Wir kennen den Ausdruck, daß ich mich "satt sehen" möchte, sowie die bekannten Gedichtzeilen von Gottfried Keller: "Trinkt, ihr Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt." Daß meine geöffneten Augen ein Empfangsorgan für meine Seele sind, daß ich schauend empfangen kann, ist für viele Menschen ein fremder Gedanke. Wir beten häufig mit geschlossenen Augen und vergessen dabei, daß geöffnete Augen ein kostbares Empfangsorgan für die Seele sind. Verkündigungsbilder können die Heilswirklichkeit einer Botschaft tief in das Innere des Menschen eindringen lassen - wenn sie echte Verkündigung vermitteln. Dabei darf das Wort das Bild deuten und ergänzen. Hier soll deshalb als Ergänzung zu dem, was jedem einzelnen schon beim Meditieren der Dreifaltigkeits-Ikone eingefallen ist, der schon genannte Kunsthistoriker zu Wort kommen, dessen ganze Liebe dieser Rubljow-Ikone gilt, Viktor Lasarew: "In der Blüte seiner Schaffenskraft stehend, malte Rubljow sein bekanntestes Werk, die ‘Dreieinigkeit’ ... Mit großer Wahrscheinlichkeit ist als Datum der Ausführung das Jahr 1411 zu nennen ...
Die Rubljowsche ‘Dreieinigkeit’ gedacht für eine lange, intensive Betrachtung, zeigt weder Bewegung noch Handlung. In tiefem Schweigen sitzen die drei Engel auf niedrigen Sitzen. Ihre Köpfe sind leicht geneigt, ihre Blicke in die Ferne gerichtet ... Zentrum der Ikone ist die Schale mit dem Kopf des Opfertieres ..., die Schale (ist) als Vorbild der Eucharistie zu betrachten. Die Hände des mittleren und des linken Engels segnen die Schale. Diese Gesten liefern den Schlüssel, um die ... Symbolik ... aufzudecken. Der mittlere Engel ist Christus. In nachdenklicher Haltung, den Kopf nach links geneigt, segnet er die Schale und drückt damit seine Bereitschaft aus, sich zu opfern. Gott-Vater (der linke Engel), dessen Gesicht tiefe Trauer ausdrückt, ermuntert ihn dazu. Der Heilige Geist (der rechte Engel) wohnt der Szene ... als ‘Tröster’ bei. So ist hier ... das größte Opfer der Liebe ... dargestellt ... (und) der Sohn erklärt sich bereit, die Leiden auf sich zu nehmen, um die menschlichen Sünden zu sühnen ... Beginnt man bei der Betrachtung der ‘Dreieinigkeit’ in sie einzudringen, ist man vor allem von der ungewöhnlichen Vergeistigung der Engel überrascht ... [Jedoch] das Wundervollste in der Ikone Rubljows ist wohl ihr Kolorit. Sie wirkt auf den Betrachter vor allem durch den unvergleichlichen Klang ihrer Farben ... Man möchte die Farbskala der ‘Dreieinigkeit’ freundschaftlich nennen, denn sie bringt mit seltener Überzeugungskraft das freundschaftliche Übereinstimmen der drei Engel zum Ausdruck ... Rubljow hat seine Ikone in einem jener glücklichen Momente der Inspiration gemalt, die nur dem Genie beschert sind. Und es gelang ihm, ein Werk zu schaffen, das wir zu Recht als schönste russische Ikone und als eine der vollkommensten Schöpfungen der gesamten mittelalterlichen Malerei betrachten."

Andrei Rubljow - "Heilige Dreifaltigkeit" (Bildmeditation)

Ich warte, welche im Bild anschaubare Wirklichkeit mich besonders "anspricht", und atme diese Wirklichkeit schauend in mich hinein - verweile schauend und atmend, um mich mehr und mehr durchdringen zu lassen ...