Karin Johne

Einkehrtage / Arbeit der Stille in der ehemaligen DDR -
Erfahrungen mit Meditationstagen und Exerzitien *

Überblick:
Vorbemerkungen.
Die Zeit des Suchens.
Unerkannte "Einzelexerzitien"
Erste Versuche des Weitergebens
Die Zeit des Kennenlernens und des Lernens.
Meditationskurse für Schüler/innen
Erste Exerzitienerfahrungen
Erste eigene Versuche.

Begegnung mit der Arbeit in Westdeutschland.
"Geistlicher Übungsweg".

At-home-retraits
Briefkurs
Innerer Prozess bei den Briefkursteilnehmer/innen
Äußere Form des Briefkursangebotes
Begleiterausbildung.
Suchen nach Gruppen geistlichen Austauschs
Weitere Briefkursarbeit.
Weitere Aspekte.

Vorbemerkungen.
Als ich im Jahre 1978 zum ersten Mal bei einer kirchlichen Dienstreise die Möglichkeit hatte, während einer ökumenischen Meditationsleitertagung in Bethel/Bielefeld Menschen kennen zu lernen, welche in der Meditations- und Einkehrarbeit seit vielen Jahren tätig waren - und die ich z.T. schon aus ihren Büchern kannte, kam ich mir ungeheuer klein und unwichtig vor. Dieses Gefühl hatte ich zu Beginn der Tagung nicht nur für mich persönlich, sondern ebenso für die damals schon gelaufenen Ansätze einer Arbeit der Stille in unserem kleinen Land der DDR. Was konnte ich in diesen Kreis von Experten schon einbringen? Doch bereits im Laufe weniger Stunden änderte sich das Bild für mich. Ich hatte weniges zu sagen, aber dieses Wenige war den anderen wichtig - und am Ende der nicht ganz dreitägigen Tagung war mir sicher: Wir hatten in unserer Arbeit mit Meditationskursen, Retraiten und Exerzitien in unserem abgeschnittenen Land eine Arbeit geleistet, die sich durchaus sehen lassen konnte. Wir hatten etwas Gutes und Eigenes einzubringen.

Diese Erkenntnis bestätigte sich im Laufe der folgenden Jahre, in denen ich noch einige Male an ähnlichen Tagungen teilnehmen durfte, und bald auch angefordert wurde, sowohl in Zeitschriftenartikeln als auch und in eigenen Vorträgen einzubringen, was in etwa 20 jähriger Erfahrung in der Arbeit der Stille in der DDR gewachsen war. Besonders bei der Reaktion auf Vorträge und Exerzitienkurse, die ich in Österreich, in der Schweiz und in Westdeutschland halten durfte, spürte ich, dass unsere Entwicklung der westlichen Entwicklung gegenüber einen unschätzbaren Vorteil in sich barg: Durch unser relatives Abgeschirmtsein konnten wir uns immer auf das wirklich Wesentliche beschränken, ohne uns ständig mit den neu anbrandenden "Wellen" neuer spiritueller Angebote herumschlagen zu müssen. Anderseits war die Abschirmung nicht so undurchlässig, dass wir nicht an der wirklich entscheidenden Literatur Anteil bekommen hätten. Diese Bücher gingen dann von Hand zu Hand - und wurden von hungrigen Seelen (ich darf es mal so sagen...) intensiv gelesen und ins Leben umgesetzt. Gleichzeitig bekamen wir auch immer wieder wertvolle Hilfe durch westdeutsche Menschen, die sich nicht abhalten ließen, über die Grenze zu kommen und uns an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Ihnen alles sei hier ein von Herzen kommendes "Danke" gesagt.

Gleichzeitig ist aber auch noch etwas anderes im Voraus zu sagen: Ob es ein Versagen unsererseits war oder ob es sich aus der Lage der Dinge ergab, wage ich heute noch nicht zu beurteilen. - Wir - eine Handvoll Leute, die sich der "Aufgabe der Stille" in der DDR verpflichtet sahen- , gingen jeder eigentlich weithin unseren eigenen Weg. Ein lockerer Zusammenhalt bestand durch persönliche menschliche Kontakte, durch die jährlichen Treffen unter dem Dach der Inneren Mission in Berlin, durch die gemeinsame Zusammenstellung der Kursangebote und ähnliches - aber sonst war doch jeder recht auf sich selbst gestellt. Jede/r von uns suchte sich seine eigenen Möglichkeiten des Lernens, seiner weiteren Ausbildung, seine eigenen Lehrer- und nicht zuletzt: seine eigenen Häuser, in denen er seine Kurse halten konnte. Vielleicht lag darin auch gerade die Vielfalt und ein Stück des spontanen Reichtums unserer Retraitenarbeit begründet. So wird mein Bericht, wie ich ihn darstellen kann, ein Bericht meines persönlichen Weges sein, wie ich in die Retraiten- und Meditationsarbeit hineinwuchs - und was sich dann auf der Strecke ergab, die ich persönlich im Blick habe.


