Karin Johne
Mitarbeit an der Schöpfung Gottes im Alltag1

Überblick:
Die Fürbitte des Wortes
Das mitgehende Psalmwort
Das Wiederholungsgebet
Das schriftgebundene Wiederholungsgebet
Die Fürbitte der Tat
Licht und Wärme in diese Welt bringen
Ordnung und Sauberkeit in diese Welt bringen -
Freude und Schönheit in diese Welt bringen
Wachstum und Frucht für das Reich Gottes erbitten
Die Fürbitte des Schweigens
Das Schweigen vor dem Gesprächspartner
Das Schweigen vor einem Dritten -
Das Schweigen vor Gott

Als unsere fünf Kinder noch klein waren, verbrachte ich einige "Erholungstage von der Familie" in der Nähe eines neugebauten Stausees. Das Wasser, das früher zu Zeiten des Hochwassers oft Dörfer und Fluren überschwemmt hatte, zu anderen Zeiten dagegen kaum die Mühle des Dorfes anzutreiben vermochte, war nun gestaut und ließ sich regulieren. In Zeiten der Fülle gesammelt für die Zeit der Trockenheit - und mit fast gleichmäßigem Wasserstand fließt der Bach nun weiter durch sein Tal.

Das wurde mir zum Gleichnisbild für mein geistliches Leben mit seinen Perioden der inneren Fülle und denen innerer Trockenheit. In Zeiten der Fülle erlebte ich den Drang, von dieser Fülle weiterzugehen und litt darunter, mich nicht in dem Maße verströmen zu können, wie es mich drängte. Die Aufgaben in Haus und Familie ließen mir keine Zeit und Kraft, noch etwas darüber hinaus zu tun. Nun wusste ich plötzlich, dass solche Hindernisse dazu da waren, die innere Fülle zu "stauen", um sie dann, wo es Not tat, in "regulierter" Form weitergeben zu können. Die existentielle Frage für mich lautete: Wie kann ich die Fülle so "kanalisieren", dass dadurch ein Stück meines gesamten Lebensbereiches regelmäßig bewässert wird? Und wie finde ich Methoden, di es mir ermöglichen, in Zeiten der Dürre aus der früheren Fülle zu schöpfen?

Von verschiedenen Wegen, die sich mir erschlossen, möchte ich einige erwähnen, die mir hilfreich geworden sind.


Die Fürbitte des Wortes
Arbeit in Haus und Garten ist oft sehr gleichförmiges Tun, bei dem die Gedanken spazieren gehen können. Doch "Gedanken sind Kräfte" - so heißt ein mir liebes Büchlein -, und durch fürbittende Gedanken können heilende Kräfte in diese Welt hineinströmen. In einer dringenden Notlage kann solche Fürbitte einem reißenden Frühjahrsbach gleichen, meistens jedoch wird sie einem regulierten Wasserlauf ähneln müssen, wenn sie sich nicht vorzeitig verausgaben will.
Das mitgehende Psalmwort
Welche Möglichkeiten gab es, außerhalb der täglichen Gebetszeit solche Fürbitte auch während des Tages zu den Menschen hinfließen zu lassen, die sie brauchten? Manchmal begleitete mich ein Psalmwort aus dem Morgengebet noch weit in den Tag hinein. Und während ich in meinem Inneren dieses Wort umkreiste, konnte es geschehen, dass sich etwas ereignete, was unter dem Licht dieses Wortes plötzlich einen neuen, tieferen Sinn bekam. So ist mir der Tag unvergesslich, wo ich - durchdrungen von dem Vers: .In deinem Zelt möchte‘ ich Gast sein für ewig" (Ps 61,5) unerwartet an ein Sterbelager gerufen wurde, und es unter diesem Wort zu einem Gespräch kam, wie es selten mit Menschen in diesem Zustand möglich ist.

