Einüben in Grundhaltungen
und Grundvollzüge geistlichen Lebens
1. Vom Einüben in die Empfangsbereitschaft
2. Vom Einüben des Innehaltens und Verweilens
3. Vom Einüben des Schauens auf das Wesentliche
Wer beim Beten entdeckt, wie wenig er seine Gedanken sammeln kann, der wird vielleicht durch diese Entdeckung darauf aufmerksam, wie „zerstreut“ sein Leben überhaupt ist, ja, daß seine Fähigkeit zur Konzentration und „Sammlung“ bereits in beängstigendem Maße verkümmert ist. Verkümmerte, verschüttete oder auch nur gefährdete Dimensionen unseres menschlichen Lebens wieder zu erwecken und zu vertiefen, darum geht es in diesem ersten Hauptteil. Im Blick sind menschliche Grundhaltungen dem Leben gegenüber, die auch für jedes geistliche Leben Voraussetzungen sind. Für ein gesundes Wachstum dieses Lebens und seine Entfaltung haben sie entscheidende Bedeutung. Wie ich lesen können muß, um aus dem Umgang mit der Bibel zu leben, so muß ich die Fähigkeit haben, innerlich still und gesammelt zu sein, um die leisen Impulse zu vernehmen, durch die Gott mein Leben berührt. Ich muß mich darin üben, empfangsfähig zu werden, innezuhalten und immer neu auf das Wesentliche zu schauen. Dazu kann die Meditation helfen.Das vielschichtig verstandene Wort Meditation wird in diesem Kurs verstanden als eine jedem Menschen gegebene Fähigkeit, das, was ihm begegnet, mit seinem ganzen Sein wahrzunehmen und in die Mitte seines Wesens einzulassen. Nicht als ein Beherrschender, der alles „in den Griff bekommen“ will, begegnet der Meditierende dem Leben, sondern als ein Empfangender, Aufnehmender, Teilnehmender . In der Meditation öffne ich mich der Wirklichkeit in ähnlicher Weise, in der ein kleines Kind ein gut erzähltes Märchen in sich aufnimmt: „Gebannt“ lauscht es, hockt auf dem Boden, und seine Augen „hängen“ am Mund des Erzählenden. Dabei verrät das kleine Gesicht, wie tief es das Gehörte „in sich einläßt“ und an dem Schicksal der Märchengestalten „teilnimmt“ - wenn Tränen in den Augen aufsteigen, wenn über das Gesicht ein helles Aufleuchten gleitet, oder wenn ein tiefes erleichtertes Aufatmen zeigt, daß alles seinen guten und rechten Weg gegangen ist.
Diese Fähigkeit, die Welt auf solche meditative Weise empfangend wahrzunehmen, ist heute bei vielen Menschen gefährdet - und damit eine wesentliche Dimension des Menschseins überhaupt. Das zeigt sich in verschiedenen Weisen, und das Anliegen, diese Dimensionen wiederzugewinnen, bestimmt das Übungsangebot dieses ersten Hauptteils.
Nicht selten spricht man heute von der „Kopflastigkeit“ des Menschen. Sind wir doch alle von Kindheit an daran gewöhnt, Fragen und Ansprüche des Lebens zuerst vom Verstand her anzugehen. Nun sind der Verstand und der Geist des Menschen wahrhaftig ein hoher Wert, so einzigartig, daß die Bibel des menschlichen Geist als Symbol benutzt, wenn sie vom „Heiligen Geist“ spricht. Wo jedoch der Geist als ratio einseitig überbetont wird, dort verkümmern mehr und mehr andere wesentliche Dimensionen menschlichen Daseins: etwa die Phantasie, die Spontaneität, die emotionalen Kräfte, die Fähigkeit intuitiven Erfassens - und damit die Möglichkeit und Bereitschaft, sich dem Leben gegenüber als Empfangender, Beschenkter zu fühlen. Haben wir in unserem Lebensgefühl von der Technik so tief geprägten Menschen doch weithin vergessen, daß entscheidende Dinge im Leben niemals „gemacht“, sondern immer nur „empfangen“ werden können: Wir brauchen nur daran zu denken, daß echte Liebe immer ein nie zu verdienendes Geschenk bleibt oder daß sich der Schlaf demjenigen sofort entzieht, der ihn erzwingen will.So bietet die erste Woche verschiedene Hilfen an, die dazu dienen können, die Grundhaltung der Empfangsbereitschaft zu vertiefen oder neu zu gewinnen. Für manchen bedeutet das eine innere Umpolung, die nicht in einem Anlauf gewonnen werden kann. Wer nicht auf solche Hilfe angewiesen ist, sei dafür von Herzen dankbar.