Die Zeit des Suchens.

Unerkannte "Einzelexerzitien"

Während sich in den frühen sechziger Jahren in Leipzig eine kleine Gruppe von jungen evangelischen Theologen zusammenfand, die sich von katholischer Seite (und auch z.T. von Anglikanern) in die ersten Schritte der Exerzitien/Retraiten einführen ließ, musste ich mir meinen Weg zuerst selbst suchen. Frauen waren damals in dieser Arbeit noch nicht erwünscht. Das verhalf mir dazu, meinem eigenen dringenden Bedürfnis nach Stille auf andere Weise nachzukommen, indem ich mir mit einem guten geistlichen Buch, einem Einzelzimmer, einer nahen Kapelle - und einem großen Wald jeweils einige Tage "Urlaub von der Familie" nahm.

Später entdeckte ich, dass ich hier meine ersten "Einzelexerzitien" gemacht hatte, ohne zu wissen, dass es so etwas gab. Aber die Erfahrungen kamen mir später sehr zugute. Ich befasste mich intensiv mit den "Meistern des geistlichen Lebens", vor allem mit den vorreformatorischen christlichen Mystikern. Und ich entdeckte sehr bald eine innere Verwandtschaft, welche die Entfernung von Zeit, Raum und Konfessionen hinter sich ließ.


Erste Versuche des Weitergebens

Bei ersten Versuchen des Weitergebens wurde mir deutlich, dass unter unseren Gemeindegliedern der Hunger nach Antworten in Fragen des geistlichen Lebens und des Gebetslebens groß war, dass es auch bei den "Meistern" auf viele dieser Fragen gute Antworten gab - dass aber diese Antworten zuerst einmal "übersetzt" werden mussten, um für ein heutiges Gemeindeglied unserer Kirche "verdaulich" zu sein.

Als zweites wurde mir sehr bald wichtig, dass die Erkenntnisse, die für mich selbst unsagbar wichtig waren, für andere Menschen überhaupt nicht diese Relevanz hatten wie für mich selbst. Das stellte meine so selbstverständlich als evangelische Theologin übernommenen Praxis der Verkündigung sehr in Frage. Einerseits kann ich glaubhaft nur das weitergeben, was ich mir selbst existentiell angeeignet habe - anderseits ist aber mein innerer Weg verschieden von jedem anderen persönlichen Weg! Wie kann ich anderen helfen, ihren jeweils eigenen geistlichen Weg zu finden? - das war für mich die Hauptfrage.

In der damals auch zu uns überschlagenden christlichen Meditationsbewegung schien sich eine erste Antwort auf meine Frage zu finden: Die Anleitung zur eigenen Meditation verzichtet weithin auf eine Weitergabe verbaler Antworten, um dem anderen den Raum zu öffnen, in dem er seine eigenen Antworten finden kann - die Antworten, die für seine Fragen relevant sind. Antworten, die er in der Stille aus leisen Impulsen des Heiligen Geistes zu vernehmen vermag.

Als ich mich dann allerdings in der Deutschen Bücherei in Leipzig - der einzigen Stelle, an der wir an westliches Schrifttum herankamen - unter dem Stichwort "Meditation" kundig zu machen versuchte, entdeckte ich etwas Erschreckendes: Ein halber Karteikasten war damals schon gefüllt mit Meditationsliteratur - wobei aber mindestens 90 % dieser Bücher nicht zur eigenen Meditation und zu eigenen Erfahrungen anleiten wollten, sondern einfach persönliche fromme Gedanken eines Autors als "Meditation" weitergaben - schwimmend auf der gerade modischen Meditationswelle. Wirklich hilfreich und weiterführend wurde für mich - wie für viele andere - das Buch von Klemens Tilmann: "Die Führung zur Meditation". Er zeigt Wege, wie man zum eigenen Meditieren anleiten kann - anstatt eigene Meditationen vorzuführen.


Die Zeit des Kennenlernens und des Lernens.

