"Je höher ich komme, desto ungeschützter bin ich den Wetterumschlägen ausgesetzt, aber dafür auch der Sonne ein Stück näher." "Oft scheint die Sonne erst über den Wolken." "Wer auf die Sonne zugeht, lässt die Schatten hinter sich." "Je höher ich komme, desto weiter sehe ich." "Je höher ich aufsteige, desto kleiner wird, was ich hinter mir lasse." "Nur wer vorwärts geht und nicht aufgibt, kann das Ziel erreichen." "Je höher der Mensch steht, desto kleiner kommt er sich vor." "Angelangt auf dem Gipfel ist alle Mühe des Aufstiegs belohnt oder gar vergessen." "Wer sich einem Flugzeug oder einer Weltraumfähre anvertraut, fühlt sich der Schwerkraft der Erde entzogen."
Weshalb steigt der Mensch eigentlich überhaupt auf hohe und höchste Berggipfel? Was sucht er dort, wo oft nichts ist als eine große Steinwüste? Ist es der Fernblick, der so unausweichlich lockt? Oder ist es die Höhe, die Nähe der Sonne? Spricht es eine besondere Tiefenschicht in mir an, wenn ich den elementaren Gewalten der Natur so unmittelbar ausgesetzt bin, wie es in der Bergen geschieht? "Gipfelerlebnisse", "Gipfelerfahrungen" machen das Leben eines Menschen reich und schön, auch wenn danach lange dürre Strecken folgen.Doch in diesem letzten Hauptteil geht es sogar noch um eine andere Dimension menschlicher Ursehnsucht, welche die Bilder solcher Gipfelerfahrungen noch übersteigt: Es ist die Sehnsucht nach dem Fliegen, die Ursehnsucht danach, das Schwergewicht der Erde zurücklassen zu können. Es wäre gut, wenn ich mir diese Sehnsucht bewusst machte, wie sie auch in mir lebt. Diese Sehnsucht stellt sich immer wieder in Träumen dar. Vielleicht erinnere ich mich an solche Träume, in denen ich fliegen konnte. Ich sollte sie wieder lebendig werden lassen und sie neu in meine Er-"innerung" rufen mitsamt den Gefühlen, die sie auslösten - ehe ich mich auf diesen letzten Hauptteil einlasse.
Wenn es Meister Eckehart so zentral darum geht, den Menschen mehr und mehr dahin zu führen, jegliche Ich-Bindung aufzugeben - alles zurückzulassen, was ihn fesselt und was ihn daran hindert, das "Fünklein" frei zu Gott aufsteigen zu lassen, so spricht das genau hinein in diese Ursehnsucht des Menschen: sich einmal von aller ihn "fesselnden" und "belastenden" "Schwerkraft" befreien zu können. Diese Ursehnsucht des Menschen hat wieder mit der tiefen Sehnsucht Gottes nach uns zu tun, welche sich in unserer Sehnsucht nach ihm nur spiegelt.( Vgl. dazu S. 22) Solch eine Sehnsucht ist eine Realität; wenn es die Möglichkeit der Erfüllung nicht gäbe, gäbe es auch diese Sehnsucht nicht. Ich las einmal: Unser Hunger ist der Beweis dafür, dass es Essen geben muss!Natürlich geht es hier um innere, geistliche Prozesse. Sie würden aber "blutleer" bleiben, von der Realität unseres Menschseins losgelöst, wenn wir nicht die Ahnung davon und die Sehnsucht danach in uns selbst trügen. Meister Eckehart ist ein Zeuge dafür, dass es diese Möglichkeit wirklich und wahrhaft für den Menschen gibt. Dabei ist dreierlei zu beachten, damit die Übungen dieser Woche in das richtige Umfeld gestellt werden können:1. Ich kann diese Wirklichkeit manchmal ahnungshaft erkennenAn die Möglichkeit, dass die "Ewigkeit" Gottes schon mitten in dieser Zeit beginnt und in unser Leben hineinreichen will, muss ich glauben. "Es kommt die Zeit und ist schon jetzt", sagt Jesus zu der Samariterin am Jakobsbrunnen. Die geistliche Theologie hat diese Stelle immer so gedeutet, dass die Ewigkeit schon in Jesus - und damit mitten in dieser Zeit und damit in uns selbst - begonnen hat. Meister Eckehart sagt: "(Diese Verheißung) ist auch uns zuteil geworden, dass wir getauft werden sollen im Heiligen Geiste und von ihm (die Gabe) empfangen, über der Zeit in der Ewigkeit zu wohnen" (290,10ff). Zu dem Vater des epileptischen Knaben sagt Jesus: "Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt" (Mk 9,23). Teresa von Avila macht es ihren Schwestern bewusst, dass sie nur dann von Gott Großes, ja Außergewöhnliches empfangen können, wenn sie daran glauben, dass Gott solches tun kann.Aber selbst dort, wo ich etwas davon empfange - immer nur ahnungsweise, angeldhaft -, bleiben diese Erfahrungen dem "Herzen" vorbehalten. Ich kann sie weder für mich selbst noch für andere nach dem heute noch geltenden Wissenschaftsverständnis beweisen oder gar experimentell nachvollziehen, wann und wo ich es wollte. Jede solche Erfahrung bleibt eine freie und immer unverdiente Gnade Gottes.Aber das heißt nicht, dass sie weniger Wirklichkeit besäße als andere Erkenntnisse. Diese Wirklichkeit liegt nur auf einer anderen Ebene und braucht daher andere Weisen, um mit ihr umzugehen. Mir sagte einmal ein Bischof unserer Kirche nach einer schweren Krankheit: "Ich habe geübt, mein Leben jetzt so zu leben, als hätte ich die Todeslinie schon überschritten. Seitdem hat alles eine andere, eine ganz neue Sicht bekommen." Nicht ohne Grund gehen die drei vergangenen Wochen dieses Kurses dem neuen Thema voraus. Wahrhaft angenommenes Leid - bis hin zu echten Todeserfahrungen - eröffnet neue Sichten, die vorher unmöglich erschienen. Da geschieht oft spürbar echte Verwandlung. Wer sich dazu durchringen könnte, in einer inneren "dunklen Nacht" Gott nicht mehr um das Ende dieses unerträglichen Zustandes zu bitten - sondern sich ihm einfach auszuliefern mit der Bitte: "Lass nicht ab, bis du mich dahin gebracht hast, wohin du mich haben willst" (Vgl. das "allerbeste Gebet" (4.7.), der kann erleben, dass sich der innere Krampf, dass sich die Angst löst und die Dunkelheit lichtet und ein Gefühl der Freiheit aufsteigt, ohne dass sich äußerlich auch nur das Geringste geändert hätte. In solch einem Augenblick erfahre ich etwas von einem Zustand "jenseits der Todeslinie": "Wisset nun, ...alle unsere Seligkeit hängt daran, dass der Mensch durchschreite und hinausschreite über alles Geschaffene und alle Zeitlichkeit und alles Sein und eingehe in den Grund, der grundlos ist" (342,28ff).Und von daher kann man dann auch geistliche Erfahrungen anderer, die uns bezeugt werden, ganz neu verstehen. Meister Eckehart hat dabei nicht nur Christen im Blick, sondern aus seinem eigenen Erleben her versteht er auch Erfahrungen von "Heiden" als echte Berührungen Gottes: "Ein heidnischer Meister (sprach) ein schönes Wort zu einem anderen Meister: 'Ich werde etwas in mir gewahr, das glänzt in meiner Vernunft; ich verspüre wohl, dass es etwas ist, aber was es sein mag, das kann ich nicht begreifen; nur soviel dünkt mich: könnte ich es erfassen, ich würde alle Wahrheit erkennen.' Da sprach der andere Meister: 'Wohlan! setze dem nach! Denn könntest du es fassen, so hättest du einen Inbegriff aller Gutheit und hättest ewiges Leben'" (422,19ff). Es gibt also solche Erfahrungen! Aber sie sind selten. Damit kommen wir zum zweiten Punkt:
