinander, während andere Ikonenmaler die verschiedenen Farben in ihrer Abtönung und Mischung als eine eigene Form ihrer künstlerischen Sprache benutzen. Viktor Lasarew, der die Dreifaltigkeits-Ikone Rubljows in einzigartig tiefer Weise erschlossen hat, spricht von der "Musik der Farben". Auch die Farben stehen im Dienst der Verkündigung und wollen etwas vom Geheimnis Gottes in uns zum Mitklingen bringen.

Die gleiche "gemalte Verkündigung" spricht aus der Mimik und den Gesten der Gestalten sowie aus der Gesamtposition des Bildes.

Damit keine Unklarheiten über den Verkündigungscharakter der Ikone möglich sind, ist dem Bild auch häufig ein Wort beigefügt. Bild und Wort stehen im unlöslichen Zusammenhang. Und immer bin ich gemeint, der sich in Gebet und Meditation der Verkündigung des Bildes aussetzt.

Vielleicht mag diese erste, kurze Einführung in den Sinn der Ikonen genügen, um den Mut zu finden, sich einmal meditierend ganz auf eine dieser Ikonen einzulassen und dabei eigene Erfahrungen zu sammeln.

Hinweis: Die verschiedenen Ausgangspunkte zur Meditation des gleichen Bildes, wie sie jeder Tag anbietet, sind als Möglichkeit des Einstieges gemeint. Diese Einstiegsmöglichkeiten können Sie später bei jeder Bildmeditation benutzen, ja auch bei vielen Textmeditationen. Es soll ja nicht bei einer einfachen Betrachtung bleiben, sondern die Betrachtung möchte zur Meditation werden - das aber braucht das lange Verweilen, Umkreisen und Wiederholen des gleichen Inhalts. Dabei kann es natürlich geschehen, daß Sie schon spontan innerlich einen Schritt vollziehen, der "offiziell" erst später angeboten wird. Dann sollten Sie sich darüber freuen, das Erlebte wiederholen und vertiefen - und sich im übrigen dem inneren Geschehen mehr und mehr überlassen.

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