Meine ersten eigenen Meditations- und Kurserfahrungen gingen dann in zwei Richtungen:


Meditationskurse für Schüler/innen

Der Oratorianerpfarrer Helmut Geiger aus Dresden hielt seit Jahren Meditationskurse für Schüler des 6.- 10. Schuljahres. Er wusste sich in enger innerer Verwandtschaft mit Klemens Tilmann, der ebenfalls Oratorianer war und aus der Pädagogik kam. Pfr. Geiger war genau wie Klemens Tilmann darauf bedacht, keine "Meditationen anzubieten", sondern die Schüler dahin zu führen, in der Stille ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Als ich ihn erstmals ansprach, lud er mich zu solch einem Schülerkurs ein - und zu einem ersten Meditationskurs für kirchliche Mitarbeiter, den er geplant hatte. Diesem hervorragenden Pädagogen verdanke ich wohl die wichtigsten Grundzüge meines weiteren Weges. Er lehrte mich die Ehrfurcht vor dem Wirken des Heiligen Geistes in der Stille - wenn sich der Mensch auf diese Stille einlässt. So bestand unsere wichtigste Aufgabe - sowohl in Jugend- als in Erwachsenengruppen - darin, die Teilnehmer/innen zur Stille und zum Wahrnehmen eigener innerer Impulse zu motivieren. Im anschließenden Austausch über die verschiedenen Erfahrungen wurde uns dann allen immer wieder der Reichtum der Kirche in ihren einzelnen Gliedern bewusst.


Erste Exerzitienerfahrungen

Meine ersten Kurs-Exerzitien erlebte ich etwa zur gleichen Zeit, gehalten von dem Dominikaner P. Gordian LandwehrOP. Er hatte auch schon die jungen Theologen begleitet und hielt dann die ersten Exerzitien für die Innere Mission in Berlin. Bereits bei seinem ersten Exerzitienvortrag wusste ich, dass ich das auch einmal tun möchte - so unmöglich dies damals auch schien! -

Und ebenso wusste ich: Was hier an geistlichen Erfahrungen weitergegeben wird, ist nicht konfessionsgebunden oder "katholisch", das sind genau die Fragen, die so viele geistlich wache Menschen auch in unserer Kirche umtreiben. Ihnen muss man solche Kurse anbieten!

So bat ich P. Gordian, Exerzitien für Evangelische zu halten, welche ich über Jahre hinaus häufig begleitete. Für das erste Angebot hatten wir weit über 100 Anmeldungen (bei ca. 20 Plätzen!) - und über viele Jahre hin hielt P. Gordian jährlich bis zu 5 Kurse für uns, die immer ausgebucht waren.


Erste eigene Versuche.

Ganz allmählich begann ich dann auch mit eigenen Versuchen. Sie ergaben sich zuerst aus einigen Zeitungsartikeln, die ich veröffentlichte, und durch die ich zu Vorträgen und zu Meditationsabenden in unterschiedlichsten Gruppen eingeladen wurde. Indem ich mir von den Teilnehmer/innen etwas über ihre jeweiligen Erfahrungen sagen ließ, lernte ich selbst immer mehr, welch kostbare Erfahrungen da bezeugt wurden - und wie begrenzt und eingeschränkt das war, was ich selbst meinte, sagen zu können. Und vor allem - ich lernte meine eigenen Fehler und Gefahren kennen, die ich in der Anleitung gemacht hatte!

Ganz wichtig wurde mir eine kleine Gruppe von Körperbehinderten, mit denen ich regelmäßig in unserer Gemeinde einen Nachmittag in der Woche zur Meditation zusammenkam. Die Briefe, die ich an diejenigen schrieb, die wegen ihrer Behinderung nicht kommen konnten, um selbst teilzunehmen, führten dann - ohne mein Wissen - zu meinem ersten Büchlein, den "Ökumenischen Meditationsbriefen" - was inzwischen beim dritten Verlag unter einem dritten Namen erschienen ist: "Wege zum Wesentlichen", im Herder-Verlag, Freiburg.

Nachdem mir auch die Teilnahme an einigen Meditationskursen ermöglicht wurde, die in Berlin von westdeutschen Ordensleuten vor allem für katholische Jugendseelsorger angeboten wurden, begann ich dann langsam, die Exerzitien, die ich als "technische Helferin für das Äußere" begleitete, auch mit eigenen methodischen Meditationsangeboten (die sich in die Thematik einfügten), zu ergänzen. Das fügte sich gut zusammen, und wurde sehr dankbar aufgenommen. Da ich mit der Zeit unterschiedliche katholische Patres bat, uns ihre Exerzitienerfahrungen zugute kommen zu lassen, lernte ich im Begleiten und vorsichtigem Mittun ganz verschiedene Weisen und Möglichkeiten des Exerzitiengebens kennen.

