Es ist eine biblische Wahrheit, dass uns Christus selbst in jedem Menschen begegnen will. Auch hier kann es sein, dass mir diese Wirklichkeit einmal blitzartig aufleuchtet. Die Mönchstradition spricht davon, dass ein geistlicher Vater "Leben zeugen" kann, dass da ein Funke überspringt - und neues Leben im Schüler erweckt. Solche Augenblicke sind unvergesslich. Aber dann kommt alles darauf an, dass dieses Leben wirklich zum eigenen Leben des Schülers wird, dass er nicht auf die Dauer "von außen her", nämlich vom geistlichen Vater her lebt, sondern aus seinem eigenen Inneren. Eine gesunde Ablösung zum eigenen Leben zur rechten Zeit ist unbedingt nötig. Menschen können ihre Verbindung zu Gott verlieren, weil ein bestimmter Mensch für sie der Weg zu Gott war.Meister Eckehart spricht noch einen anderen Gedanken an, der uns von innen her befreien kann von jeder solchen einseitigen Bindung: Es gibt etwas im Grunde unseres Seins, wo wir Menschen alle miteinander verbunden sind - untereinander und mit Gott. Was oder wen immer ich loslasse um Gottes willen, macht in mir den Raum frei, wo ich alles in Gott reichlich wiederfinde. In Gott finde ich nicht nur das Gute dieses einen Menschen, den ich "gelassen" habe, sondern dort finde ich das Gute aller Menschen überhaupt - und dieses gehört nun mir, als mein eigen...
"Alle Liebe dieser Welt ist gebaut auf Eigenliebe. Hättest du die gelassen, so hättest du die ganze Welt gelassen" (185,10ff).
"Menschen sind Brücken zu Gott. Diese Brücken können jederzeit abgerissen werden".
Dieses Wort sagte mir vor vielen Jahren ein Seelsorger, und ich muss es immer wieder neu buchstabieren...
"Besser, sich zu bergen beim Herrn, als auf Menschen zu bauen" (Ps 118,8).
- Mein Gott, der mich frei machen möge von der Bindung an Menschen, um ganz frei zu sein für die Menschen -
Ich meditiere einen Menschen und versuche, die Ebene zu erreichen, wo Gott uns alle als Menschen miteinander verbunden hat: "Du - mein Gott"... Das kann ich zuerst im Blick auf einen Menschen tun, der mir "Brücke zu Gott" geworden ist - und dann im Blick auf einen anderen, der es mir schwerer macht, Gott in ihm zu finden...
"Sicherlich wage ich in Gottes Wahrheit und bei meiner Seligkeit zu sagen, dass der, der um Gottes... willen Vater und Mutter, Bruder und Schwester oder was es sei, verlässt, das Hundertfache empfängt, auf zweierlei Weise: die eine Weise ist die, dass ihm sein Vater, seine Mutter, Bruder und Schwester hundertfach lieber werden, als sie es jetzt sind. Die andere Weise ist die, dass nicht nur hundert, sondern alle Leute... ihm ungleich lieber werden, als ihm jetzt von Natur aus Vater, Mutter oder Bruder lieb sind. Dass der Mensch dessen nicht gewahr wird, das kommt einzig und allein daher, dass er noch nicht lauter nur um Gottes und der Gutheit willen allein gänzlich gelassen hat... alle Dinge" (112,11ff).
(Diese Worte haben das Ordensleben im Blick, ich muss sie für mich auf mein Leben übersetzen.)