MIT MÄRCHEN MEDITIEREN 1
Überblick:
Märchen und archetypische Symbolbilder - Von der Wichtigkeit archetypischer Urbilder für unsere gesunde Entwicklung
Märchen und archetypische Symbolbilder - Von der Wichtigkeit archetypischer Urbilder für unsere gesunde Entwicklung
Ich meine damit nicht, dass Sie bei der Begegnung mit einem Ihnen unbekannten Baum überlegen, was für ein Baum das sein könnte und ihn genau in seiner Eigenart betrachten. Nein, ich meine: Haben Sie sich schon einmal mindestens eine halbe Stunde Zeit genommen und einfach im Schauen auf einen Baum verweilt? "Innehalten" sagt ein schönes altes deutsches Wort dafür.
Und haben Sie dann im stillen Anschauen dieses Baumes gewartet, ob der Baum vielleicht etwas in Ihnen "angesprochen" hat? Ist Ihnen da irgend etwas eingefallen, was in solchem stillen Verweilen vor diesem Baum zum Klingen, zum Mitschwingen kam? Hat der Baum irgend etwas in Ihrer Tiefe angerührt, was Ihnen plötzlich dadurch selbst erst zum Bewusstsein gekommen ist? Sagen wir es kurz: Haben Sie einmal einen Baum "zu sich sprechen lassen" - nicht zu Ihrem Verstand, sondern - wie wir sagen - zu Ihrem Herzen? Und haben Sie dabei etwas davon gespürt, dass es eine "Sprache" gibt, nicht mit Worten und Begriffen, in welcher ein Baum zu Ihnen sprechen kann?
Es war vor einigen Monaten: An einem schönen Frühsommertag waren wir mir 50 Mitarbeitern der Jugendarbeit in einer herrlichen Umgebung zusammengekommen, um miteinander zu meditieren. Die meisten der Teilnehmer hatten noch nie eine Meditationsübung mitgemacht. Aber nach einer gründlichen Vorbereitung ließen sie sich darauf ein, sich einen Baum zu suchen und in der angegebenen Weise mindestens 30 Minuten lang vor ihm zu verweilen. Als wir uns danach zum Austausch wieder trafen, hatte jeder der Teilnehmer sein Erlebnis gehabt, an dem er die Gruppe teilnehmen ließ.
Einer sagte: "Mein Baum stand ganz allein. Er hatte sich ungehindert entfalten können, nicht wie andere Bäume im Wald eingeengt durch seine Nachbarn. Aber er war auch vom ständigen Wind ein wenig zerzaust und verbogen."
Ein anderer hatte etwas anderes gesehen: "Bei meinem Baum war ein Ast herausgebrochen - ein alte Wunde. Aber ich sah, dass die anderen Äste diese Lücke ausfüllten, dass sie dort hineingewachsen waren, wo sonst eine bleibende Lücke geklafft hätte. Ich war sehr froh darüber."
Ein anderer wieder hatte fasziniert beobachtet, wie sich die Wurzeln seines Baumes mitten zwischen den Felsen des steinigen Hanges ausgebreitet hatten, wie sie das karge Erdreich zwischen den Felsen durchwachsen hatten und die Nahrung für den Baum dort fanden, wo ein Mensch nie eine Lebensmöglichkeit für einen Baum vermutet hätte.
Ich könnte noch lange fortfahren. Jeder der Teilnehmer hatte etwas anderes, für ihn Wichtiges, entdeckt.
Versuchen wir, ein wenig zu erklären, was hier geschehen ist:
Die Männer und Frauen hatten dadurch, dass sie sich auf etwas ihnen sonst Ungewohntes einließen - nämlich eine lange Zeit sich einfach auf ein Symbolbild einzulassen - selbst erfahren, dass dieses Symbol zu ihnen zu "sprechen" begann, und zwar zu jedem anders; Sie erlebten, dass das Symbol jeden an einer für ihn wichtigen Stelle seines Lebens, seiner Erfahrungen ansprach. Der Baum - gerade als Baum an sich - ist ein Ursymbol, ein Urbild, ein "archetypisches Symbol". Solche Urbilder, solche archetypische Symbole haben für die innere Entwicklung des Menschen einen unersetzlichen Wert.