Schließlich wagte ich mich daran, erste eigene Kurse anzubieten, sowohl Meditations- als auch Exerzitienkurse - über bestimmte Themen, von denen ich inzwischen aus einer recht großen praktischen Erfahrung wusste, wie gut sie bei vielen Teilnehmer/innen "ankommen". Da ich inzwischen von der Sächsischen Landeskirche für die Meditations- und Retraitenarbeit eine Teilanstellung bekommen hatte, war ich frei (im Gegensatz zu den Gemeindepfarrern, die natürlich sehr durch ihre Gemeinden gebunden waren), gleichzeitig weiterhin Meditations- und Exerzitienkurse zu begleiten, welche von katholischen Patres mit ihren reichen Erfahrungen gehalten wurden.

Dabei lernte ich auch die Form jesuitischer Exerzitien kennen. Als ich dann schließlich den ignatianischen, prozessorientierten Einzelexerzitien begegnete, schloss sich für mich der Ring: Hier war verbunden, was ich anstrebte: Das Suchen nach dem ureigenen Weg jedes einzelnen durch das eigene Meditieren biblischer Texte.

So begannen wir nach einigen Jahren, regelmäßig ökumenische Einzelexerzitien anzubieten - in der strengen ignatianischen Form, wie sie auch von der anglikanischen Retraite-Bewegung als Grundlage gesehen wird. Dankenswerter Weise bekamen wir dafür für 8 volle Tage jedes Jahr das Pastoralkolleg der Ev.Luth.Landeskirche zur Verfügung gestellt - und bis heute noch können wir diese Einzelexerzitien in jedem Jahr anbieten. Wer einmal mitgemacht hat, versucht fast immer, wieder dabei sein zu können, so kostbar werden diese Tage von den Teilnehmern erlebt. "Man müsste das viel mehr Menschen ermöglichen können", sagte eine junge Theologin zur Auswertung. Aber wie? Die Grenze liegt einerseits darin, dass bei Einzelexerzitien die Einzelbelegung der Zimmer unabdingbar notwendig ist (das bedeutet im Pastoralkolleg die Beschränkung auf 14 Teilnehmer) - und dass sich mancher Interessierte nicht für 9-10 Tage dafür Urlaub nehmen kann - sei es wegen seiner Arbeit oder wegen der Familie.

Mehr und mehr suchten wir nach Möglichkeiten, einem größeren Kreis von Menschen solche Erfahrungen zugänglich zu machen. Die Kursexerzitien konnten diesen Bedarf nicht abdecken. Wenn wir auch allein von Sachsen aus - wo wir einen eigenen Arbeitskreis für Einkehrtage gebildet hatten - über viele Jahre hin bis zu fünfzehn dreitägige Kurse anbieten konnten, - sie waren bis zur Wende mit je 15-25 Plätzen (je nach Exerzitienhaus) ausgebucht oder konnten durch Umpolung noch besetzt werden - so kristallisierte sich mehr und mehr eine Gruppe von Teilnehmer/innen aus der gesamten DDR heraus, welche ein tieferes geistliches Interesse zeigten, und die nach intensiverer Nahrung suchten.

Inzwischen war diese "Gruppe" auch zu einer ökumenischen Gruppe gewachsen, in der sich auch schon Querverbindungen untereinander herausbildeten. Nach einigen Jahren musste ich zu Beginn eines Kurses z.B. kaum mehr von mir aus etwas sagen über den Sinn des Schweigens und solcher Tage der Gottesbegegnung überhaupt. Durch gezielte Fragen bei der Vorstellungsrunde bereicherten sich die Teilnehmer untereinander mit ihren früheren Erfahrungen. Und sie machten das viel besser, als ich es je von mir aus gekonnt hätte. Und wer neu dazu kam - meist etwa die Hälfte der Gruppe - wurde so gleich in eine schon bestehende Gemeinschaft aufgenommen.

Das war wichtig, denn da wir kein eigenes Haus der Stille in der DDR hatten, welches durch eine geistliche Gemeinschaft vor Ort getragen wurde, war das Schaffen der Atmosphäre zu Beginn eines Kurses immer eine der Hauptaufgaben. In solcher Vorstellungsrunde erfuhr ich auch jeweils, welche früheren Themen in besonderer Weise in das Leben der Betreffenden hineingewirkt hatten. Diese Kurse bot ich dann wiederholt an, wie etwa die Thematik "Einübung in christliche Mystik nach Meister Eckehart" oder "Kreuz als Erlösung" . Und über die Teilnehmer/innen, die natürlich auch von ihren Erfahrungen bei anderen Kursangeboten berichteten, wuchs dann auch über unsere Sächsischen Grenzen hinaus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.


