Wann immer hier von Schmerz und Leid die Rede ist - das muss ich immer neu betonen -, geht es nie um selbstauferlegtes Leiden, was Meister Eckehart entschieden ablehnt, sondern es geht um den unaufhebbaren Rest, der immer noch bleibt, wenn der Mensch alles in seinen Kräften Stehende getan hat, um den Schmerz zu bekämpfen. Das ist ebenso wichtig für körperliche wie für innere, seelische Schmerzen. Sie können unerträglich werden und mich völlig lähmen, wenn ich mich ihrer Sogkraft nicht erwehre. Diese Sogkraft kann mich so in das Schmerzerleben hineinziehen, dass ich mir vorkomme, als sei ich nichts anderes mehr als mein Schmerz. Das ist besonders dann der Fall, wenn tiefe, unverheilte Wunden aus der Kindheit angerührt werden, die mir als solche noch nicht ins Bewusstsein gekommen sind. Ich stehe dann zwischen zwei Gefahren: Entweder ich versinke in den Dunkelheiten, ohne noch an eine Rettungsmöglichkeit zu glauben - oder ich verdränge die Schmerzen, soweit es eben möglich ist, und brauche einen großen Teil meiner Lebensenergie für diese Verdrängung. Sie gestattet mir nichts anderes, als "auf Sparflamme" zu leben - gerade noch zu überleben. Eine echte Sinngebung von Schmerz und Leid könnte mir hingegen dazu helfen, den Weg zwischen diesen Gefahren hindurch zu finden - den Weg, der ins ganze, erfüllte Leben hinein führt. Meister Eckehart weist uns auf diesen Weg hin.
Körperliche Schmerzen sind Warnzeichen der Natur und dürfen nicht übersehen werden. Wir wissen, welche Katastrophe es für einen Leprakranken bedeutet, wenn sein Schmerzempfinden ausgeschaltet ist. Es gibt aber eine Ausnahme: Die Schmerzen, welche die Geburt begleiten, sind "natürliche", normale Schmerzen. Es ist eine merkwürdige Erfahrung für eine junge Mutter, wenn ihr die Hebamme sagt: "Ihre Wehen sind schön stark!" - während sie kaum weiß, wie sie die Schmerzen ertragen soll.
Das gleiche gibt es irgendwie auch im psychischen Bereich: Da gibt es Krisen, die einen neuen Lebensabschnitt einleiten, und diese Krisen sind mit heftigen inneren Schmerzen ("Geburtswehen") verbunden. Diese Schmerzen müssen durchgestanden werden, wenn das Neue, das werden will, sich Bahn bricht. Wer diesen Schmerzen ausweicht, dessen Leben stagniert und wächst nicht weiter.
Für Jesus scheinen diese Erkenntnisse selbstverständlich zu sein. Es wäre gut, vor Beginn dieser Woche einmal den Abschnitt aus dem Johannesevangelium zu meditieren, in dem Jesus die Trauer und die Angst, die auf die Seinen warten, mit Geburtswehen vergleicht: "Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Und auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. An dem Tage werdet ihr mich nichts fragen" (Joh 16,20ff). Nirgends verspricht Jesus den Seinen, dass ihnen Schmerz und Traurigkeit erspart bleiben sollen. Aber indem er diese Erfahrungen mit dem Geburtssymbol deutet, ermöglicht er die Verwandlung des Schmerzes zu einem sinnvollen, notwendigen Durchgangsgeschehen für das schon hier zu erwartende neue Leben. So wie die Frau die Schmerzen vergisst, wenn das neue Menschenkind zur Welt gekommen ist, so werden wir die Schmerzen des Übergangs vergessen, wenn wir unsere "neue Geburt" erleben. Im gleichen Sinne spricht das Neue Testament von Christus als dem "Erstgeborenen von den Toten" (Offb 1,5) - die Wehen seines Todes waren die Geburtswehen des neuen, unvergänglichen Lebens. Und wenn wir mit ihm "mitsterben", dann bekommen wir Anteil an seinem Leben, das unser menschliches Vorstellungsvermögen übersteigt.