Das Wiederholungsgebet

Neben diese eigene Entdeckung stellte sich bald die Begegnung mit dem Wiederholungsgebet in der Form, in der Romano Guardini das ostkirchliche Jesusgebet für unser heutiges abendländisches Empfinden "vor-bereitet" und in vielen Varianten angeboten hat. Auf einem langen abendlichen Weg "probierte" ich diese Form des Betens erstmalig aus - und spürte schon bei diesem Versuch, welche ungehobenen Schätze für uns hierin verborgen liegen. Eingeborgen in die gleichmäßige Bewegung des langsamen Gehens und in die sich wiederholenden Gebetsanrufe: "Gepriesen sei der Herr, der Sohn des lebendigen Gottes", und: "Jesus Christus, unser Heiland und Bruder, erbarme dich unser" konnten meine Gedanken wieder die einzelnen "Gesätze" umspielen:

- der um meine Not weiß...
- vor dem meine Sünden offen sind...
- der mir Kraft gibt zum Guten...
- der die Meinen mehr liebt, als ich es vermag...
- dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden...2
Im Unterschied zu den willkürlichen Themen, die die Psalmverse anboten, fand ich in diesen "Gesätzen" einen systematischen Aufbau, eine geordnete Folge von wesentlichen Punkten, die mein Denken und Beten in eine innere Dynamik hineinzogen. Welche Tiefen durch das schlichte Mittel der Wiederholung erfasst werden können, wurde mir an jenem Abend unvergesslich deutlich. Die Gesätze" waren dabei wie ein Zaun, der meine Gedanken vor dem Auseinanderlaufen bewahrte und doch genug Freiraum bot, eine reiche Fülle zu bergen und weiterzuleiten. Die überraschendste Erfahrung aber war, wie im Raum dieser schlichten Gebetsworte plötzlich klare Grundlinien meines Lebens aufleuchteten. Als ich daraufhin diese gleiche Art des Betens zur Fürbitte für einen bestimmten Menschen werden ließ, erfuhr ich auch hier, wie mir dieser in einer ganz neuen Weise vertraut wurde, - wie ich Dinge entdeckte, die ich zwar schon wusste, aber noch nie in ihrer Bedeutung erkannt hatte. Und in einein dritten Schritt wurde mir dieser eine Mensch mit seiner konkreten Not, aber auch mit seinen Gaben und Chancen, transparent für viele andere Menschen in der gleichen Situation, zu denen meine Fürbitte durch das Schauen auf diesen konkreten Menschen hingelangte.3
Das schriftgebundene Wiederholungsgebet

Eine dritte Form solcher wortgebundenen Fürbitte ergab sich in Zeiten, wo ich wirklich Zeit und Ruhe hatte, in den Tagen des Krankseins oder auf weiten, einsamen Wanderungen, die ich in meinen jährlichen Kurzurlauben unternahm. Seit meiner Konfirmandenzeit war mir die tägliche Schriftlese wertvoll geworden. Hatte ich nun viel Zeit, über diesem- Text zu verweilen, begannen sich wesentliche Grundaussagen - aus diesem Schriftabschnitt herauszukristallisieren - Grundwahrheiten im Blick auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Um solche Wahrheiten bis in meine Tiefenschichten in mich aufnehmen zu können, bemühte ich mich, sie in eine Form zu bringen, die man wieder als "Gesätz" in das Wiederholungsgebet einfügen kann, um dieses dann als Fürbitte zu beten. Ich möchte ein Beispiel nennen: Im Verweilen vor dem Abschnitt Joh 16,12-15 ergaben sich folgende Worte: Jesus Christus
- dessen Fülle unsere Fassungskraft übersteigt...
- dessen Geist uns in die Wahrheit leiten will...
- dessen Geist uns die zeitlose Fülle Gottes mitteilen will...
- zu dessen Verherrlichung unser inneres Wachsen dient...
- in dem uns die Fülle des Vaters begegnet...
Ich. hatte im Grunde nichts anderes getan, als was mir bei Guardini begegnet war - aber ich hatte nun den Zugang gefunden, den ganzen Reichtum der Schrift für die Fürbitte fruchtbar zu machen, eine unerschöpfliche Fülle, die sich hier auftat. Und hatte ich einen biblischen Abschnitt einmal in dieser Weise für die Meditation vorbereitet" - meditieren kann ich nur das, was ich auf seine wesentlichen Grundformen zurückgeführt habe -, dann konnte ich auch in Zeiten der inneren Trockenheit oder in Perioden ohne ruhige Besinnung auf diesen Vorrat zurückgreifen und aus diesem Kanal, schöpfen. Ich hatte sowohl eine Möglichkeit gefunden, geistlich aufgestaute Kräfte sinnvoll und reguliert zu Menschen hinzuleiten, die mir aufgegeben waren, als auch die Möglichkeit, die überfließende Fülle zu sammeln für Zeiten der Dürre. Und gleichzeitig hatte ich eine Form gefunden, geistig und geistlich angestaute Kräfte voll in den Dienst dessen zu stellen, der uns als seine Mitarbeiter berufen hat.