Begegnung mit der Arbeit in Westdeutschland.

Einen noch heute nicht in seiner Tragweite für mich voll ermessbaren Schritt für unsere gesamte Arbeit bildete dann für mich die erste Möglichkeit der Teilnahme an der Ökumenischen Meditationsleitertagung in Bielefeld/Bethel(s.o.). Dort lernte ich persönlich Menschen kennen wie Klemens Tilmann und Ursula von Mangold und viele andere, die bisher durch ihre Bücher meine "Lehrmeister" gewesen waren. Ich erfuhr in diesen Begegnungen, was es für die Westdeutschen bedeutete, sich mit den vielen neuen spirituellen Angeboten auseinandersetzen zu müssen, welche aus nichtchristlichen Religionen kamen - ich erlebte es aber auch, wie angstfrei diese Menschen, von denen ich wusste, dass sie lebendige und überzeugte Christen waren, mit solchen Angeboten umgehen konnten - und wo sie jeweils ihre Grenzen setzten. Gleichzeitig erlebte ich beglückend, was ein positiver Umgang mit der Psychologie für ein unentbehrlicher Faktor für eine Verkündigung ist, die nicht am Menschen vorbeiredet, sondern ihn auch in seinem Menschsein ganz ernst nimmt.

Gleichzeitig bekam ich Zugang zu einer Fülle von geistlicher Literatur, die für mich und unsere Arbeit kostbarer war als das meiste, was mir bisher begegnet war. Die Erweiterung meines Blickfeldes durch all diese Begegnungen gehört zu den wichtigsten Erfahrungen meines Lebens.


"Geistlicher Übungsweg".

Die Hauptfrage blieb und vertiefte sich: Wie ist es möglich, christlich-spirituelle Angebote einem weiteren Kreis zugänglich zu machen - vor allem auch solchen Christen, welche sich nicht für mehrere Tage aus ihrem Alltag herauslösen konnten. Wie war es möglich, auch denen, die Jahr um Jahr auf ihre Einkehrtage warteten, ein wenig mehr von der spirituellen Fülle christlichen Reichtums weiterzugeben, als das in einem dreitägigen Kurs möglich war? Welche Wegweisungen konnten wir ihnen anbieten, dass sie sich selbständig auf einen intensiven geistlichen Prozess einließen, wie ihn etwa die großen ignatianischen Exerzitien im Auge haben?

At-home-retraits

Eine Erfahrung aus der Anglikanischen Kirche begegnete uns in dieses Fragen hinein. Dort hatte man seit Jahren gute Erfahrungen mit sogenannten "at-home-retreats" gemacht - wo sich eine kleine Gruppe von 12 Personen über 13 Wochen hin verpflichtet, täglich mindestens 20 Minuten zu Hause in die Stille vor Gott zu gehen. Einmal in der Woche trifft sich die Gruppe, meditiert gemeinsam, tauscht ihre Erfahrungen aus - und bekommt für die neue Woche die Meditationstexte in die Hand. Abstimmung mit der Familie, regelmäßiger Gottesdienstbesuch und wöchentliches Begleitergespräch gehörten dazu. Pater Christopher Lowe aus London trug seine Erfahrungen bei einer Tagung vor - und wir alle spürten, dass hier ein zukunftsträchtiger Weg zu erkennen war. Geradezu mit Leidenschaft wurden wir als Retraitenleiter von unserem zuständigem Dezernenten im Sächsischen Landeskirchenamt aufgefordert, in dieser Richtung etwas zu unternehmen.


