Nur wenige Meter Höhenunterschied verändern die Dimensionen. "Mit jedem Schritt, den ich aufwärts steige, wird mir das, was zurückbleibt, kleiner, ferner und unbedeutender." Dieser Satz formte sich in mir während einer Wanderung in der Hohen Tatra, wo wir beim Aufstieg auf einen Sattel beobachteten, wie der See, die Hütte und die Menschen unseres Ausgangspunktes bei jeder Rückschau kleiner und kleiner wurden. Und dort erlebten wir in seltener Deutlichkeit: "Je höher ich steige, desto weiter wird die Aussicht". Das gilt wohl für das ganze Leben: Je mehr ich Abstand bekomme, desto besser kann ich das Einzelne in das Gesamtbild einordnen, kann ich das Besondere als Teil eines größeren, umfassenderen Ganzen erkennen oder doch mindestens erahnen.
In der psychotherapeutischen Arbeit hat man seit langem erkannt, dass es bei Menschen, die sich nach einem erfüllten und ganzheitlichen Leben sehnen, immer wieder Blockaden gibt. Diese versperren ihnen den weiteren inneren Weg, solange sie sich davon nicht lösen. Man spricht von "Fixierungen", die sich wie ein unübersteigbarer Berg vor einem Menschen auftürmen, wenn sich sein Blick und sein ganzes Begehren nur noch auf eine Sache richten. (Vgl. dazu: F. Urbina, "Die dunkle Nacht".) Unsere Märchen gebrauchen das Bild des Berges, der abgetragen werden muss, ehe der Weg weitergehen kann. Nur wo ich mich von solchen Fixierungen löse, werde ich frei, das Ganze und das jeweils Neue in mich einzulassen.
Auf dem geistlichen Weg warnen die Meister und Lehrer einhellig vor Ähnlichem: Wohl erfährt der Mensch immer wieder einmal besondere Gnadenstunden, in denen ihm Gott in besonderer Weise aufscheint. Manchen solchen Erfahrungen eignet eine besondere Transparenz für Gott. Das ist etwas Wunderschönes - doch die Gefahr ist groß, dass ich mich daran festhalte, mich darauf fixiere - und nicht mehr offen bin für Neues, Größeres. Oft lebe ich dabei nur noch in der Vergangenheit und verpasse das "Jetzt", in dem Gott mir neu begegnen möchte.Als Kind schaute ich einmal in den Sternenhimmel und hatte plötzlich die Vorstellung, jeder Stern sei ein kleines Guckloch in das Himmelsgewölbe, durch den der ganze Glanz, der den Raum dahinter erfüllt, ein wenig hindurchleuchtet: Könnte das nicht ein Bild sein für besondere Gnadenerfahrungen unseres Lebens? Dort scheint etwas von der Herrlichkeit Gottes hindurch in unseren Raum und in unsere Zeit - aber Gott ist nicht nur dort - nicht nur an diesem Ort, in dem bestimmten Menschen, in der besonderen Aufgabe - wo ich ihn deutlich erlebt und erfahren habe. Nein, er ist überall, nur an dieser Stelle hat er einmal ein wenig von seiner Herrlichkeit hindurchscheinen lassen, um uns spürbar zu zeigen, dass er an jedem Ort, in jedem Menschen, in jeder Aufgabe ebenso "anwest" wie dort, wo er sich mir so deutlich zu erkennen gab. In solchen Gnadenstunden leuchtet die eigentliche Wirklichkeit auf, die normalerweise unserer Erfahrung verborgen ist...
Um das Ganze, das "Eine" zu ergreifen, gibt es keinen anderen Weg, als immer neu das "Einzelne", das "Zerteilte", das "Gesonderte" zurückzulassen, loszulassen. Meister Eckehart zeigt auf, dass in jedem Mich - Festhalten an solchem Einzelnen immer ein Stück falsche Ich-Bindung, falsches Ego steckt. Nur im Lassen erreiche ich eine höhere Warte, die mir die neue, die weitere Sicht ermöglicht. Nur so wird der Raum frei, dass ich meinen Gott in allen Dingen finden kann. Und das konkrete Alltagsleben, wie ich es täglich erlebe, wird dabei zum Übungsfeld der Gelassenheit.Aus diesem Grunde spricht die geistliche Tradition in vielen Varianten von der Notwendigkeit, mich von Einzelnem zu entleeren, um Gott in seiner Fülle Raum zu geben. Das ist nötig - nicht nur für ein gelingendes menschliches, sondern ebenso für ein gelingendes christliches Leben. Die Ausdrücke früherer Zeiten sind uns oft fremd, die Sache aber ist uns hautnah: Die Notwendigkeit, uns von dem Allzuvielen, das uns ständig an- und ausfüllt, nicht beherrschen zu lassen, ist wohl selten so aktuell gewesen wie in unserer Zeit mit ihrer unglaublichen Reizüberflutung. Lassen wir uns durch dieses Dickicht hindurchführen, indem wir auf alte und erprobte Erfahrungen der Christenheit zurückgreifen, die Meister Eckehart besonders klar gesehen hat. Es ist Gottes große Liebe, wenn er sich wünscht, dass wir zu einem vollen und wahren Leben kommen. Falsch wäre es deshalb, mich an einzelne Erlebnisse in irgendeiner Weise zu binden, mich daran festzuhalten. Wenn das Loslassen an irgendeiner Stelle nötig ist, dann ist es hier der Fall.
Mit dem eben Gesagten ist nicht gemeint, dass für Meister Eckehart alle Dinge, die wir erleben können, unterschiedslos auf einer gleichen Ebene liegen: "Wenn man von 'Gleichheit' spricht, so meint man (damit) nicht, dass man alle Werke als gleich erachten solle oder alle Stätten oder alle Leute. Das wäre gar unrichtig, denn Beten ist ein besseres Werk als Spinnen und die Kirche eine würdigere Stätte als die Straße. Du sollst jedoch in allen Werken ein gleichbleibendes Gemüt haben und ein gleichmäßiges Vertrauen und eine gleichmäßige Liebe zu deinem Gott und einen gleichbleibenden Ernst. Traun, wärest du so gleichmütig, so würde dich niemand hindern, deinen Gott gegenwärtig zu haben" (59,27ff). Die "Dinge"* in sich sind durchaus unterschiedlich in ihrem Wert - aber hier geht es nicht um die "Dinge", sondern um mich, wie ich mit ihnen umgehe. Und das hängt entscheidend ab von meiner Sicht: Dass ich Gott an mancher Stelle "mehr" finde als an anderer, das liegt vor allem an meiner unterschiedlichen Offenheit für ihn - und die ist abhängig von der "Ebene", von der aus ich die "Dinge" anschaue. Es gibt die Ebene, wo mir Gott immer mehr in allen Dingen aufleuchtet. Dass ich lerne, mich immer müheloser und selbstverständlicher auf diese Ebene begeben zu können, ist der tiefste Sinn der täglichen Kontemplationsübungen.