Johannes 10, 10 - Lukas 6, 38 
Thema:

Leben in Fülle

In beiden Textworten geht es um die Fülle, ja die Überfülle des Lebens, das Jesus uns schenken möchte. Drei Urworte sprechen uns aus diesen Texten in einer sehr tiefen Schicht an:
Solche Urworte lassen Ursehnsüchte in uns aufsteigen:

a) Leben

Die Sehnsucht nach einem gelingenden Leben, nach wahrem Leben - was immer der einzelne darunter verstehen mag, ist menschliche Ursehnsucht. Solch eine Sehnsucht wird uns manchmal spontan bewußt in der Begegnung mit einem äußeren Geschehen oder Bild, etwa:


Warum nehmen und nahmen Menschen aller Zeiten immer wieder Mühen auf sich, um sich auf diesen Weg nach dem "Mehr" zu machen? Spüre ich auch in meinem eigenen Leben etwas von diesem Suchen, selbst wenn es ganz verborgen ist?...

Jesus sagt im Johannesevangelium ein Wort, das den, der es gehört hat, vielleicht nie wieder ganz loslassen wird, weil es diese Ursehnsucht nach vollem, gelingenden Leben in uns anspricht:

Jesus sagt: "Ich bin gekommen, daß sie das Leben haben,
daß sie es in Überfülle haben" (Joh 10,10)
Leben in Fülle, ja in Überfülle wird uns hier verheißen - aber liegt das nicht weit und fernab von jeder Wirklichkeit?

Erleben wir es nicht immer wieder, wie Ansätze erfüllten Lebens zunichte werden? Daß es eine Illusion gewesen ist, wenn jemand gemeint hat, mit der Zeit werde er sein Leben schon so gestalten können, daß die leeren, die dunklen und schmerzhaften Seiten immer geringer werden und das Leben sich immer mehr zur Sonnenseite hin bewegen würde? Aber ist nicht in uns ein ganz tiefes Wissen darum, daß es doch eigentlich so sein müßte? Und doch sieht die Realität so ganz anders aus! ?

b) Das Maß

Hier mag uns ein anderes Wort Jesu vielleicht weiter helfen, das wir an einer im Lukasevengelium finden. Da spricht er vom übervollen Maß. Auch hier ist also die Rede von solcher Überfülle. Man hat geradezu den Eindruck, die menschliche Sprache reicht nicht aus, um diese Dimension der Fülle auszudrücken, wenn Jesus sagt:

"Gebt, so wird euch gegeben.
Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend Maß
wird man euch in euren Schoß geben"
(Luk 6,38)

Stellen wir uns solch ein Getreidemaß vor: voll - gedrückt - gerüttelt - überfließend... Sollen wir etwas davon spüren: Was da angeboten wird, geht einfach über unsere Fassungskraft hinaus?

Aber vielleicht ahnen wir sogar, daß es in Gott einen solchen Reichtum, nach dem wir uns sehnen, geben mag, ahnen es aus kurzen Augenblicken, in denen uns eine Spur solcher Fülle angerührt haben mag? - Spricht nicht die Sehnsucht unseres Herzens eine dringliche Sprache? Ist nicht - so könnte man schließen - diese Ursehnsucht schon so etwas wie ein Hinweis darauf, daß es irgendwie und irgendwo eine Erfüllung geben müßte? Und haben wir - vielleicht in solchen Tagen der geistlichen Übungen - vielleicht manchmal etwas gespürt von der Möglichkeit solcher Fülle? Und gehen wir noch einen Schritt weiter: Die christlichen Mystiker wissen davon, daß Gott uns nicht nur gewisse Gaben, sondern daß er selbst sich uns schenken möchte - in seiner ganzen Fülle.

Aber wieder steht noch dringender die Frage vor uns: Wie verträgt sich das mit der Realität unseres Lebens, mit der Realität unsere heutigen Welt?

Schauen wir genau hin: Vor diesem Wort Jesu, das von der Fülle spricht, steht ein anderes Wort, das anscheinend gar nicht hierzu zu passen scheint: Der Abschnitt beginnt mit der Aufforderung: "Gebet, so wird euch gegeben". Könnte uns dieses Wort nicht auf etwas Besonderes aufmerksam machen? Wenn Gott Fülle des Lebens schenken möchte, dann braucht er vielleicht gar nichts anderes dazu als unsere leeren Hände. Hände, die gegeben haben, sind leer und können empfangen.

c) Der Mutterschoß

Und da ist dann noch das Wort, daß uns diese Fülle "in den Schoß", eigentlich "in den Mutterschoß" gegeben werden soll. Im Mutterschoß wächst der Embryo zum lebendigen Menschen. In diesen Schoß hinein wird uns das Leben geschenkt, das zur Fülle wachsen und reifen soll.

