"Niemand erkennt den Vater als der Sohn" (Mt 11,27). Aus diesem Wort Jesu schließt Meister Eckehart: "und deshalb: Wollt ihr Gott erkennen, so müsst ihr dem Sohne nicht allein gleich sein, sondern ihr müsst der Sohn selber sein" (227,22ff). Es ist ein logischer und zugleich atemberaubender Gedanke, dass wir "Sohn werden müssen", wenn wir den Vater erkennen wollen! Aber es liegt nicht außerhalb unserer Möglichkeiten. Unser "Sohnwerden" geschieht in dem Geheimnis, das Meister Eckehart als "Gottesgeburt" bezeichnet. "In principio", im tiefsten Grunde und Ursprung, hat mich Gott geboren als seinen eigenen Sohn - als Kind Gottes. Und nun darf ich selbst "den Sohn in mir gebären": "auf dass ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin" (258,21f). Vater und Sohn sind aufeinander bezogen, untrennbar, einer kann ohne den anderen nicht existieren: Der Sohn wird Sohn in seiner Beziehung zum Vater - in anderen Beziehungen ist er Kollege, Freund oder gar selbst Vater. Und ohne Sohn und Tochter gäbe es keinen Vater: "Der Sohn erst macht den Vater zum Vater", erklärt Meister Eckehart.
"Der Mensch soll so leben, dass er eins sei mit dem eingeborenen Sohne und dass er der eingeborene Sohn sei" (205,8f)."Zweifellos liebt niemand, der nicht Gottes Sohn ist, Gott genugsam und lauter" (124,11).
Meister Eckehart versucht, den unbegreiflichen Gedanken, dass ich selbst Gott in mir gebären kann, am Bild des Echos deutlich zu machen: 'Gleichsam so, wie wenn einer vor einem hohen Berg stünde und riefe: 'Bist du da?', so würde der Widerschall und -hall zurückrufen: 'Bist du da?'. Riefe er: 'Komm heraus!', der Widerhall riefe auch: 'Komm heraus!'" (258,21ff)
Indem ich "Gott in mir gebäre", bin ich Echo des zeitlosen Geschehens, dass Gott seinen Sohn gebiert: Ich meditiere das Symbol des "Echos"...
"Niemand erkennt den Vater als der Sohn" (Mt 11,27).
- Mein Vater, als dessen Kind ("Sohn") ich wahrhaft leben darf -
Ich erinnere an das Bild des inneren Spiegels, in dem sich die Sonne spiegelt - in diesem Spiegel schaue ich den Vater - und indem ich mich ihm hinhalte, werde ich zum "Kind Gottes", zum "Sohn" geprägt: "Du prägst mich" - "ich werde geprägt"...
"Gott wirkt alle seine Werke darum, dass wir der eingeborene Sohn seien" (213,30ff)."Das Werk (der Sohnesgeburt) ist (Gott) so eigen, dass niemand als der Vater es zu wirken vermag. In diesem Werke wirkt Gott alle seine Werke... Wenn Gott dieses Werk, das seine Geburt ist, in der Seele wirkt, so ist (diese) seine Geburt sein Werk, und die Geburt ist der Sohn. Dieses Werk wirkt Gott im Innersten der Seele... und auch die Seele selbst kann nichts weiter dazu tun, als es zu erleiden. Es gehört einzig Gott zu" (376,32ff).