Karin Johne


Sinnvoll leben - mit Höhen und Tiefen 1

Immer wieder wird von Menschen heute die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt: "Warum lebe ich überhaupt?" Die Frage ist nicht neu. Bereits Meister Eckart hat sie vor 600 Jahren gestellt und beantwortet: "Leben hat kein Warum. ..."2  Und dennoch gibt es im Leben vieler Menschen „Höhenerlebnisse“, Glücksstunden, in denen niemand nach dem Warum des Lebens fragt.

Machen wir uns nicht zu selten bewusst,, welche unterschiedliche Qualität Leben haben kann? Es gibt Tage, die gewissermaßen „flach" sind, ohne alle Höhen oder Tiefen. Wir sprechen dann gern vom "grauen Alltag". Dann aber gibt es wieder Tage oder Wochen, die so angefüllt sind mit Erlebnissen, dass sich mancher fragt: Ist das wirklich erst eine Woche her, seit ich das erlebt habe? Die Fülle der Ereignisse lassen solche Zeiten erscheinen, als seien mindestens doppelt so lang wie andere, „flache" Zeiten.

Steht es in unserer Macht, dem Leben mehr „Tiefe“ zu geben - und damit auch mehr „Höhen“ erleben zu können? Ich möchte hier absehen von schweren psychischen Krankheiten, die deshalb so schwer zu ertragen sind, weil es im Leben dieser Menschen nur „Tiefen“ zu geben scheint. Abgesehen davon aber darf man wohl sagen, dass im Leben eines einigermaßen gesunden Menschen Höhen und Tiefen korrespondieren - miteinander zusammenhängen. Wie oft habe ich in der Begleitung, wenn mir jemand von kostbaren Höhenerfahrungen berichtete, nach vielleicht vorhergegangenen Tiefen gefragt - und noch jedes Mal eine bejahende Antwort bekommen. Wer Höhen erleben will, muss auch Tiefen ertragen - eines lässt sich ohne das andere nicht haben. Aber noch keiner hat mir auf die Frage, ob er lieber ein flaches Leben ohne solche einschneidenden Erfahrungen leben möchte, mit „ja“ geantwortet!

Wünschen wir uns nicht manchmal einige Hilfen, die dazu beitragen könnten, dass unser Leben tiefer und damit reicher wird? Dann wäre es gut, einmal ins eigene Leben hineinzuspüren, wo wir selbst den Unterschied zwischen unerfüllten und erfüllten Zeiten unseres Lebens erfahren haben.

Das mag bei jedem anders aussehen. Mir ging schon als Kind eines Tages auf, dass ich den Weg zu meiner Geigenstunde auf zweierlei Weise gehen konnte: Entweder ich ging im letzten Augenblick von zu Hause weg und musste dann den ganzen Weg beinahe rennen. Die Zeit des Weges war eigentlich verlorene Zeit. Oder ich ging fünf Minuten früher weg, dann hatte ich unterwegs Ruhe, mir noch etwas anzuschauen oder ein paar Worte mit einer Freundin zu wechseln, die ich traf. Und mir wurde bewusst, dass ich in dieser Art zwar etwas länger brauchte, dafür war aber der ganze Weg für mich zur Lebenszeit geworden - während ich bei der ersten Weise wohl fünf Minuten gewonnen hatte - dafür aber den ganzen Weg „verloren“ hatte. Sicher hätte ich das damals nicht mit diesen Worten sagen können, aber Erfahrungen stehen ja immer vor der Möglichkeit, etwas in Sprache zu bringen.

Und heute noch erlebe ich das gleiche: Ich kann meine Blumen gießen und nur sehen, dass ich so schnell als möglich damit fertig werde. Oder ich tue das gleiche mit etwas Liebe, mit der Freude an den Blumen und dass ich sie pflegen darf - ohne dass ich dazu viel mehr Zeit brauche. Aber dies wird für mich zu einem Stück kostbarer Lebenszeit, die mir einfach verloren geht, wenn ich etwas nur schell deshalb tue, „weil es doch sein muss".

Tiefe des Lebens, erfüllte Lebenszeit ist als eng damit verbunden, dass ich das, was ich tue, ganz tue - und es versuche, mit Liebe zu tun. Das ist leider viel schneller aufgeschrieben und gelesen, als wirklich praktiziert - aber schon wenn ein Tag ein bis zwei solcher „Lichtpunkte" in sich trägt (im abendlichen Tagesrückblick scheinen sich diese Zeiten wirklich besonders hell abzuheben vom übrigen Tag), beginnt das ganze Leben ein Stück mehr zu leuchten.
Eine gute Hilfe dazu kann die „Vorausmeditation" eines Tages sein. Sie kann ihren Platz im Morgengebet haben: Einige Minuten kann ich im Rhythmus meines Atems beten: „Du gibst mir diesen Tag" - „um deine Liebe zu erfahren"... Dabei kann ich mir einige Situationen so lebendig als möglich vor Augen führen, die dieser vor mir liegende Tag aller Voraussicht nach mir anbietet - und ich schaue sie (und mich in ihnen) im Voraus an, ruhig und wartend, bis ich ahne, dass mich auch in diesem Geschehen ein Strahl der Liebe Gottes berühren will.