Ich möchte
das nach drei Seiten hin entfalten:
- Das Fehlen bestimmter Urbilder, das Fehlen der Begegnung mit ihnen lässt die Seele einseitig, "schief" wachsen - was sich dann besonders in der zweiten Lebenshälfte als bedrängend, als äußerst schmerzhaft, ja gar als lebensbedrohend (nämlich das volle Leben bedrohend) auswirken muss. Stellen wir uns z.B. ein Kind vor Augen, das in der Steinwüste einer Großstadt aufwächst, und nie die Möglichkeit bekommt, das Wachsen, Blühen und Reifen in der Natur mitzuerleben. Dem Kind fehlt etwas Entscheidendes, ohne dass man es gleich in Worte fassen könnte. Ebenso - als anderes Beispiel - erfahren wir es immer neu, welch einseitige, oft krankmachende Entwicklung ein junger Mensch durchmacht, dessen tiefste innere Sehnsucht nach einem Vater, der beschützt und Identität verleiht oder nach einer Mutter, die nährt, Liebe und Geborgenheit schenkt, nicht in gesunder Weise aufgefangen wird in der Begegnung mit einer realen Vater- bzw. Muttergestalt.
2. Dass es solche Fehlentwicklungen nicht erst heute gibt, sondern schon zu allen Zeiten, das erfahren wir, wo wir uns näher auf die Märchen einlassen. Sie gehen sehr oft von solchen krankmachenden Fehlentwicklungen aus, aber sie bleiben dabei nicht stehen, sondern nehmen uns mit auf den Weg, der aus solchem "Unheil" herausführen kann. Im "Handbuch für Psychologie" fand ich den Satz: "Wo Urbilder sich nicht verwirklichen können oder sich in einer falschen Weise verwirklichen, wird der Mensch psychisch krank; Hilfe zur echten Verwirklichung kann deshalb Heilwirkungen auslösen, die man oft als Folge regelmäßiger Meditation erfährt."
3. Die gleiche Funktion können Märchen wahrnehmen. Gerade bei orientalischen Märchensammlungen wie z.B. bei bekannten "Märchen aus Tausend und einer Nacht" wird es deutlich: "Die sogenannten Rahmenerzählungen beginnen alle damit, dass ein Mensch in einer zwanghaften Schicksalssituation zu stehen scheint. Durch die zugleich unterhaltsamen und lehrreichen Geschichten eines Weisen, eines Vogels, einer Amme oder einer Schönen wird der Zuhörende unmerklich gewandelt und damit dem rechten Lebensstrom wieder eingegliedert. Der Weg der Wandlung und nicht etwa nur das glückliche Ende ... ist der Kernpunkt der Geschichten." 2
Solche Wandlung
aber geschieht nun gerade in der Begegnung mit den archetypischen Urbildern.
Ihre Fülle ist vielgestaltig wie das Leben selbst. Was wir am Baum
verdeutlicht haben, könnten wir ebenso aufzeigen und erfahrbar machen
an dem Feuer oder der Quelle, am Gebirge oder dem Meer, an der Höhle
oder am Garten. Und nicht nur Dinge sind es die archetypische Grundmuster
in uns zum Leben erwecken, sondern es können auch archetypische Situationen
sein, archetypische Handlungs- und Verhaltensweisen oder archetypische
Werte bzw. Unwerte. Allen aber ist gemeinsam:
- Wo ich mich bisher verdrängten, unausgeformten Ursymbolen aussetze und sie zur Entfaltung kommen lasse, können sie ungeahnte Energiequellen in mir freilegen.
- Aber auch das ist zu beachten: Wo
solche Energien zu lange abgespalten und verdrängt waren, können
sie mich mit ihrer negativen Energieladung überfluten, wie wir es
alle aus Alpträumen kennen, und wie es in letzter Überspitzung
in einer Psychose geschehen kann. Deshalb ist es um so wichtiger, die Fülle
dieser Archetypen immer wieder an uns heranzulassen, wie es in der einfachsten
und gesündesten Weise im Umgang mit Märchen geschieht.