Briefkurs

Vieles wurde geplant - ohne dass dabei in der folgenden Zeit wirklich etwas geschah. Was für mich blieb, war das innere, drängende Wissen, hier einfach beginnen zu müssen - und wenn ich es ganz allein tun müsste. Der "kairos" war da, wir durften nicht länger warten. Aber wie mussten wir das Modell abändern, damit es für uns in unserer Lage möglich war? Eigene, schon lange im Verborgenen keimende Pläne verbanden sich bei mir mit dem aus London Gehörten: In einer Gesellschaft, in welcher "Fernunterricht" zum Alltagsleben gehörte - müsste es doch vielleicht möglich sein, auch spirituelles Leben, einen geistlichen Weg, in Form eines "Fernunterrichtes" anzubieten - in Form eines Briefkurses... Eines Tages schrieb ich etwa 20 mir bekannte Teilnehmer/innen unserer Retraiten an, ab sie bereit seien, sich einmal auf ein völlig neues Experiment einzulassen: Über einen Zeitraum von 15 Wochen täglich über einen vorgegeben Bibeltext in die Stille vor Gott zu gehen, mir einmal in der Woche eine kurze Rückmeldung zu geben - und sich für diese Zeit geistlich begleiten zu lassen. Die Resonanz war für mich wie ein Zeichen Gottes, frohmachend und erschreckend zugleich: Nicht 10 Teilnehmer meldeten sich, wie ich etwa gemeint hatte - sondern 50! Von ihnen blieben etwa 40 über die 15 Wochen hin dran und ließen mich - in kurzer Form - regelmäßig an Ihren Erfahrungen und ihrem inneren Prozess teilnehmen.

Um zu begreifen, was es mit unseren damals mangelnden technischen Möglichkeiten bedeutete, wöchentlich die Einführungen und Themen an 40 Adressaten hinauszuschicken, das kann sich kaum jemand vorstellen. Die Abzüge - mit einem Spiritusvervielfältiger und schlechten Matrizen, noch schlechterem Papier (was es nie gab), fertig zu stellen und hinausgehen zu lassen, war mir nur möglich, weil eines unserer Kinder in dieser Zeit durch die Fehldiagnose einer schweren Krankheit zu Hause war und mir vieles in Haushalt und bei der Fertigstellung der Briefe abnehmen konnte. Aber dennoch blieb es ein nicht kleines Wunder für mich, dass dieser Kurs bis zum Ende durchlaufen konnte - und selbst die Kontrolle des Stasi die Briefe (gewiss nach anfänglichen Prüfungen) hinausgehen ließ. Nur einmal kamen sie verspätet an, als ich sie in einem fremden Briefkasten einsteckte. (Ich möchte mal in das Herz der Stasileute hineingelugt haben, denen die Prüfung oblag!) Aber es passierte nichts, es ging alles ebenso glatt wie unsere ganze Retraitenarbeit. Wir wussten, dass wir kontrolliert wurden, aber wir spürten es nicht.


Innerer Prozess bei den Briefkursteilnehmer/innen

Viel wichtiger wurde mir die Erkenntnis, die mir gerade bei der großen Anzahl der Teilnehmer/innen vor Augen lag: Wer sich auf solch einen Weg zu Hause wirklich einlässt, lässt sich auf einen ebenso intensiven geistlichen Prozess ein wie jemand, der an Einzelexerzitien teilnimmt! Der Aufbau des Briefkurses schloss sich eng an den Aufbau der großen ignatianischen Exerzitien an: Auf dem Fundament, dass Gott mich liebt, wie ich bin, mit all meinen Dunkelheiten, kann ich ihm die Antwort meiner Liebe geben, indem ich mein Leben von ihm gestalten lasse - mich schließlich hineinziehen lasse in das Geheimnis seines Sterbens und seiner Auferstehung, seiner Sendung in diese Welt. Aber ich wusste aus meiner bisherigen praktischen Erfahrung, dass ich noch eine Stufe vorher beginnen musste: Die ersten drei Wochen ging es nur darum, zu üben, bei einem Text, bei einem Bild über eine ganze Woche hin zu verweilen, um wieder neu zu lernen, was Stille und was wirkliches Hören heißt.


Äußere Form des Briefkursangebotes

Wir begannen den Briefkurs mit einem gemeinsamen Wochenenden und beschlossen ihn dann auch an verschiedenen Orten mit einem gemeinsamen Treffen der Teilnehmer/innen.

Wie ein Geschenk war es, dass mir kurz nach Beendigung dieses Briefkurses die Evangelische Verlagsanstalt in Berlin anbot, sie könnten ein neues Meditationsbuch drucken. So waren endlich die unüberwindlichen technischen Probleme gelöst, als das Buch nach etwa 3 Jahren dann im Druck erscheinen konnte. Ich bot den Briefkurs noch mehrere Male an - und stellte dabei fest, wie wichtig es war, die Teilnehmer sich verpflichten zu lassen, die Stille einzuhalten. Erst der strenge äußere Rahmen ermöglicht den inneren Prozess in voller Freiheit. Das hatte ich bei den Einzelexerzitien gelernt - und es bewährte sich auch hier. Dass das Buch "Geistlicher Übungsweg für den Alltag" dann auch vom Styria-Verlag in Österreich in Koproduktion übernommen wurde ("Exerzitien für zu Hause - dafür suche ich schon seit Jahren nach einem Autor", schrieb mir der Direktor, als ich um die Lizenz für ein Zitat bat), erfuhr ich als ein unerwartetes Geschenk, welches große Auswirkungen hatte.


