Gott kennt unsere Sehnsucht (Jesaja 25, 8-9)


Bibeltext:
Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der Herr hat's gesagt. Zu der Zeit wird man sagen: "Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns helfe. Das ist der Herr, auf den wir hofften; lasst uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil."

Jesaja 25,8.9

Wer schon einmal schwer krank war, so dass er am Rande des Todes gestanden hat, der wird sich gefragt haben: Gibt es das überhaupt noch - ein Leben ohne Schmerzen und ohne Todesangst? Wie tief kann da die Sehnsucht aufbrechen - die Sehnsucht nach Gesundheit, nach Genesung, nach Heilung. Was der eine oder andere von uns schon selbst erlebt haben mag, das ist die Situation unzähliger Menschen, die Sehnsucht haben nach Heilung, nicht nur nach Heilung von körperlichen Schmerzen und Krankheiten, sondern auch nach Heilung ihrer tiefsten menschlichen Nöte. Sagen wir es mit den Worten der Bibel: Es sind Menschen mit tiefer Sehnsucht nach dem Heil.

In diese Sehnsucht hinein spricht der Prophet sein Gotteswort, das einmündet in den Ruf: Lasst uns fröhlich sein über seine Hilfe - lasst uns jubeln und frohlocken über sein Heil!

Lasst uns jauchzen und frohlocken,

denn Gott kennt unsere Sehnsucht nach dem Heil!

Wir spüren im tiefsten Herzen, dass unsere Sehnsucht nach dem, was uns im umfassenden Sinn Heilung schenkt, unstillbar ist. Gerade deshalb empfinden wir alles das, was nicht "heil" ist in unserem Leben, als so hart und unerträglich. Vielleicht wagen wir es kaum, uns diese tiefe Sehnsucht einzugestehen, doch vor Gottes Augen liegt sie offen. Es ist die Sehnsucht nach Beendigung der Schmach; nach Erlösung von Tränen und Tod, in die hinein Gott sein Trostwort durch den Propheten spricht: Ich will aufheben die Schmach - ich will abwischen alle Tränen - ich will den Tod verschlingen auf ewig! So genau kennt Gott den Kummer seines Volkes, das sich damals im 7ojährigen Exil befand. Und so genau kennt er auch heute die Schmerzen und Nöte seines Volkes: Er weiß um die Menschen, die ihr Lebensschicksal als Schmach empfinden, vielleicht, weil sie ein behindertes Kind haben, vielleicht, weil sie als Frauen ihr Leben allein bestehen müssen, vielleicht, weil ihre Kraft nicht mehr reicht, alles in Ordnung zu halten. Sie erleben das Unverständnis anderer Menschen, und sie schämen sich vor den anderen, scheinbar Glücklicheren.

Mancher verkriecht sich ganz in seinen eigenen vier Wänden. Gott aber kennt diese verborgene Not bei jedem einzelnen. Sein Wort gilt ihnen und uns allen: Ich will aufheben die Schmach meines Volkes in allen Landen. . Und Gott weiß um alle verborgenen Tränen, die geweint werden: Tränen, die Menschen in ihren Schmerzen vergießen - Tränen, die geweint werden aus Sorge um einen lieben Menschen - Tränen, die von einer Angst sprechen, die im tiefsten Herzen ihren Sitz hat: Angst vor dem Versagen, Angst vor dem Krankwerden, Angst vor dem Sterben - oder wie die Angst auch heißen mag, Gott weiß darum als jemand, der diese Angst aus eigener Erfahrung kennt; auf Gethsemane hat er sie selbst mit seinem Sohn durchlitten. Und in diese Angst hinein stellt er das Bild, das sein Prophet schauen darf: Er - Gott selbst - wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen. Wir sollten dieses Bild tief in uns einlassen, es mag die Erinnerung wecken an eine Zeit, wo die Mutter meine Kindertränen mit liebevoller Hand abwischte. Gott kennt unsere Tränen. Und noch einmal wird selbst diese Verheißung überboten: Gott wird den Tod vernichten auf immer. Dabei geht es um den Tod in seiner ganzen Härte, wie wir ihn empfinden beim Verlust eines geliebten Menschen - ob es ein langsames, sich unerträglich lange hinziehendes Sterben ist oder ein plötzlicher Tod, der die Angehörigen fassungslos zurücklässt. Aber wir dürfen auch die vielen sogenannten kleinen Tode vor Augen haben, die unser ganzes Leben begleiten: wo immer uns unwiederbringlich etwas verloren geht, was uns . lieb und wert war. "Jeder Abschied ist ein kleines Sterben", sagt ein französisches Sprichwort. Mitten in diese Schmerzen hinein klingt das Wort der Verheißung Gottes: "Ich will den Tod vernichten auf immer"

Für den Propheten, der das Wort der Verheißung tief in seinem Innersten gehört hat, der das Bild des Heiles bei Gott hat schauen dürfen, ist das, was er gehört und gesehen hat, kein Traumbild, sondern Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die ihn im tiefsten packt und durchdringt, eine Wirklichkeit, die ihn alles, was er um sich her an Leid erlebt, als vorläufig erkennen lässt. ln diese Gewissheit des Heiles will er die Menschen, zu denen er spricht, mitnehmen. Er ruft uns auf:

Lasst uns jauchzen und frohlocken,

denn Gott hat das Heil für uns bereit!

