Karin Johne

Geistliches Wachstum im Alltag - ein Wort, was zur Nahrung werden kann *

Überblick:
1. Einige Vorbemerkungen als Voraussetzungen:
2. Ein Wort, das zur Nahrung werden kann.
a.) Das Wort an Elia: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"
b.) Das Wort an mich: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"
3. Vorschläge für eigenes Üben:
a.) Gebet zu Beginn des Tages: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"
b.) Gebet während des Tages: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"
c.) Gebet am Ende des Tages: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"

1. Einige Vorbemerkungen als Voraussetzungen:

a. Es geht um Wachstum. Nicht nur der Körper des Kindes wächst, auch der innere Mensch wächst - und er kennt - im Gegensatz zum leiblichen Wachsen des Kindes - keine Grenze seines Wachstums. Der innere Mensch kann wachsen, solange er lebt - und vielleicht geschieht der letzte und entscheidende Wachstumsschritt für manchen gerade in den letzten Momenten seines irdischen Lebens.

b. Für uns Christen geht es in diesem inneren Wachstumsprozess um die Gestaltwerdung Jesu Christi in jedem einzelnen von uns - um das Gleichgestaltetwerden mit ihm bis zum Vollmaß Jesu Christi. Es geht also um ein Wachsen des Bildes Christi in mir, welches von innen her geschieht und ein lebenslanger Prozess ist.

c. Wir Christen leben aus einem Geschenk, das sich nicht naturwissenschaftlich beweisen lässt, das aber wohl im Vollzug eines bewussten Lebens immer wieder als wahr erkennbar wird: ""Dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen", - wie Luther so schön übersetzt (Röm 8,28). Anders gesagt: Dass der Mensch, der aus Gott und auf Gott hin lebt, erfahren kann, dass alles, was geschieht, für ihn letztlich gut und heilsam ist. Das kann ich jedoch immer nur für mich selbst im Glauben sagen und bezeugen - niemals als allgemeingültige These im Blick auf das Leid anderer Menschen!

d. Wenn wir vom Wachsen sprechen, so steht uns das Bild eines Lebewesens vor Augen, welches zum Wachstum Nahrung braucht. Diese Nahrung muss jedes Lebewesen in sein eigenes Dasein aufnehmen, integrieren, nur so verwandelt sich der fremde Stoff der Nahrung in das körpereigene Wachstum. Auch "der Mensch lebt nicht von dem, was er isst, sondern von dem, was er verdaut"!

e. Übertragen wir das auf unser geistliches Leben: Was immer mir im Leben immer von außen begegnen mag, bleibt "fremd", bis ich es annehme, "verdaue", ihm so begegne, dass mein innerer Mensch dadurch wachsen kann. Darin und dadurch, wie ich auf die Ereignisse, die mich von außen berühren, selbst antworte und "re-agiere", kann ich mein inneres Wachstum befördern oder auch blockieren. Deshalb wohl legten die Meister des geistlichen Lebens von Anbeginn so viel Wert auf das Annehmen dessen, was mir geschieht - auf die Bereitschaft, mein Leben aus Gottes Hand anzunehmen. Sagen wir es anders: Wenn ich auf ein äußeres Geschehen "christusgemäß" reagiere, so gebe ich damit Christus in mir Raum, sich zu entfalten, zu wachsen und mich mehr und mehr in sich zu verwandeln.

2. Ein Wort, das zur Nahrung werden kann.

a.) Das Wort an Elia: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"

Vor mir steht das Bild des großen Propheten Elia, wie er nach seinem gewaltigen Sieg über die Priester des Baal mit einem Mal selbst an die Grenze seiner Kräfte gekommen ist (1 Kön 19,1ff). Nun - da alles vorüber ist, gewinnt die Angst Macht über ihn und er flieht - äußerlich weit in die Wüste, innerlich in ein tiefe Depression: "Nimm, Herr, mein Leben von mir - ich bin nicht besser als meine Väter!"

Und in dieser Situation geschieht etwas, was mich seit vielen Monaten begleitet - hier wird dem Elias Nahrung angeboten: "Steh auf und iss - denn du hast einen weiten Weg vor dir". Elia findet Nahrung neben sich liegen, als er aus seinem todesähnlichen Schlaf erwacht und die Augen öffnet. Zweimal geschieht dies, damit er es auch auf keinen Fall für einen Zufall nimmt - sondern erkennt: Gott schickt mir die Nahrung für meinen weiteren Weg. Gott schickt mir Nahrung, damit ich weiter wachsen und reifen kann. Und das geschieht dann auch - als Elia erfährt, wie viel Kraft diese Speise gibt, dass er in dieser Kraft den weiten Weg zum Gottesberg Horeb zu gehen vermag.

