Wie kamen als junges Vikarsehepaar 1953 nach Rüsseina als unsere erste Pfarrstelle.Wir hatten beide Theologie studiert, danach war mein Mann auf dem Predigerseminar und im Lehrvikariat, ich hatte mein Lehrvikariat in Dresden bei der Landesstelle des Burckhardthauses gemacht und war dort im Reisedienst für Oberschülerarbeit tätig gewesen. In diese Zeit fiel die Attacke gegen die Junge Gemeinde, der harte Kurs des DDR-Staates gegen die Kirche - bis zum Aufstand des 17.Juni, nach dem einige Erleichterungen eintraten.
Diese Voraussetzungen sind wichtig, um unser erstes Erleben in Rüsseina zu verstehen.
Die Kampagne gegen die Jugendweihe hatte damals Rüsseina noch nicht erreicht, so dass mein Mann mit den großen Konfirmandengruppen begann, an die - soviel uns glaubhaft mitgeteilt wurde - unser Vorgänge Pfarrer Döhler seine letzten Kräfte drangegeben hatte.
Dieser lebte nicht mehr, als wir einzogen - mein Mann als Vikar schon ein halbes Jahr vor unserer Hochzeit. Wir wurden damals vom LKA aufgefordert, doch bitte recht bald zu heiraten, da das große Pfarrhaus nur von Frau Pfarrer Döhler und ihrer Hausgehilfin bewohnt wurde - und dieser Wohnraum war bei der großen Wohnungsnot und den vielen Flüchtlingen damals nicht zu halten, ohne dass wir einzogen.
Was mir von unserer ersten Begegnung mit der früheren Pfarrfrau bleibend in Erinnerung ist, war die Ermahnung, wenn wir nicht früh um 7 Uhr fertig und bereit für die ersten Besucher seien, dann seien wir bei den Bauern von vornherein unglaubwürdig. Und das wurde auch rege in Anspruch genommen: Da die Bauern aus den Außendörfern oft früh schon in Rüsseina ihre Wege erledigten, kamen sie dann eben auch gleich mit zum Pfarrer herein, wenn etwas anlag.
Aber nicht nur früh kamen sie. Mir war es nach unserem Umzug erst richtig deutlich, wie seltsam es in Markkleeberg war, dass wir da nicht fast täglich jemanden als Gast beim Mittagstisch hatten. Die Leute kamen von weit her - was lag da näher, als sie um die Mittagszeit herum zu fragen, ob sie nicht gleich einen Teller mit essen wollten? Und ich wüsste nicht, dass sich jemand über unsere einfachen Mahlzeiten beschwert hätte. Allerdings hatten wir auch "fette Zeiten", wenn die Bauern schlachteten, und der Pfarrer wie selbstverständlich Wurstsuppe und auch manches andere davon abbekam. Da wir auch einen Streifen Pfarracker zu versorgen hatten, bauten wir später dort Kartoffeln an - und unsere Kirchnerin und liebe Freundin Frau Hempel zog davon für ein Schwein(chen) groß, das wir dann schlachteten, als es zwei Zentner wog.
Frau Hempel war eine frühere Großbauernfrau, die schon vor unserer Zeit enteignet worden waren. Sie trug ihr Schicksal tapfer und half dort, wo es nötig war - immer bereit zur Kinderbetreuung oder anderen häuslichen Aufgaben. Die nächste Stufe der Landreform brachte dann tiefe Einschnitte in das gesamte Dorfleben. Und diese erlebten wir hautnah mit.
Was wir im Pfarrhaus von uns aus sofort änderten, war, dass wir das "ständig verschlossene Pfarrhaus" (wie man im Dorf sagte) öffneten, so dass von früh bis abends die Haustür aufgeschlossen war. Wir haben damit damals auch nie schlecht Erfahrungen machen müssen.
Die große Pfarrwohnung mit ihrer großen Diele und den 8 angrenzenden Zimmern war für uns natürlich viele Nummern zu groß. (Im Erdgeschoss wohnte noch einige Jahre Frau Pfarrer Döhler - dann ein Diakonenehepaar.) Wie sollten wir z.B. Gardinen beschaffen für 22 Fenster bei unserm damaligen Gehalt von unter 300,00 DM monatlich? Da halfen meine Eltern. Aber trotz des wenigen Geldes hatten wir eigentlich immer gerade genug - sogar so viel, dass im Pfarrkovent das Rüsseinaer Pfarrhaus "als das bestgeheizte der ganzen Ephorie" scherzhaft bezeichnet wurde. Da es weder Koks noch genügend Brikett gab, mussten wir mit Rohkohlestücken heizen - und mein Mann hat sich damals zu einem wahren "Heizkünstler" entwickelt, der auch später mit seinen Kenntnissen noch manchem helfen konnte.