Meditation bedeutet, dass der Mensch sich bemüht, den Weg nach innen, zum innersten Personenkern, Schritt um Schritt zu gehen. Ich nenne das den meditativen Weg. Er findet sich in allen Menschheitskulturen und in allen Religionen, bei allen Völkern und zu allen Zeiten - gewiss in sehr unterschiedlichen Formen. Und diese Gemeinsamkeit weist darauf hin, dass dieser Weg nach innen mit einer archetypischen Sehnsucht im Menschen zusammenhängt; dass der Weg nach innen eine im Menschen zutiefst angelegte Weise seines Weges im Vollzug seines Lebens ist.
Dieser Weg interessiert uns in unserem Zusammenhang, was selbstverständlich andere Möglichkeiten nicht ausschließt, sondern, wie oben schon gesagt wurde, auch einseitig und krankmachend wirkt, wo eine gesunde Ergänzung fehlen würde.
Schauen wir uns nun diesen meditativen Weg näher an, so kristallisieren sich bestimmte Verhaltensweisen heraus, die sich immer wieder als diesem Weg zugehörig erweisen. Ich nenne hier einige, die noch weiter ergänzt werden könnten
Es geht darum, uns
ganz auf Bilder einzulassen
Es geht darum, innere
Spannung loszulassen
Es geht darum, wieder
tief zu atmen
Es geht um eine Berührung
mit den Schichten des Unbewussten
Es geht um den Weg
zu unserem Personkern
Es geht darum, wieder
von Kindern zu lernen
- Es ist keine Frage, dass für ein Kind solch ein Märchenerleben nichts anderes ist, als seine - kindhafte - Weise des Meditierens. Was wir in Meditationskursen mit den Teilnehmern erst in langer Vorarbeit methodisch einüben müssen, damit das Meditationsgeschehen den Freiraum zur Entfaltung bekommt, das sehen wir hier bei den Kindern als spontane, selbstverständliche Verhaltensweise vor uns: Das bewegungslose Sitzen – am liebsten auf dem Fußboden -, das gespannte Lauschen, was alle anderen äußeren Störungen einfach ausblendet, das innere, "tiefe" Miterleben des Geschehens, die Korrespondenz des Atmens mit dem inneren Erleben, das wiederholende Umkreisen, das in immer größere Tiefe hineinführt.
- Sprechen wir hier nur von früher,
von einer Zeit, die noch nicht vom Fernseher im Kinderzimmer bestimmt war?
Ich denke nicht. Wenn wir im Meditationszentrum bei den Kirchentagen Märchenmeditationen
anbieten, so werden diese Angebote ganz besonders gern wahrgenommen - von
erwachsenen Menschen, welche spüren, dass ihnen hier etwas für
sie Wichtiges geschieht. Märchen sind ja ursprünglich Volks-
, nicht Kindermärchen!
Der andere Blickpunkt mag sich auf inhaltliche Aspekte des Märchens richten: Was wir oben mit vielen Worten als den Weg nach innen und die zugehörigen Verhaltensweisen zu beschreiben versucht haben, das stellen uns viele Märchen ganz "einfach" in Bildern vor Augen. Sie machen "anschaulich", was so schwer in Worte zu fassen ist.
Länge des Weges
Hindernisse auf dem
Weg
Gefahren des Weges
Chancen des Weges
Ziel des Weges
Haben wir uns auf den Weg nach innen eingelassen, so befinden wir uns auf einer neuen Ebene des Verstehens. Dann verstehen wir nicht nur das, was wir in klare, eindeutige Begriffe fassen können, sondern dann spüren wir, dass wir die Welt in einer neuen Tiefe erfassen, wenn wir sie aus der eigenen Tiefe her anschauen. Und wir erleben immer mehr, dass sich unser Innenleben in einer ständigen Wechselwirkung mit dem befindet, was wir außerhalb von uns wahrnehmen. In einem heute häufig zitierten Wort sagt Erich Fromm, dass wir Menschen eigentlich alle die Symbolsprache lernen müssten, die allen Menschen gemeinsam ist. Es ist "eine Sprache, in der inner Erfahrungen, Gefühle und Gedanken so ausgedrückt werden, als ob es sich um sinnliche Wahrnehmungen, um Ereignisse der Außenwelt handele".