Meister Eckehart hat diese und ähnliche Überlegungen tief in seinem Herzen bewegt. So findet er das Bild von der "Gottesgeburt im Menschen", das für die gesamte deutsche Mystik so wichtig bleiben wird. Mit diesem biblischen Bild beleuchtet er seine eigenen Erfahrungen, die er auch für andere als gültig erkennt: "Nun könntest du sagen: Ach, Herr, wenn es denn notwendig so sein muss, dass man aller Dinge entäußert und verödet sei, äußerlich wie innerlich..., dann ist es ein schwerer Stand, wenn Gott den Menschen so stehen lässt ohne seinen Halt, wie der Prophet sagt: 'Weh mir! Mein Elend ist verlängert' (Ps 119,5) - wenn Gott mein Verlassensein so verlängert, ohne dass er mir leuchtet noch zuspricht noch in mir wirkt, wie Ihr's hier lehrt und zu verstehen gebt. Wenn der Mensch in solcher Weise in einem reinen Nichts steht, ist es dann nicht besser, dass er etwas tue, was ihm die Finsternis und das Verlassensein vertreibe - dass ein solcher Mensch etwa bete oder lese oder Predigt höre oder andere Werke verrichte, die doch Tugenden sind, um sich damit zu behelfen? - Nein! Wisse fürwahr: Ganz still zu stehen und so lange wie möglich, das ist dein Allerbestes. Ohne Schaden kannst du dich von da nicht irgendwelchen Dingen zuwenden, das ist gewiss" (435,10ff).Es geht um das "Ausleiden" dessen, was Gott mir zumutet, um mich so von allen Hindernissen, die in mir sind, zu entleeren, dass ich bereit bin, Gott in mich aufzunehmen:"Nun könntest du sagen: ...Ist dies die beste Weise, wenn ich mein Gemüt in ein nichterkennendes Erkennen erhebe, das es doch gar nicht geben kann? Denn erkennte ich etwas, so wäre das kein Nicht-Erkennen... Soll ich denn also völlig in Finsternis stehen? Ja, sicherlich! Du kannst niemals besser dastehen, als wenn du dich völlig in Finsternis und in Unwissen versetzest. - Ach, Herr, muss es denn ganz weg, kann's da keine Wiederkehr geben? - Nein, traun, es kann da keine wirkliche Wiederkehr geben. - Was aber ist diese Finsternis, wie heißt sie, oder wie ist ihr Name? - Ihr Name besagt nichts anderes als eine Empfänglichkeitsanlage, die (indessen) durchaus nicht des Seins ermangelt oder entbehrt, sondern eine vermögende Empfänglichkeit, worin du vollendet werden sollst. Und darum gibt es kein Zurückkehren, sondern nur ein beständiges Vorwärtsdringen und Erreichen der Anlage. Diese (Anlage) ruht nimmer, bis sie mit vollem Sein erfüllt wird" (433,28ff). Und dann kann er in tiefster Gewissheit fortfahren: "Wisse, dass Gott wirken und (= sich) eingießen muss, sobald er dich bereit findet... wo und wann Gott dich bereit findet, muss er wirken und sich in dich ergießen" (435,31f.36f).
Ich glaube, diese Gedanken sind immer größer, als dass wir sie je ganz einholen können. Meine Mutter ist ihnen während ihres Studiums begegnet - und sie haben sie ihr langes Leben lang nicht mehr losgelassen. Während ich selbst diese Zeilen niederschrieb, hatte ich einige Erlebnisse, an denen mir hautnah deutlich wurde: Erst dann, wenn ich wirklich keinen Weg mehr sehe, ist dies eine Chance, mein Vertrauen allein auf Gott zu richten. Mir wird es immer deutlicher, dass Gott, der sich mir ganz schenken will, mich dazu auch ganz braucht. Und meine eigene Phantasie ist viel zu schwach, um alle die verborgenen Dimensionen zu entdecken, in denen ich mich diesem Vertrauen unbewusst und immer neu zu entziehen versuche. Die wahre Hingabe geschieht nie in der Theorie - sie ist nur möglich im konkreten Lebensvollzug. Wo ich den Sprung des Vertrauens wage - von mir weg hin zu Gott - aus dem Boot meiner Sicherheiten mitten ins grundlose Wasser -, dort beginnt und vollzieht sich dieser Weg. Dort sage ich nicht nur mit meinen Lippen, sondern mit meiner Existenz: Mein Gott, du bist größer als ich - mein Gott, du bist wichtiger als ich - mein Gott, du weißt besser als ich, was mir not tut.So vollendet Gott an uns, was er begonnen hat - und er tut das nicht ohne uns, sondern mit uns und durch uns selbst: durch unsere Liebe und durch unser Vertrauen, wo sie auch mitten in den dunkelsten Stunden unsere Finsternis manchmal von innen her verwandeln.