Jesus selbst gebraucht das Beispiel: Für die Mutter, die einem Kind das Leben geschenkt hat, liegen bald alle Schmerzen der Geburt weit zurück. Was im Augenblick des Geschehens unerträglich erschien, enthüllt sich im Rückblick als überwindbar und wenig wichtig. So ähnlich mag es demjenigen ergehen, der - wie der Prophet - einen Blick tun darf in das Heil Gottes, in die heile Welt, die er uns verheißt.

In den Worten des Propheten spürt man etwas von dieser neuen Schau. Etwas vom Atem der Ewigkeit durchzieht unseren Text. Da ist Raum und Zeit bereits überwunden, wenn gesagt wird, daß der Tod "für ewig" verschlungen sein wird, daß Schmach und Tränen von "allen Völkern" hinweggenom- men werden. Es ist eine mitreißende Schau, in die er uns hineinzieht: "Siehe, so ist unser Gott!" Solch einen Gott haben wir, der weder Schmach noch Tränen noch Tod für uns will, sondern das Heil für uns bereit hat!

Doch ist das nicht alles nur ein schöner Wunschtraum? Ist der Prophet nicht einer großen Täuschung erlegen? Vielleicht hätten die Menschen damals auf diese Frage keine Antwort geben können. Wir aber glauben und wis- sen seit Ostern, daß unser Gott diese Verheißung wahr machen will, weil er sie bereits wahr gemacht hat:

Lasst uns jauchzen und frohlocken,

denn für uns ist das Heil bereits angebrochen!

Christen sind wir, weil es Ostern geworden ist. Gott lässt uns in sein Herzensgeheimnis hineinschauen. Er will nicht das Unheil, sondern das Heil für uns und alle Menschen, Dafür ist Christus gestorben, und darum hat Gott ihn auferweckt.

Der Name Jesus bedeutet in der hebräischen Sprache soviel wie „Hilfe" oder „Heil", Jesus: Er bringt uns das Heil Gottes. In ihm hat sich die Verheißung des Propheten verwirklicht. Der Verachtetste wird zum Herrn aller Herren. Der, dessen Angsttränen wie Blutstropfen zur Erde fielen, kann seinen Jüngern in Vollmacht sagen: Fürchtet euch nicht! Und in unseren Osterliedern jubeln wir: Das Leben hat über den Tod gesiegt! Ist es uns aber überhaupt möglich, dieses Unglaubliche zu glauben?

Vielleicht nur dann, wenn wir in unserem eigenen Leben (' Zeichen dafür entdecken können, die uns solches Glauben ermöglichen. Was sind das für Zeichen?

In jedem Leben gibt es helle und dunkle Stunden. Und das gibt es ja auch: dass ich im Rückblick auf eine dunkle Zeit sagen kann: Ich möchte sie nicht missen, ich bin daran gewachsen und gereift. Wer solches - und sei es nur zaghaft und unsicher - für ein eigenes Erleben sagen kann, versteht vielleicht, was gemeint ist: Da hat sich Unverstandenes in Verstehbares verwandelt, Dunkles leuchtet auf im Strahl eines neuen Lichtes, Was ich " hier in aller Vorläufigkeit und in kleinster Münze erfahren habe, ist Angeld, Zeichen für das ganz andere, Neue, das im Ostergeschehen angebrochen ist: das Heil Gottes - eine Wirklichkeit für die Welt und für mich.

Der Tod ist vernichtet - die Tränen werden abgewischt - alle Schmach wird hinweggenommen.

Lasst uns jauchzen und frohlocken über sein Heil! Amen.

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Gebet:

Herr, du lebst -

und so ist nun alles in ein neues Licht getaucht;

du lebst -

und so ist nun alles Leben auf dieser Erde neu geworden,

von neuer Frische erfüllt, von neuer Hoffnung beseelt;

du lebst -

und so hat unser Leben eine neue Richtung bekommen,

einen neuen Inhalt, ein Ziel,

das nicht mehr im Dunkel verschwinden kann;

du lebst -

und so können wir uns wieder miteinander und aneinander freuen,

in erneuerter Gemeinschaft unsern Weg fröhlich weitergehen.

 

Herr, du lebst -

schenke uns nun, dass wir mit unserm ganzen Leben,

mit allem, was wir sind und was zu uns gehört,

in den Lobgesang deines Lebens einstimmen können.
Amen


(Das Gebet ist entnommen aus: Klaus Bannach/Gerhard Raff, Gottesdienstgebete, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn ;1977)

 

 

 

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