Ein weiteres, das eng damit verbunden ist, bestimmt den Inhalt der zweiten Übungswoche: In einer Zeit, in welcher D-Züge mit einer Geschwindigkeit von einigen hundert Stundenkilometern an uns vorüber rasen, in der in allen Lebensbereichen versucht wird, soviel wie möglich in kürzester Zeit unterzubringen, ist der Wert des Innehaltens und des Verweilens oft ganz aus dem Blickfeld verschwunden. Das echte Ausruhen, das Auspendeln-lassen und das Träumen, das Genießen und Auskosten kommen viel zu kurz. Der Mensch aber braucht zu seiner inneren (und auch äußeren!) Gesundheit einen echten Rhythmus zwischen Bewegung und Ruhe, Nach-außen-Streben und Zu-sich-Zurückfinden, Aufnehmen von Neuem und Verarbeiten des Aufgenommenen. Wo dieser Rhythmus gestört ist, ist das Leben gestört. Deshalb muß ich es bewußt wieder üben, bei einer Sache zu verweilen: Im Staunen, im Horchen, im Mich-Einfühlen, im „Verkosten“ - ungeachtet dessen, was ich anscheinend an Wichtigem in dieser Zeit verpassen könnte. Die ständige Angst, etwas zu verpassen, macht es uns oft auch so schwer, eine zusammenhängende Zeit am Tage für Gott frei zu halten, in der andere Arbeit liegenbleibt. Meister Eckehart sagt: „Mit Gott kann man nichts versäumen“ - aber das muß ich im Glauben wagen, um zu erfahren, daß es stimmt: daß Meditationszeit nicht verlorene, sondern im Gegenteil gewonnene Lebenszeit ist.
Und schließlich muß ich immer wieder üben, mich auf das Wesentliche einzulassen. Dazu muß ich dieses unterscheiden können von dem, was unwesentlich ist. Unterscheidungsfähigkeit ist Voraussetzung für Entscheidungsfähigkeit, die ein Grundpfeiler geistlichen Lebensvollzuges ist. Wo ich meine Symbolfähigkeit bewußt übend vertiefe, lerne ich es wieder, allmählich immer müheloser alles mir Begegnende auf seinen wesentlichen Kern zurückzuführen. Solche Symbolfähigkeit macht jedes menschliche Leben reicher. Doch für mich als Christ ist sie Voraussetzung zum neuen Verstehen der Bibel, des Gottesdienstes, ja meines Lebens vor Gott überhaupt.Wie ich durch den regelmäßigen Umgang mit der Bibel zur echten Begegnung mit dem persönlichen Gott kommen kann, ist das Anliegen der dritten Übungswoche. Dabei sind Symbolfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit eng miteinander verwoben: Die Entscheidungsfähigkeit ist bestimmt durch die Wertmaßstäbe, die ich für mein Leben annehme - diese bekommen aber im christlichen Daseinsvollzug eine personale Dimension: mit meinen großen und kleinen Entscheidungen weiß ich mich unter den Augen Gottes, unter seinem Liebeswillen, wie er mir im Zeugnis der Bibel begegnet. Es ist wichtig, diesen Liebeswillen Gottes immer besser kennenzulernen, um mich für ihn entscheiden zu können - und gleichzeitig ist meine Entscheidung dafür unersetzlich, um ihn immer tiefer zu erkennen.