Auf dem Weg zu einem gereiften Mensch- und Christsein stehe ich mir selbst am meisten im Wege. Wo mich eine Leiderfahrung in ein ständiges Kreisen um mich selbst hineinzieht, hindert sie mich, weiterzugehen und zu reifen. Wie aber ist es möglich, diesen Teufelskreis des Selbstmitleids zu durchbrechen? Ich taste einmal meinen eigenen Erfahrungen nach und bitte Sie, in Ihrem Leben nach ähnlichen zu suchen: In meinem ersten Kontemplationskurs, an dem ich teilnahm, ahnte ich: Das tagelange Bemühen, immer neu alle Gedanken und Gefühle loszulassen, könnte mir dazu helfen, durch mein vordergründiges "Ego" (was immer mich "egozentrisch" und "egoistisch" macht) hindurchzubrechen: da könnte sich eine ganz neue Weite des Lebens auftun... Noch zwei weitere Begebenheiten kommen mir in den Sinn: Das eine Mal war es bei den Benediktinerinnen in Alexanderdorf, wo ich am Chorgebet der Schwestern teilnehmen durfte. Da es Feiertage waren, verbrachten wir bis zu sechs Stunden täglich in der Kirche: Mich einfach auf das einzulassen, was ich mitbetete - mit allen Höhen und Tiefen, die in den Psalmen angesprochen werden -, das "löste" mich in einer Weise von mir selbst, dass ich am Ende dieser Tage ein bislang unlösbares Lebensproblem "lösen" konnte. Ein anderes Mal erfuhr ich eine ähnliche Befreiung von meinen Problemen durch eine Aufgabe, die mich über Wochen hin ganz forderte. Der Abstand von mir selbst und meinen Emotionen ermöglichte die neue Sicht... Es hat etwas tief Befreiendes, sich selbst einmal ganz loslassen zu können!
"Du sollst nicht hoch anschlagen, was du empfindest; achte vielmehr für groß, was du liebst und erstrebst" (83,1ff).
Ich spüre in meinem eigenen Leben Situationen nach, wo mir etwas anderes so wichtig geworden ist, dass ich darüber einfach vergessen habe, an mich zu denken... (das kann eine tiefe Liebe sein, die Sorge für einen Menschen, die mich ganz fordert, oder eine große Aufgabe...).
Ich stelle mir ein großes Ölgemälde vor Augen: Ich muss Abstand nehmen, um das Bild sehen zu können...
"Wer sein Leben verliert..., der wird's finden" (Mt 10,39).
- Mein Gott, der mich befreien möge vom Kreisen um mich selbst -
Es gibt einen Ort in mir, von dem aus ich meine Gedanken und Gefühle "anschauen" kann. Wenn ich in einem ersten Schritt gelernt habe, meine Gefühle wahrzunehmen und zuzulassen - folgt der zweite Schritt: Ich bin nicht identisch mit meinen Gefühlen - ich kann sie wahrnehmen - und so mit ihnen "umgehen": Ich suche diesen "Ort" in mir, wo ich mit Gott "eins" bin, schaue und lasse mich von da aus anschauen mit meinen Gefühlen, Emotionen, Impulsen: "Ich sehe" - "ich werde gesehen"...
"Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben" (216,24ff).