Dort wird ihm ein neues inneres Wachsen gewährt: Er - der Eiferer für Gott mit Schwert und Feuer, wird weitergeführt: Gott ist nicht im Feuer, nicht im Sturm oder im Erdbeben - sondern er ist verborgen im stillen, sanften Sausen des Windes.

b.) Das Wort an mich: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"

Gott bleibt der gleiche Gott - der Gott, der dem Elia, als er am Ende seiner Kraft war, Nahrung schenkt für sein weiteres Leben, ist der gleiche Gott, der jedem begegnet, der meint, am Ende zu sein - den Müdigkeit und Depression zur Flucht aus dem Alltag locken wollen. Diese Fürsorge Gottes gilt jedem von uns, ein Wort Gottes ist immer auch Wort an mich.

Die "Nahrung" liegt neben uns, um uns her - sie ist verborgen in jedem kleinen und kleinsten Geschehen meines Alltages. Meister Eckehart sagt in einem seiner grundlegenden Worte: "Der Mensch muss lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen." Das heißt doch, dass meine eigentliche "Nahrung", das, was mein Leben immer mehr zur Fülle wachsen und reifen lässt, nämlich Gott selbst, in allem verborgen ist, was mir geschieht und begegnet. Diese Nahrung liegt bereit, aber aufstehen und essen muss ich selbst. Ich kann alles mir Begegnende ungenutzt an mir vorübergleiten lassen - und dann ist nichts an innerem Wachstum geschehen. Aber ich kann auch immer neu etwas von dem, was mir begegnet, in mein inneres Leben integrieren, damit so umgehen, dass der verborgene Christus in mir etwas mehr Gestalt gewinnen kann - und so geschieht unbemerkt ein winziges Stück inneres Wachsen - so wenig zu registrieren, wie ich ohne Zeitraffer das Wachsen eines Blattes wahrnehmen kann, wenn ich es einige Minuten beobachte.

Aber ich habe auch die Möglichkeit, mir alles, was geschieht, "in hohem Maße zu nutze zu machen" (Meister Eckehart) - so kann es mir Nahrung für meinen inneren Menschen werden. So kann Tag für Tag Christus ein wenig in mir wachsen - in der einmaligen Gestalt, die ihm mein konkretes Leben zur Verfügung stellt. Kein Glied seines Leibes ist einfach austauschbar - das macht unsere unauslotbare Würde aus.

Es gibt eine alte kirchliche Meditationsweise, die sich im frühen Mönchtum herauskristallisiert hat - obwohl ihre Wurzeln schon in viel früherer Zeit liegen. - Es geht darum dass der Mensch ein Wort Gottes "wiederkaut", d.h. gebunden an seinen Atem über eine lange Zeit hin ständig wiederholt. So kann er dieses Wort wirklich "verdauen", es wird zu seinem Eigentum, ein Teil von ihm selbst - wie die Speise, die ich verdaut habe. So kann ein Gotteswort nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem gesamten Leben aufgenommen werden und sich in diesem Leben verwirklichen - ein Stück Menschwerdung Gottes in einem Gliede des Leibes Jesu Christi. Aus dieser Gebetsform hat sich das ostkirchliche Jesusgebet entwickelt.

3. Vorschläge für eigenes Üben:

Ich möchte aus einer guten Erfahrung eine ganz einfache Übung anbieten, welche sich für mich aus der Elia-Geschichte ergeben hat und den Alltag neu erfüllen kann. Als ich das Wort Gottes an Elia als Wort für mich an meinen Atem anschloss, vereinfachte es sich in der folgenden Form: - "Steh auf und iss - - dein Weg ist weit". Es bildete für mich über eine lange Zeit hin gewissermaßen den Raum, in welchem sich Alltag und geistliches Wachstum miteinander verbinden konnten. Vielleicht kann diese Übung auch für den oder jenen hilfreich sein:

1. Möglichkeit: Ich hole einatmend beim ersten Teil dieses Satzes die "Nahrung" - die Wirklichkeit Christi in mir - aus mir heraus, fasse gewissermaßen die Nahrung, die Christus in mir ist und bereithält - und schicke sie beim Ausatmen mit dem zweiten Teil dieses Satzes in eine vor mir liegende konkrete Situation oder Aufgabe hinein. Dabei muss ich - damit der Strom ungehindert fließen kann - der Christusgemäßheit dieses Tuns oder Lassens nachspüren und gehe dann in der Realisierung dieser Meditation einen kleinen Schritt auf meinem "Weg" vorwärts.