Hier muss aber nun unbedingt noch etwas anderes zur Sprache kommen: Bisher könnte es so scheinen, als hätte sich mein Leben weitgehend auf einsamen Wegen oder bei der Tätigkeit stiller Arbeiten abgespielt. Doch fast immer waren die Tage bis zum letzten Rande angefüllt mit Tätigkeiten, die der Alltag einfach erforderte - kleine Dinge, aus denen der Tag einer Mutter und Pfarrfrau besteht. Wo blieb da die Möglichkeit, dem hohen Anspruch gerecht zu werden, als "Mitarbeiter Gottes" zu leben? Für mich fand sich aus dieser Situation nur ein Ausweg: Ich musste Möglichkeiten finden, wie ich die Arbeit selbst zum Gebet werden lassen konnte.


Die Fürbitte der Tat

Das immer tiefere Eindringen in das Meditieren, das mich in eine neue Symbolfähigkeit einübte, half mir dazu. Diese Form des Betens braucht ebenso wie die bisher genannten eine meditative Vor-Bereitung". Ich begann deshalb, meine verschiedenen Tätigkeiten zu meditieren. Am deutlichsten wird das Gemeinte, wenn ich es an einigen Beispielen aufzeige:

Licht und Wärme in diese Welt bringen

Wie hatte ich oft innerlich gestöhnt, wenn einmal mein Mann im Winter nicht da war, der mir das tägliche Heizen sonst abnahm. Das geschah so lange, bis ich mir eines Tages bewusst machte, wie schön es eigentlich ist, wenn man es anderen "warm" und "hell" machen kann, und wie wohl man sich in einer warmen Umgebung fühlt - besonders, wenn es draußen kalt ist Wie viele Menschen sehnen sich nach Licht und nach Wärme, weil sie in einer Welt leben müssen, in der es oft erschreckend dunkel und kalt ist. Hier ergab sich mühelos der Schritt zum Gebet, dass in unserer Familie eine Atmosphäre der Helligkeit und Wärme bewahrt bleibe und wachsen möge. Bald wurde mehr und mehr das Heizen selbst zum Gebet - zur Fürbitte für alle Menschen, die unter menschlicher Kälte leiden und für alle diejenigen, die in innerer Dunkelheit stehen und keinen Weg mehr sehen. Schließlich stand das Wort Jesu vor mir: "Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden, was wollte ich lieber, denn es brennete schon?" (Lk 12,49) - und der Strom dieser Fürbitte floss überall dorthin, wo sich Menschen mühen, dieses Feuer zu entfachen.

Ordnung und Sauberkeit in diese Welt bringen -

Wie viel Aufgaben im Haushalt haben es mit diesen beiden Dingen zu tun. Wie manche Hausfrau mag hier die Frage stellen, ob es wirklich ihre gottgewollte Aufgabe ist, sich darin so zu verzehren, dass kaum mehr andere Kräfte frei bleiben. Als ich mich einmal bewusst zwang, in einer stillen Stunde die Wichtigkeit und Symbolkraft von Ordnung und Sauberkeit zu meditieren, eröffnete sich auch hier für mich ein neuer Weg: Könnte sich nicht das tiefere Anliegen einer christlichen Mutter, dass ihre Kinder in innerer Ordnung und Reinheit aufwachsen mögen, in diese alltäglichen Aufgaben hineinbeten? Hier wäre ein guter Weg, vermochten wir ihn nur zu gehen. Aber vielleicht ist es schon besser als gar nichts, wenn ich wenigstens das eine oder das andere Mal mein Stöhnen über solches Tun in ein Gebet verwandele.

Freude und Schönheit in diese Welt bringen

Zum Glück erschöpft sich der Aufgabenkreis in Haus und Familie nicht in diesen Dingen sondern weist weit darüber hinaus: Wie kann ich das Herrichten meiner Wohnung transparent werden lassen?" fragte mich vor kurzem ein Kursteilnehmer, als ich die Aufgabe gestellt hatte, jeder möchte einmal eine seiner häufigen Tätigkeiten in der eben dargestellten Weise meditieren. War es ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass ich auch dort, wo ich in meinem kleinen Bereich etwas schön mache, ein wenig mitarbeiten darf an der Schöpfung Gottes? Oder schauen wir uns das Feiern an: Wie schön können Feste sein - aber wie viel Vor- und Nacharbeit erfordern sie. Früher feierte man vor hohen kirchlichen Festen Vigilien und hielt danach noch eine "Oktav", weil man wusste, dass Wesentliches im Leben seine Vorbereitung braucht und eine Zeit des Ausschwingens haben sollte. Sonst jagt ein Ereignis das andere und verflacht dabei, und wir selbst verlieren die Möglichkeit tiefer Erlebnisse und müssen es in Meditationskursen wieder üben, unsere eigene Tiefe zu Finden.