Wenn sich der ganze Gott uns schenken will - das beinhaltet doch wohl doch wohl dieser Hinweis auf die Überfülle - braucht er dann nicht auch den ganzen Menschen, der sich ihm öffnet mit seinem ganzen Leben? Besteht denn gelingendes, erfülltes Leben nur in den frohen und hellen Stunden? Sind es nicht gerade oft die dunklen und schmerzhaften Erfahrungen, die uns innerlich wachsen und reifen lassen?

Ist es nicht ein Grundirrtum unserer heutigen Zeit, daß erfülltes, gelingendes Leben einfach gleichzusetzen sei mit einem unbeschwerten, erfolgreichen und deshalb "glücklichen" Leben?

Das hieße aber dann doch: Die uns verheißene Fülle können wir nur dort empfangen, wo wir als ganze Menschen da sind - das heißt aber, wo wir nicht das Dunkle und Schmerzhafte auszublenden versuchen, sondern es als Teil unseres Lebens annehmen.

Deshalb schauen wir ja in diesen Tagen der Exerzitien nicht nur das bewußt an, womit uns Gott beschenkt und begnadet hat, sondern wir lassen auch die dunklen Seiten in uns an Licht kommen. Wir brauchen sie nicht mehr zu verdrängen, sondern dürfen sie als uns zugehörig erfahren - weil wir dennoch geliebt sind. Nur so werden wir mehr "ganz" - und Ganzsein hängt zusammen mit der Fülle des Lebens.

Ist es nicht so - dort, wo wir alle Seiten unseres Lebens, wo wir Freude und Schmerz, Licht und Dunkelheit annehmen, erleben wir vielleicht, daß uns jeder Schmerz und jede Dunkelheit aufbrechen kann, um danach auch die Freude und das Licht in größerer Fülle empfangen zu können? Und daß solche Freude uns wiederum innerlich stärkt, die nächste Strecke der Dunkelheit annehmen zu können? Können nicht gerade die schmerzhaften Stunden unseres Lebens uns öffnen, uns die "leeren Hände" schenken, damit wir größere Fülle empfangen können?

Ist es nicht so, daß nicht nur tiefe Freude uns "lebendiger" macht, sondern gerade auch angenommener Schmerz Quellen des Lebens in uns öffnen kann - wenn das auch meist erst im Nachhinein erkannt werden wird?

Schauen wir auf Jesus, der ja mit seinen Worten sein eigenes Leben deutet:

Sehen wir auf das zentrale Geschehen seines Lebens: Der Auferstandene begegnet den Seinen mit seinen Wundmalen. Was sich schon früher in seinem Leben anbahnte, wir am Ende unübersehbar deutlich: Weil er zu Karfreitag ganz leer wurde, weil er alle Dunkelheiten aushielt, die unser Menschsein begleiten, deshalb konnte er auch die ganze Fülle des Lebens im Übermaß empfangen in seinem österlichen Leben. Dieses Leben ist dem Tode, den Schmerzen, dem Leid, den Tränen entnommen, die Ursehnsucht des Menschen nach wirklichem , gelingenden Leben, findet hier ihre Erfüllung.

Es gilt einen Versuch, der sich lohnt:

Wozu wir "Ja" sagen, läßt Leben in uns wachsen. Nicht nur Freude schenkt Leben und macht lebendig, sondern auch zugelassener, durchlittener und angenommener Schmerz. Dieses Angebot wahren Lebens - die Bibel spricht von Verheißung - nimmt Verbindung mit der tiefen Sehnsucht nach dem "Mehr, nach dem wahren, gelkingenden Leben in uns auf. Und das ganze ist noch einmal umgriffen davon, daß es hier nicht nur um die Sehnsucht unseres eigenen menschlichen Herzens geht, sondern daß diese Sehnsucht nur ein schwacher Abglanz der Sehnsucht ist, die Gott nach uns hat - der Sehnsucht Gottes, der sich uns ganz schenken möchte. Hätte er sich sonst auf das Geheimnis der Menschwerdung eingelassen?

Gebet:

"Wie die Früchte des Feldes gedeihen unter Sonne, Wind und Regen, so laß auch uns wachsen für Deine Ernte".


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