Da der Strom noch sehr billig war, und wir es gern hell hatten, kam mein Mann abends manchmal heim und sagte: "Im Schloß wir wieder ein Fest gefeiert!" Er war gekommen und hatte im Dunkel die nebeneinanderliegenden 9 Fenster des ersten Stockwerkes hell erleuchtet gesehen. Die ganze Wohnung atmete in ihrer Harmonie und ihrem organischen Ausbau etwas Gutes und Großzügiges aus. So schwierig es auch war, die Steinstufen der Treppe zu wischen - zu einer Zeit, als es keine Scheuerlappen gab und wir Stoffreste dazu nehmen mussten - so sehr bedauerten wir später, dass durch den Umbau der Diele diese Großzügigkeit und wohltuende Harmonie verloren ging
Aber es war ja nicht nur die Wohnung und das Haus. Der große Garten und vor allem die Wiese am Hang mit ihren vielen Obstbäumen, die Nebengebäude und das ganze Gelände war für eine "Herrschaft mit zwei Dienern und zwei Dienstmädchen" angelegt - wie wir damals sagten. Z.B. kam wenige Tage nach unserem Einzug unser Kirchner mit der Nachricht, er habe die Pflaumen geerntet, was wir mit ihnen tun wollten - es waren mehrere Zentnerkörbe voll. Da es ein Pflaumenjahr war, wurde auch in Starbach bei der Genossenschaft nichts mehr angenommen. Noch vom Krieg und den Hungerjahren gezeichnet, die ja noch nicht zu Ende waren, wussten wir, dass wir die Pflaumen nicht umkommen lassen durften - und so half uns unsere damalige Waschfrau, Frau Händel (eine Waschmaschine konnten wir uns erst von dem Kindergeld unseres dritten Kindes 1960 kaufen!) mit Rat und Tat: Im Waschkessel kochten wir Pflaumenmus und rührten und rührten - ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden hindurch. In den nächsten Jahren bekamen viele Freunde von uns einen Eimer voll Pflaumenmus geschenkt!
Nach den alten, damals noch geltenden Strukturen, wurden wir bald nach unserer Ankunft auch damit vertraut gemacht, in welche gesellschaftlichen Kreise wir "gehörten" - das waren Arzt, Tierarzt und die noch vorhandenen größeren Bauern. Wir haben zu allen auch gute freundschaftliche Kontakte gefunden - aber uns natürlich nicht auf diese Kreise beschränkt.
Als Stadtkinder mussten wir auch lernen, was die Zeit des Federschleißens für eine wichtige Zeit im Dorf war. Niemals im Jahr blühten die verschiedensten Gerüchte - natürlich auch über uns - wie in dieser Zeit. Wir bekamen nur selten etwas von dem Ergebnis mit, ich z.B. einmal, als wir wieder große Wäsche hatten, und mir unsere Nachbarsfrau, Frau Beulich, angeboten hatte, ich könnte die Wäsche bei ihr schleudern. So lief ich den ganzen Tag mit der nassen oder geschleuderten Wäsche hin und her, bergauf und bergab - und erfuhr dann eines Tages, dass das Dorf festgestellt hatte: "Die Frau Pfarrer kann ja wirklich auch arbeiten!!" (Ich musste damals viel liegen wegen der Schwangerschaft).
Ein besonderes Original war die damalige Heimbürgin. Es wurde erzählt: Wenn der Trauzug mit dem Sarg aus einem Außendorf in Sichtweite kam, wurde geläutet. Einmal stellte diese Heimbürgin fest, dass sich der Zug im Dorf zum Haupteingang der Kirche anstatt zum Hintereingang, der gegenüber der Fleischerei von Herrn Händel lag, bewegte. Daraufhin schrie sie laut und vernehmlich: "Beim Fleescher wird er abgeladen!"
Da ich gleich nach unserer Hochzeit schwanger wurde und ich die Schwangerschaft recht schlecht vertrug, war ich im ersten Jahr wenig in der Gemeinde "anwesend" - d.h. bekannt.