Wachstum und Frucht für das Reich Gottes erbitten

"Die Ernte ist groß, aber wenig sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende" (Mt 9,37f) legt Jesus seinen Jüngern ans Herz. Und von Paulus stammt das schon mehrfach genannte Wort, dass wir "Gottes Mitarbeiter in Gottes Ackerfeld" (1 Kor 3,9) sein sollen.

Gartenarbeit schließt in sich eine Fülle symbolhafter Tätigkeiten, die bereits von Jesus in ihrer Gleichnishaftigkeit für das Wachstum des Gottesreiches gesehen wurden. Nirgends so wie hier legt es sich nahe, die verschiedenen Arbeiten in ihrer Übertragbarkeit auf die Arbeit auf Gottes Ackerfeld zu meditieren und das Tun zur Fürbitte werden zu lassen. Alle bisher genannten Möglichkeiten bergen für mich die Arbeit im Garten in sich: Hier habe ich trotz "äußerer" Arbeit eine Zeit der Stille (Erdarbeit vermag in einzigartiger Weise innere Unruhe zu stillen), um das jeweilige Tun meditativ zu durchdringen und somit für das Gebet vorzubereiten. Hier formen sich Sätze, die ich mühelos übertragen kann auf die geistliche Arbeit. Hier bleibt mir genügend Zeit, bei der Arbeit zu beten, solange die inneren Kräfte dazu reichen. Und hier habe ich eine Fülle von Möglichkeiten, die Arbeit selbst zum Gebet werden zu lassen.
Fürbitte der Tat - zuerst sah es für mich fast wie eine Notlösung aus: Wenn ich durch die Arbeit in Haus und Familie so ausgefüIlt bin, dass ich keine Aufgabe in der Kirche übernehmen kann, dann will ich wenigstens auf diese Weise meinen Beitrag leisten. Je mehr ich aber in diese Lebensform hineinwuchs, desto mehr erwies sie sich als eine echte Möglichkeit der Mitarbeit im Reiche Gottes. Durch mein Tun trete ich in eine andere Weise des Seins ein als es im Denken und Reden geschieht. So kann es möglich sein, dass sich mir die tiefe "Verwurzelung" einer "eingefleischten" Fehlhaltung gerade dort kund tut, wo ich mich darum mühe, ein Beet von den tiefgehenden Wurzeln der Winde zu säubern - und nach dem nächsten Regen bereits erlebe, dass neue Triebe aus dem Erdboden sprießen, als mache es ihnen Spaß, mir ihre geradezu unausrottbare Lebenskraft zu demonstrieren. Und es kann sein, dass der lebendige, glatte Apfel in meiner Hand, den ich eben vom Baum gepflückt habe, mir eindringlicher als manche Predigt bewusst macht, wie viel Kräfte wir oft in der Kirche in das "Säen" hineingehen - und wie wenig Zeit wir uns meistens zum ,Ernten" nehmen.


Die Fürbitte des Schweigens
Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst: Fürbitte des Schweigens? Dann nicht, wenn ich 'weiß, dass Schweigen oft viel "beredter" sein kann als Reden, wenn ich den Sinn des Sprichwortes begriffen habe: "Aus dem Lärm kommt das Geschwätz - aus dem Schweigen das Wort." Auch echtes Schweigen kann zur Staumauer werden, die das Wort vor jedem falschen Sich-Verströmen bewahrt.
Das Schweigen vor dem Gesprächspartner

Zu den Grunderkenntnissen der neuen Seelsorgebewegung gehört die Entdeckung, wie entscheidend im seelsorgerlichen Gespräch das verstehende, einfühlende Zuhören ist. Solches Hören hilft dem Partner, sich selbst und seinen eigenen Weg zu finden. Im Üben solchen einfühlenden Hörens - ob das innerhalb der Familie geschieht oder in einem seelsorgerlichen Gespräch während eines Kurses - erlebe ich immer wieder, welche Fähigkeit des wahren Schweigen - Könnens diese Art des Zuhörens voraussetzt. Wo das Schweigen des eigenen Urteiles und der eigenen Lösungsangebote aus der Ehrfurcht vor dem Geheimnis entspringt, das Gott mit dem Weg eines jeden einzelnen Menschen im Sinne hat, wird es zum bittenden Dasein für den anderen.