Begleiterausbildung.

Aber nun stellte sich bald ein neues Defizit heraus, unter dem ich schon seit Jahren gelitten hatte. Nun trat es grell ins Licht: Wer sich auf solch einen Weg begibt, sollte das mit einer geistlichen Begleitung tun. Wo aber gab es Menschen, die solch eine Begleitung übernehmen konnten? Vielfältige Seelsorgegruppen hatten sich auch bei uns schon gebildet - aber leider waren die meisten von ihnen zwar psychologisch recht gut geschult, aber sie hatten z.T. wenig geistlich-spirituelle Grundlagen.

So ergab sich für uns als nächster Schritt, einfach fraglos und folgerichtig, eine Begleiterausbildung anzubieten. Es war ein erster ökumenischer Versuch, wir hatten aus beiden Kirchen je 20 Teilnehmer/innen gezielt dazu eingeladen - und nun musste der Weg im Gehen - Schritt um Schritt - entstehen. Wir bekamen zu Beginn gute Hilfe von einer Gruppe von Frankfurter Jesuiten, die dann etwas später ihre hervorragende Begleiterausbildung (GIS) in Westdeutschland begannen.

Wir mussten mit unseren Möglichkeiten auskommen: Der Hauptakzent lag auf dem Gehen und Reflektieren des eigene spirituellen Weges - unter geistlicher Begleitung. Dann boten wir Kurse an mit wichtigen Themen, wie z.B. "Unterscheidung der Geister" oder "Biblische Meditation". Dazu bekamen wir wieder gute Hilfe von Jesuiten aus Westdeutschland, Österreich und der Schweiz. Aber der Hauptakzent lag auf unseren Regionalgruppen, in denen wir geistliche Begleitung praktisch übten - und über ein wichtiges Thema gemeinsam arbeiteten. Die Gruppen wuchsen dadurch in einer vorher unvorstellbaren Weise zusammen, so dass wir bald auch ganz persönliche Fragen und Schwierigkeiten in die Gruppe einbringen konnten.

Nach 2 Jahren begannen wir, die Teilnehmer/innen auch selbst begleiten zu lassen - unter eigener Begleitung. Wir erlebten dabei, dass vieles in der Praxis ganz anders aussieht als in der Theorie - mancher brachte es fast mühelos fertig, als Begleiter den Begleiteten wirklich den eigenen Weg finden und gehen zu lassen, andere hatten Schwierigkeiten damit, sich selbst so zurückzunehmen - und nicht die eigenen Vorstellungen in den Weg des Begleiteten zu sehr einzubringen.

Zum Abschluss dieser 4-jährigen Ausbildung ließen wir die Teilnehmer/innen sowohl sich selbst beurteilen als auch von der Gruppe beurteilen. Es war befriedigend für uns, zu erleben, dass die Eigen- und Fremdbeurteilung über die Möglichkeiten und Grenzen fast durchgehend übereinstimmten. Manche hielten sich für fähig, Einzelpersonen zu begleiten, manchen meinten, sich auch an Gruppenbegleitung heranwagen zu können - einzelne waren imstande, auch in Einzelexerzitien Begleitung zu übernehmen. Die Ausbildung wurde abgeschlossen mit einem Zertifikat für die Teilnehmer/innen. Die Hauptsache aber war wohl für uns alle, wie ein jeder und eine jede in dieser Gruppe selbst einen intensiven geistlichen Weg gehen konnte - und sich dann so einbringen, wie es an seiner/ihrer konkreten Stelle möglich war.

Hier allerdings stießen und stoßen wir an unsere größten Begrenzungen: Fast ein jeder, der zur Begleitung fähig war, war bereits mit anderen Aufgaben so angefüllt, dass darüber hinaus nur in wenigen Fällen noch Zeit blieb, in Kursen oder Kleingruppen Begleitung auszuüben. Da sehe ich fast mit Neid auf westdeutsche Begleitergruppen, die von ihren Teilnehmer/innen erwarten können, jährlich mehrere Kurse zu begleiten.

Als wir die Ausbildung abschlossen, stellten wir alle miteinander fest, dass uns die Gruppe zur Heimat geworden war, und wir spürten, wie nötig es wäre, überall solche Gruppen zu haben, in denen man sich offen über geistliche Erfahrungen austauschen kann - und das in einer großen ökumenischen Weite.