2. Möglichkeit: Ich atme mit dem ersten Teil des Wortes ein konkretes Geschehen in mich ein und "esse" dabei, lasse Christus in mit Gestalt gewinnen im Vollzug meiner christusgemäßen Antwort auf dieses Geschehen. Das kann so vielfältig sein, wie das Leben vielfältig ist. Beim Ausatmen schicke ich dann das Wort mit meiner Antwort- an meinen Atem gebunden - in meine innerste Mitte hinein, an den Ort, wo Christus in mir "anwest", sich entfalten und mein Leben von da aus mehr und mehr durchdringen möchte.

Diese beiden Möglichkeiten ergänzen einander und können einander ablösen in der Form, wie es mir jeweils besser und angemessener erscheint.

a.) Gebet zu Beginn des Tages: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"

Wenn ich meinen Tag mit dieser Übung beginne, wiederhole ich mindestens 10 Minuten lang diesen Satz, der mich "ernähren" soll - auch an diesem Tag. Dabei kann ich zuerst einfach den Augenblick als mir von Gott gegeben einatmen und so zur Nahrung werden lassen: Welches Geschenk ist es, dass ich jetzt eine Zeit habe, die Gott ganz allein gehört - einen Raum, in dem mich Gott von allen Seiten umgibt - ein "Nun", das ganz allein der Begegnung zwischen Gott und mir gehört...Welches Geschenk...

Und dann mag ich eine Aufgabe, die vor mir liegt, vorausmeditieren, indem ich mich "stärke" mit der "Nahrung", die Christus in mir selbst ist - sie mit jedem Einatmen empfange und mit jedem Ausatmen als Kraft in diese Aufgabenbewältigung hineinatme (1. Möglichkeit). Das geschieht in dem Maße, in dem mir meditierend bewusst wird, in welcher Weise ich diese Aufgabe im Sinne Christi angehen sollte. Solches Vorausmeditieren setzt Kräfte in mir frei, die mir dann im Vollzug der Arbeit zur Verfügung stehen.

Oder ich kann die vor mir liegende Aufgabe selbst als Nahrung empfangen, indem ich in mich einlasse: Welches Geschenk ist es, dass ich arbeiten darf, dass Gott mir diese Aufgabe heute anvertrauen will! Und ich kann die Würde, die mir Gott darin anvertraut, in mich hineinatmen, um Christus in mir wachsen zu lassen (2. Möglichkeit). Dass das nicht nur bei angenehmen Aufgaben, sondern auch bei sehr schwierigen möglich ist, braucht wohl nicht extra gesagt zu werden. Aber bei allem Meditieren sollte ich erst mal mit dem Einfacheren beginnen um dann zu Schwierigerem fortzuschreiten.

Das gleiche kann ich natürlich auch im Blick auf einen bestimmten Menschen tun oder auf ein Geschehen, welches mich im tiefsten bewegt - in der eben genannten Weise - abgeändert je nach dem, worum es in besonderer Weise geht.

b.) Gebet während des Tages: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"

Diese Übung kann ich morgens und abends tun - und so oft am Tage, wie es mir nur möglich ist. Der Sinn des Wiederholungsgebetes der Mönche lag vor allem darin, dass durch die häufige Wiederholung eines Wortes dieses Gebet im Herzen weiterbetet - auch dann, wenn der Mensch mit einer ganz anderen Arbeit befasst ist. Und während des Tages bieten sich ja ständig neue Möglichkeiten an, Realitäten, in denen Gott verborgen ist, zu "essen" und zu "verdauen". Oft mögen es kurze, erzwungene Pausen sein, welche sich so füllen lassen - und wenn es nur das Warten vor einer Ampel mit Rotlicht wäre...

c.) Gebet am Ende des Tages: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit"

Ich frage mich im Raume dieses wiederholenden Betens: Was war mir Nahrung für meinen inneren Menschen im Rückblick auf diesen Tag? Wie muss ich es verarbeiten, "verdauen", damit es mir wirklich zur Nahrung werde? Es ist besser, sich auf weniges zu beschränken, und dies wirklich zu verdauen, als zu meinen, den ganzen Tag ausschöpfen zu müssen. Bei solchem Versuch würde mir nur meine Grenze bewusst werden: Wie viel mehr bietet mir Gott an als Nahrung, als was ich zu essen und zu verdauen vermag! Aber welcher Reichtum liegt gerade im "Verdauen" eines einzigen Geschehens - ist doch in der Dimension des Gebetes weniger mehr als viel - weil das Wenige in die Tiefe gehen kann.

So kann dieses eine Wort: "Steh auf und iss - dein Weg ist weit", mich über Wochen und Monate hin begleiten und sich als das bezeugen, was es ist: Wort, von dem ich wahrhaft leben kann.

* Veröffentlicht in „Meditation“ 1994 Heft 4 (Christianopolis-Verlag, Weilheim 1994)

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