Kann ich mich in solches innere Schweigen einüben? Immer wieder sage ich es den Teilnehmern unserer Schweigekurse - denen oft diese Form gemeinsamen Schweigens völlig neu ist -, wie mir selbst solche Tage der Stille dazu helfen, in einer tieferen Schicht als der der Worte und Gedanken zur Stille zu finden - zu einer Stille, die im Gespräch zum Dienst an dem Partner wird: Mitarbeiter Gottes im schweigenden Zuhören, damit der andere seinen ureigenen, von Gott gemeinten Weg finden kann.

Noch ein weiteres Beispiel möchte ich in diesem Zusammenhang nennen: Wie schnell kommt es im engen menschlichen Zusammenleben zu Spannungen, wie schnell fällt ein verletzendes Wort! Reagiere ich nun auf solch ein Wort mit einer Gegenrede, löse ich damit oft harte innere Widerstände im anderen aus, die lange Zeit zu ihrer Lösung brauchen. Gelingt es mir dagegen, in solch einem Fall auf eine Widerrede zu verzichten, so erlebe ich häufig, dass der andere nach kurzer Zeit wieder das Gespräch sucht - und dass es nun zu einem fruchtbaren Austausch kommt. Dieses Schweigen um des anderen willen, ist ein Schweigen, das eine Form des Daseins für andere bedeutet. Sicher gäbe. es hierzu noch manches zu sagen, doch ich möchte noch auf zwei weitere Möglichkeiten hinweisen, in denen ich Schweigen als Möglichkeit der Fürbitte erfahren habe:

Das Schweigen vor einem Dritten -

Wer von uns hat nicht in seinem Leben diesen oder jenen wunden Punkt, an dem er sich immer neu aufreibt! Wie erleichternd erschien es mir manches Mal, wenn ich die seltene Gelegenheit hatte, mich über meine augenblicklichen Lasten mit einem anderen Menschen auszusprechen, der ähnliche Probleme kannte, von dem ich mich verstanden fühlte. Aber war ich nach einem solchen Gespräch wirklich im tiefsten erleichtert? Fast immer spürte ich nach einiger Zeit eine innere Leere in mir, die mir nicht gut vorkam, ohne dass ich recht zu deuten wusste, warum eigentlich. Da begegnete mir eines Tages in einem völlig neuen Licht das Wort Jesu: "Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Angesicht, dass sie vor den Leuten scheinen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin..." (Mt 6,16). Muss ich dieses Wort nicht übertragen auf die Lasten meines Lebens? Wenn ich mich bei andern Menschen darüber beklage, dann kann ich zwar Verständnis und eine zeitweilige Erleichterung erfahren - aber habe ich dann nicht auch "meinen Lohn dahin"? Habe ich hier nicht vielleicht etwas verströmen lassen, das ich hätte sinnvoller anwenden sollen? Wenn ich es fertig brächte, von der mir auferlegten Last vor anderen zu schweigen (nicht vor meinem Seelsorger, sondern vor Menschen, die mir meine Last mitfühlend bestätigen sollen) und sie trage "mit gesalbtem Haupt und gewaschenem Angesicht", könnte sich da nicht eine Segensfülle "stauen", aus der Gott selbst dann Segensströme hinleiten könnte - zu Menschen, die ähnliche Lasten zu tragen haben und ohne jede menschliche Hilfe sind? Es ist eine Frage, die mich schon lange Zeit bewegt.

Das Schweigen vor Gott

Natürlich ist bei dieser Möglichkeit nicht an ein Verstummen jeden Gespräches mit Gott gedacht, sondern an ein Schweigen der verborgenen inneren Auflehnung gegen die Führung Gottes in meinem Leben. Wahrscheinlich ist dieses Schweigen die Voraussetzung, die das eben genannte Schweigen vor anderen Menschen überhaupt erst ohne Verkrampfung möglich macht.

