Als ein Mensch unserer heutigen Zeit muß ich weithin überhaupt erst einmal gewisse Voraussetzungen schaffen, damit ich das Ziel in meinen Blick bekommen kann. Nicht nur unser äußeres Leben ist oft einseitig geworden, auch unserem geistlichen Leben fehlen oft Voraussetzungen, die für Menschen früherer Generationen selbstverständlich waren. Darum bemühen wir uns in dieser ersten Woche, etwas von diesen Voraussetzungen in uns wieder lebendig werden zu lassen. Schauen wir wieder zuerst auf den bildhaften Vergleich:
Gleichen wir nicht oft Menschen, welche als Kinder einmal im Hochgebirge ihre Heimat hatten - dann aber mußten sie so lange fern von den Bergen leben, dass sie schließlich kein Heimweh nach den Bergen mehr fühlten. Sie mußten diesen Schmerz einfach verdrängen, weil er zu heftig in ihnen gebrannt hätte. Wenn sie dann aber eines Tages die Berge wieder sehen, mag die Sehnsucht mit aller Wucht wieder aufbrechen. Und solch ein Mensch wird Augen und Herz weit öffnen, um die ganze Herrlichkeit der Hochgebirgswelt tief in sich einzulassen. Und vielleicht meldet sich dann bald auch ein Wunsch, nun wirklich loszugehen und die Berge zu ersteigen. Nicht jeder wird diesen Wunsch spüren, denn eine Bergwanderung kostet Mühe, Kraft und Ausdauer. Wer sich innerlich nur auf einen kleinen Spaziergang einstellt, bringt falsche Voraussetzungen mit und wird bald ermüden. Wer aber die Freude am Bergsteigen in sich spürt, bringt auch den Willen auf, diese Belastungen zu ertragen. Am Ziel werden alle Mühen vergessen sein! Und vielleicht muß ich auch etwas davon spüren, dass ein Berg sich mir erst dann wirklich schenkt, wenn ich ihn selbst erwandert und erstiegen habeOb ich mich auf diesen "Weg" begebe, steht mir frei. Aber nur, wenn ich es tue, werden sich mir der Sinn und die Freude dieses Weges mehr und mehr erschließen.
Stellen wir uns einmal vor: Wenn Gott wirklich Gott wäre, der jeden Menschen nach seinem Bild und auf sich hin erschaffen hat: Könnte es nicht sein, dass auch in jedem von uns tief verborgen und verdrängt eine Sehnsucht nach diesem Gott lebt, bei dem wir einmal unsere eigentliche Heimat hatten - eine Sehnsucht, derer wir uns meistens nicht mehr bewußt sind? Wenn das so wäre - dann hieße die entscheidende Frage: Scheuen wir den Schmerz und bleiben weiter ängstlich im "Flachland", jede Erinnerung an die "Berge" meidend? Oder: Muten wir uns zu, wieder einmal den Blick auf die Berge zu werfen - auch wenn das zuerst mit Schmerzen verbunden sein könnte?... Aber es wären Schmerzen, die uns den Weg zu unserer wahren, eigentlichen Heimat wieder öffnen könnten!Und dann geht es nicht um die Beschaffung einer äußeren Wanderausrüstung, wie sie ein Bergsteiger braucht, sondern um Grundhaltungen im geistlich-spirituellen Leben.
Wen es zu solch einer "geistlichen Wanderung" lockt, wird sicher in seinem Gebetsleben wenigstens ahnungshaft hier und da einmal etwas davon geschmeckt und gekostet haben, was Gott alles zu schenken vermag. Vielen Menschen "gibt" heute das Beten anscheinend nichts mehr. Es mag vielerlei Gründe dafür geben. Meister Eckehart bietet uns eine tiefgreifende Umpolung unserer bisherigen Einstellung zum Gebet an - und diese veränderte Einstellung kann bewirken, dass wir ahnungshaft neue Erfahrungen beim Beten machen: Erfahrungen, die uns etwas von der Wirklichkeit Gottes ahnen, vielleicht sogar schmecken und spüren lassen. Meister Eckehart gibt seine Hinweise zum Beten aus seinem Erfahrungswissen heraus, dass es nicht schwer ist, Gott zu finden, wollten wir uns nur in der rechten Weise auf ihn einlassen.
So ist es das Anliegen dieser ersten Woche, darauf zu hören, welche Wege des Betens uns Meister Eckehart anbietet, damit wir nicht bei uns selbst stehenbleiben, sondern Gott selbst begegnen, ja ihn wahrhaft "finden" können.
Nicht nur auf dem Wege zum erfüllten Menschsein geht es darum, mehr und mehr zur Ganzheit ("Integration") zu finden, verschüttete und verdrängte Dimensionen unseres Daseins neu zu integrieren - sondern das gleiche gilt auch für unseren geistlichen Weg. Manches Angebot dieser ersten Woche könnte unsere bisherige Gebetsform vielleicht ergänzen oder auch das eine oder das andere umpolen. Auf keinen Fall soll ich alles, was bisher mein geistlich-spirituelles Leben ausmachte, über Bord werfen, sondern es geht darum, es um notwendige Dimensionen zu ergänzen, die vielleicht mehr oder weniger verlorengingen. Nur im Horchen auf seine eigenen inneren Impulse und Erfahrungen wird der einzelne jeweils erspüren können, was für ihn wichtig sein könnte.Wir wollen in dieser ersten Übungswoche nur erst einmal "die Saiten des Instrumentes anzupfen", damit wir eine Ahnung bekommen, wie es vielleicht einmal klingen könnte.
Alles, was in dieser Woche angesprochen wird, wird sich im Laufe des Übungsweges vertiefen und festigen können - auf vieles werden wir noch näher und ausführlicher in anderem Zusammenhang eingehen. Das ist beim Meditieren immer so: da geht es nicht folgerichtig Schritt um Schritt vorwärts, sondern meditierend umkreist man ein Geheimnis, das sich immer tiefer enthüllen kann. Also seien Sie nicht beunruhigt, wenn Sie meinen, die Themen an den einzelnen Tagen nicht ausschöpfen zu können, das ist einfach nicht möglich. Was wachsen soll, wird mit der Zeit wachsen, bei dem einen an der einen, beim anderen an einer anderen Stelle.