In ähnlicher Weise, aber mit anderer Akzentuierung, sagt Paul Tillich 3, dass man über die letzten und tiefsten Fragen des menschlichen Daseins nicht anders sprechen könne als in Bildern und Symbolen, dass allein die Symbolsprache angemessen ist, wenn der Mensch etwas aussagen möchte über Grundfragen wie Leben und Tod, Schuld und Erlösung, Reifung und Verwandlung.
Deshalb bedienen sich die Mythen aller Zeiten und Völker dieser Bildsprache.
Während nun die Mythen der Völker die allen Menschen gemeinsamen Urfragen ansprechen und im Bildsymbol erkennbar machen, geht es im Märchen überwiegend um bestimmte, aber auch wieder für viele Menschen typische Einzelschicksale. Und auch diese Einzelschicksale in ihrer typischen Grundstruktur übergreifen alle Zeiten und Rassen, wenn auch nicht jeder einzelne Mensch die Grundproblematik seines eigenen Lebens nun gerade in dieser Grundstruktur ausgeprägt finden muss: "Reiche und geizige Menschen" einerseits und "Arme und hilfsbereite Menschen" andererseits (zwei Grundtypen menschlicher Daseinsweise) finden sich bei allen Völkern und zu allen Zeiten, aber in keinem Volk wird jeder Einzelne gerade in dieser Polarisierung die Grundproblematik seines persönlichen Lebens angesprochen finden. Wenn es wiederum auch wohl keinen Menschen geben wird, der nicht in irgendeiner Weise auch in seinem Lebensumfeld und in seinem eigenen Innenleben ein Stück dieser Problematik nachfühlen und sich dadurch in sie einfühlen kann.
Deshalb wird jeder von uns auf verschiedene Märchen auch sehr unterschiedlich reagieren. Manche Märchen werden uns in unserer augenblicklichen Lebenssituation spontan "ansprechen" - während andere eine längere Anlaufzeit brauchen, bis sie etwas in mir zum Klingen bringen. Aber die Bilder ruhen in mir, und es mag sein, dass sie zu einer späteren Zeit in einer anderen Lebenssituation plötzlich wieder auftauchen und mir eine klärende und weiterführende Weisung geben.
Schauen wir uns das nun im einzelnen an, was beim Meditieren eines Märchen geschehen kann - anders gesagt: Wie mir das Meditieren eines Märchens zur konkreten Lebenshilfe werden kann:
Das Märchen zeigt uns unterschiedliche Menschentypen
Sie helfen aber nicht nur zur Klärung in der Begegnung mit der Außenwelt, sondern vielleicht in noch stärkerem Maße vermögen sie ein Stück Licht und Klarheit (durch Differenzierung) in das "innere Chaos", das Dunkel und die Verborgenheit des Unbewussten zu bringen. Und darum vor allem geht es, wenn wir uns meditierend auf Märchen einlassen. Denn was uns da an differenzierten und unterschiedlichen Polarisierungen vor Augen tritt, das ist im Menschen selbst - mindestens als Möglichkeit - alles gleichzeitig anwesend. Was die Bilder des Märchens trennen, ist in mir oft kaum unterscheidbar eng verwoben und miteinander vermischt: das Gute und das Böse, Das "Alte" (das Gewachsene und Gewordene, das sich verfestigt hat) und das "Junge" (die neuen Impulse, die aufbrechen möchten) und vieles andere. Fühle ich mich jeweils in die beiden unterschiedlichen Typen ein, die mir das Märchen vor Augen stellt, so kommen jeweils die gegensätzlichen Pole in mir selbst zum Mitschwingen, ich spüre, was da ist, spüre, wie es unterschiedliches Gewicht in meinem Leben hat, spüre vielleicht, wo jeweils Chancen und Gefahren liegen.