Suchen nach Gruppen geistlichen Austauschs

Für mich ergab sich daraus der Versuch, der sich nun schon seit Jahren bewährt hat, auch in Exerzitienkursen einmal am Tage eine Zeit des Austauschs in der Kleingruppe anzubieten, - und zwar jeweils nach der eigenen einstündigen Meditationszeit. Ich durfte es dabei immer neu erleben: Was in unseren Regionalgruppen gewachsen war, ließ sich auch in einer anderen Gruppe verwirklichen: die Möglichkeit, sich über geistliche Erfahrungen auszutauschen - wie sie unmittelbar aus der Meditation erwuchsen - und dabei etwas von Gemeinde, vom Leib Christi, dessen Glieder sich gegenseitig helfen und bereichern, zu erleben.


Weitere Briefkursarbeit.

In vielen Gruppen von Exerzitienbegleitern und Meditationsleitern konnte ich seitdem von unserer Arbeit berichten - und war jedes Mal selbst erstaunt, auf welches Interesse diese Berichte stießen, gerade auch in den alten Bundesländern. Was bei uns wuchs, begann gleichzeitig auch an anderen Stellen - wie etwas, das einfach "dran" ist. Immer wieder bekomme ich mal einen Prospekt zugesandt, in welchem "Exerzitien zu Hause", "Exerzitien im Alltag" angeboten werden - oder mir kommen Manuskripte für Briefkurse in die Hand.

Ich selbst machte mich daran, nachdem mir die neuen Möglichkeiten zur Verfügung standen, auch weitere Themen, die ich in Kursen angeboten hatte, als Briefkurse anzubieten. So die "Einübung in christliche Mystik" und "Kreuz als Erlösung". Bei der letzten Thematik erlebte ich ein so intensives Mitgehen der Teilnehmer/innen, dass ich beschloss, nicht nur die thematischen Angebote, sondern auch die Rückmeldungen anderen zugänglich zu machen - andere teilnehmen zu lassen an den Prozessen, die durch solch einen Briefkurs (und wenn er, wie der letzte, nur 4 Wochen dauert) in Gang gebracht werden können.


Weitere Aspekte.

Seit drei Jahren stehen wir nun besonders in unseren "jungen Bundesländern" vor einer neuen Situation: Während ich bis 1989 eigentlich bei allen angebotenen Kursen eine Warteliste anlegen musste, änderte sich die Situation nach der "Wende" schlagartig. Im Jahre 1991/1992 mussten wir fast alle Kurse wegen mangelnder Beteiligung ausfallen lassen, so dass ich für 1993 keinen Kurs anzubieten wagte. Erst in diesem Jahr habe ich wieder ein Angebot in Dresden gemacht - und konnte wieder alle Plätze besetzen.

Doch auch während der letzten Jahre wurden gerade die Briefkursangebote dankbar angenommen - und die Teilnehmer/innen engagierten sich dabei sehr intensiv. Gerade in dieser Zeit der äußeren und inneren Verunsicherung waren sie dankbar für solch ein Angebot - waren sie dankbar für eine Verpflichtung, die sie als Hilfe empfanden, täglich in die Stille vor Gott zu gehen.

Ich weiß nicht, ob es sich hier lediglich um eine Situation handelt, welche die Menschen in den neuen Bundesländern betrifft, oder ob sich hier im allgemeinen eine neue Entwicklung anbahnt: Die Suche nach einem persönlichen geistlichen Weg ist bei vielen Menschen groß - und sie erwarten ein echtes Angebot von der Kirche, wenn sie nicht in irgendwelche undurchsichtigen Sekten abgleiten wollen. Vielleicht könnte neben den nach wie vor wichtigen Kursangeboten auch die Briefkursarbeit einen neuen Weg für manchen anbieten. Aber eine Grenze bleibt bestehen: Solche Briefkursarbeit ist in der Begleitung ungeheuer aufwendig - vor allem dann, wenn sich jemand allein daran wagt. Mögen sich viele finden, die anderen Begleiter sein können auf einem guten christlichen spirituellen Weg.

Wer die Tausende von Jugendlichen erlebt, die sich während der Kirchentage in den Meditationszentren einfinden, der kann die Frage nicht überhören: Was können wir als Christen tun, um diesen Hunger zu stillen? Wie können wir der Frage begegnen, die uns dort immer wieder entgegenkommt: "Weshalb finden wir so etwas nicht zu Hause in unseren Kirchgemeinden?"...
 


*niedergeschrieben 1994

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