2. Ich nehme über weite Strecken meines Lebens nichts wahr von dieser Wirklichkeit.Meister Eckehart wird gefragt: "Nun sprechen manche Leute: 'Ihr tragt uns schöne Reden vor, aber wir werden nichts davon gewahr'." Er antwortet: "Das gleiche beklage auch ich!" (291,33ff) Es ist eine verborgene Wirklichkeit, um die es hier geht, ein kurzes Aufleuchten - dem wieder eine lange Strecke des Nichterkennens folgt. Gerade an dieser Stelle weist Meister Eckehart hin auf die Vorläufigkeit unseres Erkennens und Fühlens. Darauf kommt es nicht an, sondern: "Hab nur ein rechtes Streben und einen freien Willen, so hast du es" (292,1f).Die innere Umpolung des Denkens betrifft alle Bereiche: Gott ist die einzige wahre Wirklichkeit. Was ich fühle und erkenne, ist vorläufig, begrenzt. Und um mir das immer neu bewusst zu machen, spielt Gott mit mir das große, heilige "Spiel seiner Liebe". Er verbirgt sich und zeigt sich wieder, um uns vor einer "Melancholie der Erfüllung" zu bewahren - wie eine Teilnehmerin eines Kurses sagte - und uns gleichzeitig im stetigen Nachjagen zu halten: "Wenn der Mensch der Dinge Bewandtnis weiß, dann ist er alsbald der Dinge müde und sucht wieder etwas anderes zu erfahren und lebt dabei doch immerfort in bekümmertem Verlangen, diese Dinge zu erkennen und kennt doch kein Dabei-Verweilen. Daher: (Nur) das nichterkennende Erkennen hält die Seele bei diesem Verweilen und treibt sie doch zum Nachjagen an" (421,25ff). Auf das "Nachjagen", auf das Dranbleiben aber kommt es entscheidend an.
3. Ich kann schon in diesem Leben in Gott angeldhaft letzte Erfüllung erfahrenEchte Freude kann mich Gott unmittelbar berühren lassen - aber was geschieht, wenn diese Freude nachlässt, wenn sie von Schmerz abgelöst wird? Solange ich Gott noch nicht in Freud wie in Leid finde, ist meine Gottesbeziehung noch immer gefährdet. Wenn Gott aber in allem ist, dann ist er in Freude wie in Leid, dann kann mich kein Leid von Gott trennen. Im Gegenteil: dann finde ich nach Meister Eckehart seine Nähe sogar im Leiden unmittelbarer als in der Freude: "Nun merke, welch wundersames und wonnigliches Leben dieser Mensch 'auf Erden' 'wie im Himmel' in Gott selbst hat! Ihm dient Ungemach zu Gemach und Leid gleicherweise wie Liebes, und doch beachte dabei in ebendem noch einen besonderen Trost: denn, wenn ich die Gnade und die Gutheit habe, von der ich gerade gesprochen habe, so bin ich allzeit und in allen Dingen gleichmäßig völlig getröstet und froh; habe ich aber nichts davon, so soll ich's um Gottes willen und in Gottes Willen entbehren. Will Gott geben, wonach ich begehre, so habe ich es damit und bin in Wonne; will Gott hingegen nicht geben, nun, so empfange ich's entbehrend im gleichen Willen Gottes, in dem er eben nicht will, und so also empfange ich, indem ich entbehre und nicht nehme. Woran fehlt's mir dann? Und sicherlich, im eigentlicheren Sinne nimmt man Gott entbehrend als nehmend; denn, wenn der Mensch empfängt, so hat die Gabe das, weswegen der Mensch froh und getröstet ist, in sich selbst. Empfängt man aber nicht, so hat noch findet noch weiß man nichts, worüber man sich freuen könnte, als Gott und Gottes Willen allein" (111,13ff).Hier schließt sich der Kreis zum Beginn hin: Auch in der ersten Woche war schon davon die Rede, dass es beim Voranschreiten des Menschen kein Ende, kein Erreichen des Zieles in diesem Leben gibt, sondern "nur einen steten Fleiß im höchsten Zunehmen".( Die Überschrift von Kapitel 8 des Traktates "Reden der Unterweisung" heißt: "Vom steten Fleiß im höchsten Zunehmen".) "Der Sonne entgegen" darf zum Lebensziel und -inhalt werden. Doch Gott unterscheidet sich von der Sonne, er ist nicht völlig unerreichbar! Nicht weil wir den Weg zu ihm finden könnten, sondern weil er uns diesen Weg in Jesus Christus geschenkt hat: "weil er ein Bote von Gott zu uns gewesen ist und uns unsere Seligkeit zugetragen hat" (178,28ff).