Meinem Mann lag sehr daran, bald einen besseren Überblick über die Gemeinde zu bekommen und begann sehr bald mit Bibelstunden, die er in Außendörfern im Abstand von vier Wochen abhielt. Dadurch und durch die Einladungen zu Festlichkeiten, kamen wir in Kontakt mit vielen Gemeindegliedern aus den Außendörfern. (Hier hatten wir allerdings nach den langen Kriegs- und Hungerjahren das Problem, dass die festlich gedeckten Hochzeitstafeln unsere Aufnahmekapazitäten weit überstiegen, und dass die Einladenden es nicht verstehen konnten, wenn wir schon nach dem ersten Gang aufhören mussten, weil wir nicht mehr vertrugen. Wir waren gewöhnt, uns an Kartoffeln zu sättigen - und lernten es mit der Zeit, dass man gerade damit sparsam sein musste, um noch Raum für weitere Gänge zu haben. Dass es Mahlzeiten mit mehreren Gängen gab, war mir überhaupt ganz neu!
Bei mir wurden nähere Kontakte zu den Gemeindegliedern in Rüsseina durch die Geburt unserer ersten drei Kinder zwischen 1954 und 1960 viel enger - Mütter lernen einander leicht kennen. Allerdings war es wohl für viele Dorfbewohner ein Problem, ob sie uns zur Geburt unseres dritten Mädchens überhaupt gratulieren sollten - einige meinten, kondolieren hätte besser gepasst, da es wieder kein Junge war! Das war zum Glück nicht unsere Problem!
Dazu kamen für mich in der Gemeinde die Straßensammlungen, für die ich mich in Rüsseina bereithielt. Es war damals streng verboten, die Sammelbüchsen mit in die Häuser zu nehmen. Also fanden wir den Weg, die Büchse draußen am Zaun aufzuhängen - und dann ins Haus zu gehen mit der Bitte, unten hinge die Büchse, - und doch bitte mit etwas Geld mit hinunterzukommen. Da hatten wir auch nie Schwierigkeiten damit. Und so lernte ich jede Familie auch in ihrer Häuslichkeit kennen.
Die Schwierigkeiten lagen auf anderen Gebieten und wurden vor allem von meinem Mann ausgetragen. Um die schweren Wochen mit Pfarrer Kohl in Nossen wurde ja schon beim Jubiläum berichtet - der aushängende Brief z.B. war uns entweder in dieser Schärfe nicht mehr im Bewusstsein geblieben oder wir haben ihn nie so in die Hand bekommen. Was ich noch sehr genau weiß, war ein Anruf mitten in der Nacht nach Pfarrer Kohls Verhaftung, wo in den Hörer gebrüllt wurde: "Morgen holen wir dich!!!". Dass wir daraufhin wieder zu Bett gingen und wirklich weiterschliefen, empfand ich bereits damals als ein kleines Wunder Gottes. Es passierte uns auch nichts.
Politische Brennpunkte waren vor allem immer die Wahlen. Da wir nach unterschiedlichsten Versuchen, unsere Stimmzettel ungültig zu machen, erleben mussten, dass wirklich jeder Stimmzettel als gültig gezählt wurde - sahen wir keinen anderen Weg, als der Wahl fernzubleiben. Das aber störte natürlich die kommunalen Verantwortlichen, da sie so ihre geforderte 100 % nicht bekamen. Viele Gespräche hat mein Mann in meinem Beisein an solchen Wahltagen geführt, bis wir einmal mit unseren Kindern einen Ausflug in den Zellwald machten.
Als wir kurz vor 18.00 Uhr aus dem Bus ausstiegen, waren die "Wahlhelfer" schon wieder da und nahmen uns in Empfang. In diesem Gespräch wollte mein Mann deutlich machen, dass wir durchaus keine "Kapitalisten" seien, sondern wenn er sich eine Wahlheimat aussuchen könnte, würde er ein neutrales Land (z.B. Schweden oder Schweiz) als Aufenthalt vorziehen. Einiges wurde noch gesagt - mit dem Ergebnis, dass etwa nach einer Woche der Bürgermeister mit zwei Begleitern bei uns auftauchte und uns mitteilte: "Sie haben einen Ausreiseantrag gestellt - wir haben Rücksprache genommen und teilen ihnen mit, dass alle Wahrscheinlichkeit besteht, dass diesem Antrag stattgegeben wird".
Mein Mann konterte aber sofort, er sei kirchlicher Dienstträger, und müsse auf jeden Fall erst mal mit dem Bischof sprechen. Und - wir bleiben hier, weil wir anderes nie ernsthaft überhaupt gewollt hatten und unsere Aufgabe hier sahen.
2001 - Und im Rückblick möchten wir heute gern noch einmal bestätigen, dass für uns diese Entscheidung damals richtig war.
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