Das Märchen
zeigt unterschiedliche Verhaltensweisen
Das Märchen zeigt mir nicht nur die Menschentypen, sondern auch anschaulich deren unterschiedliche Verhaltensweisen. Schon zu Beginn des Märchens steht und häufig eine Mangel- , eine Not- oder eine Zwangssituation vor Augen, die bedingt ist durch das bisherige Verhalten der Personen, die mit ihrer Not vor uns steht. Gerade weil sie eben nur den jeweils einen Pol in ihrem Leben gelebt hat, hat die Einseitigkeit zu dieser speziellen Not hingeführt.
Aber im weiteren Verlauf zeigt uns dann das Märchen oft die Gegensatzperson (manchmal auch in der Mehrzahl), die nun wiederum durch das ihr angemessene Verhalten den Weg aus dem Mangel und der Not heraus findet.
Die Palette ist weit und vielfältig, die uns allein unsere deutschen Hausmärchen, aber auch die Märchen anderer Völker in der Darstellung der Ausgangssituation anbieten:
- Andere Märchen gehen gleich aufs Ganze: Da geschieht ein Einbruch einer anderen "Welt" - einer bisher unbekannten Seite und Möglichkeit des Lebens, und die Faszination ist so stark, dass keine Macht der Welt den jungen Menschen aufhalten kann, auf die Suche zu gehen nach dem, was ihm fehlt, und was ihm nun als einzig lebenswert erscheint.
- Orientalische Märchen stellen gern konkret eine fehlgelaufene Erziehung mit ihrem Problem an den Beginn eines Märchens: "Ein König hatte fünf schöne, starke, Söhne, die aber so blind und unbändig waren, dass sie sich von niemandem etwas sagen ließen." Ein anderes Märchen beginnt: "Schahriar hatte sein Herz verhärtet. Er hatte Betrug, Verrat und Bosheit erfahren und war ein Frauenhasser und ein grausamer Tyrann geworden." Wir könnten noch lange so fortfahren: Immer geht es bei diesen Märchen um archetypische Ausgangssituationen, welche durch jederzeit mögliche negative Verhaltensweisen konstelliert worden sind - und durch entsprechende positive Verhaltensweisen geheilt werden können
Das Märchen
zeigt uns, dass Rettung möglich ist
Das Märchen
nimmt uns hinein in einen inneren Verwandlungsprozess
Das Märchen
zeigt: Wer das Ziel erreicht hat, rettet auch die anderen
Das Märchen
weiß um die Kostbarkeit der Weisheit
Das Märchen
zielt oft auf die Anliegen der Individuation in der zweiten Lebenshälfte
Doch archetypische Bilder - und das Bild des "Weisen" ist ein solches - lassen sich nicht einfach ausradieren aus dem menschlichen Bewusstsein. Carl Gustav Jung hat in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts entscheidende Erkenntnisse über die Bedeutung der Märchen gehabt. Er hat durch sie das "kollektive Unbewusste" - die allen Menschen gemeinsamen Archetypen entdeckt. Und auf seiner Schulter steht der größte Teil der heutigen Märchenforschung.
Aber Jung gilt gleichzeitig auch als der "Psychologe der zweiten Lebenshälfte": Das Hauptgewicht in seiner Arbeit galt dem Ganzwerden des Menschen, dem "Individuationsprozess". Spätestens in der zweiten Lebenshälfte hat der Mensch die Aufgabe, die Bereiche seines Lebens, die er bisher vernachlässigt hat, die er verdrängt hat und die von daher abgespalten geblieben sind, nun aus dieser Abspaltung ins Leben einzugliedern, aufzunehmen - und die in ihnen gebundenen Energien freizusetzen.
Genau das zeigen
eine Reihe von Märchen als das kostbare Endziel, um dessentwillen
sich alle Mühsal des Weges gelohnt hat. Sie zeigen es - wie könnten
sie anders - wieder in Bildern, in archetypischen Symbolen:
- Ja - die Bilder der Märchen gehen noch darüber hinaus: Das Böse selbst ist zum Schluss völlig und ohne Rest verschwunden, entweder wurde das "relativ Böse" erlöst, verwandelt in seine ursprüngliche, gute Gestalt - oder das "absolut Böse" wurde vernichtet: und wenn es selbst ein Drache war, dessen 12 Köpfe immer wieder nachwuchsen!