Oder ich habe vielleicht auch eine schwierige menschliche Begegnung vor mir - in mir ist Angst, ich könnte zur Seite gedrückt werden, nicht fähig sein, meine Anliegen recht darzustellen, der andere oder die anderen könnten mein Anliegen zu wenig achten und beachten: Auch dann kann ich in einer Vorausmeditation bereits vorher in diese Situation hineingehen mit dem Wiederholungsgebet: "Mit Deiner Würde, Herr" - "bin ich gekrönt"...

Diese Vorschläge sollte jeder so für sich abwandeln, dass sie für ihn und seine konkrete Lebenssituation passen.

Damit sind wir nun bereits mitten drin in dem Blick auf unser Beten. Gibt es nicht auch in unserem Gebetsleben (sofern wir von einem solchen sprechen können) Zeiten, in denen uns unser Beten „flach" vorkommt - und dann (hoffentlich!) auch wieder Zeiten tieferen Betens?
Es geht hier nicht darum, dass es auf jedem Gebetsweg Zeiten der (scheinbaren) Fülle und Zeiten der (scheinbaren) Leere und Trockenheit gibt und geben muss. Davon sprechen alle geistlichen Meister. Wer morgens den Vers aus Psalm 95 betet: „Sein ist das Meer, das er gemacht hat, das trockene Land, das seine Hände gebildet", betet, wird dabei an diesen gesunden Rhythmus erinnert: Sowohl Zeiten der Wüste als auch Zeiten der Überfülle können Orte sein, in denen mir Gottes Liebe begegnen will.

Hier geht es noch um etwas anderes: Ebenso wie das Leben kann auch das Beten allein dadurch verflachen und seine Tiefe verlieren, wo ich - ähnlich wie oben vom Leben gesagt wurde - mir keine wirkliche Zeit für das Beten nehme (kostbare Lebenszeit!), sondern das Gebet nur als eine Pflicht absolviere. Die Gefahr ist größer, als ich mir gemeinhin bewusst bin.
Auch hier kann es eine Hilfe sein, wenn ich mir vor dem Beten bewusst mache, dass ich jetzt in einen heiligen Raum eintreten will, in dem mich Gott mit seiner Liebe erwartet - ein „Raum", in dem ich wahrhaft und wirklich zu Hause sein darf. Dabei kann es geschehen, dass ich mich beim Beten für etwas öffne, das mich tief froh machen kann. Immer wieder schrieben mir Teilnehmer von Briefkursen, die sich zu Beginn des Kurses dazu bereiterklärt hatten, täglich 20 - 30 Minuten in die Gebetsstille vor Gott zu gehen, dass sie sich den ganzen Tag über bereits auf diese Zeit gefreut hätten.

Und dann werden wir vielleicht auch ganz neu entdecken, dass sich „Beten" nicht nur auf die ausdrückliche Zeit des Gebetes beschränken kann. Wenn ich - um das noch mal aufzunehmen - meine Blumen mit Liebe und Freude gieße, dann kommt mir mitten in diesem Tun ein Strahl der Liebe großen Gottes entgegen, die die Blumen blühen lässt und mir die Fähigkeit gibt, mich an diesem Blühen und diesem Duft zu freuen! Und dann wird das Tun selbst zum Gebet - auch ohne ausdrückliche Worte, nämlich zur Begegnung mit der Liebe und Schönheit Gottes und meiner gemäßen Antwort darauf: Blumen brauchen eben Wasser und keine Gebetsworte!

So wird die Welt durchsichtig auf das Geheimnis Gottes hin, von dem unsere Seele lebt und ihre Erfüllung findet. Und das kann nicht nur beim Blumengießen geschehen, sondern ebenso beim Fensterputzen oder beim Autofahren, beim Arztbesuch oder beim Spielen mit einem Kind.
Welchen Frieden können selbst manche Menschen ausstrahlen, die schwer krank sind, aber ihre Krankheit angenommen haben und offen bleiben für das Geheimnis Gottes und seiner Liebe. So kann die kleine Therese kurz vor ihrem Tod - unter schweren Schmerzen - sagen, dass Gott ihr täglich kleine Zeichen seiner Liebe sendet, sei es durch einen Sonnenstrahl oder durch den Gesang eines Vögleins.

Welche Möglichkeiten eröffnen sich in dieser Perspektive für ein erfülltes Leben, das eigentlich keinen „grauem Alltag" mehr zu kennen braucht: Denn alles kann zum Gebet, zum Empfang der Liebe Gottes und zur Antwort auf diese Liebe werden, die mich ins Leben gerufen hat. Könnte nicht unser ganzes Leben immer wieder den Charakter eines Festes bekommen - zu dem uns Jesus einlädt?

Karin Johne
1 Veröffentlicht in „Zentrum“, Salzburg 1997 unter dem Titel: „Leben und Beten - ein tiefer Zusammenhang"

2 „... und so, wie das Leben um seiner selbst willen lebt und kein Warum sucht, um dessentwillen es lebe...“  Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes, S.371


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