Viele Jahre lang stand mir bis zu ihrem Tod eine Frau sehr nahe, die - völlig gelähmt und unfähig, auch nur einen Löffel selbst zu ihrem Munde zu führen - schon seit über zwanzig Jahren in diesem Zustand in einem kleinen Barackenzimmer eines Altersheimes lag, zusammen mit einer 82-jährigen Frau, die sie pflegerisch weitgehend versorgte. Sooft ich diese beiden Menschen besuchte, verließ ich sie als eine reich Beschenkte. Und eines Tages bekam ich von der behinderten Frau einen Brief mit folgendem Satz: "Manchmal fühlen wir uns wie die Glücklichsten der Menschen." Ich fragte mich: Wie ist so etwas überhaupt möglich? Diese schwerkranke Frau hatte alles Sich - Auflehnen gegen den Weg Gottes mit ihrem Leben zum Schweigen gebracht und sich zu einem vollen Ja durchgerungen. Wie viel Tränen und Schmerzen sie das gekostet hat, weiß Gott allein. Sie lebte es in aller Begrenztheit und Schwachheit, aber sie tat es. Das Verstummen allen Fragens und Murrens ließ ihr die Möglichkeit, alle Sehnsucht darauf zu richten, dass ihr Schicksal für andere Menschen fruchtbar und segensreich werden möge.


Für mich ergab sich hier die Frage: Was kann ich - in kleine Münze umgewechselt - für mein Leben daraus lernen? Theoretisch weiß ich seit langem, dass das Ja-Sagen zu dem, was in meinem Leben unabänderlich auf mich zukommt, ein Schlüssel zu einem echten geistlichen Leben ist. Doch es ist ein weiter Weg vom Kopf bis zum Herzen, vom Ja-Sagen des Mundes bis zum Einstimmen der ganzen Existenz in solches Ja.
Als ich zum ersten Mal in meinem Leben selbst erlebte, was eine Depression sein konnte, gelang mir nichts von dem, was einem Ja auch nur ähnelte. Doch als mir kurze Zeit danach ein depressiver Mensch seinen Zustand zu beschreiben versuchte, verstand ich ihn ganz anders als vorher. Und plötzlich wusste ich, wozu ich diese eigene Erfahrung machen musste. Jetzt ahne ich: Wo ich dazu befähigt werde (aus eigener Kraft ist dieses kaum möglich), an einzelnen Punkten meines Lebens mein Leid und meinen Schmerz wirklich anzunehmen, dort kann diese Last wieder zu einer ganz neuen Form des Daseins für andere werden, zu einem Mit-Leiden, das mich fürbittend noch tiefer mit den Menschen verbindet als es durch die Fürbitte des Wortes oder die Fürbitte der Tat geschieht. Im Blick auf das Leiden Jesu "für uns' und auf das Wort des Kolosserbriefes: "Nun freue ich mich in meinem Leiden, das ich für euch leide" (1,24) wird diese Ahnung für mich zu einer Gewissheit des Glaubens. Wenn aber nicht nur unser Wort und unser Tun, sondern sogar unser Erleiden zum Mittel der Fürbitte, des Daseins für andere werden kann, dann kann uns Gott wahrhaft in der Gesamtheit unserer Existenz als seine Mitarbeiter gebrauchen - ein unbegreifliches Geschenk!

Um Leuchtspuren des Glaubens ging es in diesem Beitragbewahren. Das kann uns vor Missverständnissen bewahren. Denn was aus meiner Fürbitte erwächst, entzieht sich in den meisten Fällen meiner Erfahrbarkeit. Doch mögen sich hin und wieder zeichenhaft einige Spuren erkennen lassen, die uns Mut geben, auf dem begonnenen Weg weiter zu gehen. Nicht nur einmal kam es mir so vor:. wenn ich einem Menschen wieder begegnete, für den ich über längere Zeit hin gebetet hatte, dass sich nicht nur in meiner Beziehung zu ihm, sondern auch in seinem Leben etwas geändert hatte, dass etwas besser, heiler geworden zu sein schien. Was sich aber für mich in großer Deutlichkeit abzeichnete und aufleuchtete war die Frucht, die ich in meinem eigenen Leben auf dem Weg zu Christus empfing.


Anmerkungen:
1 Veröffentlicht in Herderbücherei Band 1083 “Lichtspuren des Glaubens”Freiburg 1984
2 Entnommen aus „Lehre um beten', herausgegeben von Josef Gülden,
          St.Benno-Verlag, Leipzig 1958, S. 445.
3 Vgl.  K. Johne, Wege zum Wesentlichen, Herder Verlag, Freiburg/Brsg 1992

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