Ich sage hier bewusst: "spirituelle Urerfahrungen". Ich hätte auch von geistlichen Urerfahrungen sprechen können - die habe ich hier im Blick. Doch ich habe das umfassendere Wort gewählt, weil es Erfahrungen auf dem spirituellen Weg des Menschen gibt, die über den Rahmen des spezifisch Christlichen hinausreichen. Es gibt Erfahrungen auf dem spirituellen Weg, die sich in unterschiedlichsten Religionen in einer überraschenden Ähnlichkeit finden. Das bedeutet keine Absage an unseren christlichen Glauben, auch keinerlei Relativierung, sondern da es sich hier um Erfahrungen handelt, die Menschen machen, denen es um das letzte und tiefste Lebensziel geht und die ihr ganzes Leben auf diese Wirklichkeit einstellen, die nicht mit Händen greifbar und mit den Sinnen fassbar ist - so hat auch die Ähnlichkeit der Erfahrungen, die Menschen verschiedener Zeiten und Religionen machen, etwas mit den "Archetypen" zu tun.
Ein Mensch, der sich auf die letzte Wirklichkeit einlässt, wird damit auf einem Weg gestellt, auf dem er es mit archetypischen Erfahrungen zu tun bekommt. Das spezifisch Christliche wird dadurch fest in der Wirklichkeit des Menschen verankert, denn schon nach Thomas von Aquin vernichtet ja die Gnade Gottes nicht die Natur und das Natürliche, sondern nimmt es als Grundlage, baut darauf auf - und verwandelt es damit.
Wenn ich in diesem dritten Teil noch einmal neu ansetze, um diese geistliche, diese spirituelle Dimension des Märchens in den Blick zu nehmen, so will ich damit noch einmal alles das aufnehmen, aber gleichzeitig auch vertiefen, was bisher gesagt wurde. Denn das ist ja das Wesen des Meditierens, das sich hier auch formal in dem Vorgehen niederschlägt: Es geht darum, die Mitte immer wieder auf einer neuen, auf einer tieferen Ebene zu umkreisen, um so - in einer gewissermaßen trichterförmigen Bewegung (nach Klemens Tilmann 5 ) zu immer mehr zum "Grund", zum Wesen vorzudringen - besser: sich von dieser Dynamik mitnehmen zu lassen.
Wenn die Bibel von den tiefsten Erfahrungen des Menschen, von Tod und Leben, von Sünde und Erlösung, von Gott selbst spricht, dann tut sie es in Bildern. Und wenn Jesus von seinem Vater redet und von dem kommenden Reich Gottes, dann tut er es gleicherweise in Bildern und Gleichnissen. Das ist die angemessene Aussageweise für diese Dimension des Lebens.
Das gilt aber ebenso auch umgekehrt: Jedes echte Bildsymbol, jedes archetypische Symbol trägt in sich die Mächtigkeit, auf das verborgene Geheimnis der Transzendenz, auf Gott selbst hinzuweisen.
Jedes Bild ist offen - es wird verstanden von dem, der sich darauf einlässt, in der Dimension seines eigenen Zustandes, seiner eigenen Fragen und Erfahrungen. Deshalb sind für die Menschen der Bibel - zum Beispiel für die Sänger und Dichter der Psalmen - die Dinge dieser Welt selbstverständliche Symbole für Gott. Erfahrungen ihres menschlichen Daseins, wie etwa Sturmfluten und Gewitterstürme, werden zum selbstverständlichen äußeren Bild innerer Gotteserfahrungen.
Schon für den alttestamentlichen Menschen - damit unterscheidet er sich von den umliegenden Völkern - ist die Welt selbst nicht mehr göttlich, aber alles, was er in der Natur und Geschichte erlebt, wird für ihn zum Gleichnis, zum Symbol für Gott und sein Wirken. Anders kann er es nicht in Worte fassen, was er mit seinem Gott erlebt hat. Und für den, der sich betend den Psalmen anvertraut, bringen diese Bilder in ihm selbst die eigenen Gotteserfahrungen zum Mitklingen; sie werden durch die Bilder ins Bewusstsein gehoben und aussprechbar gemacht. Für den religiös - für den von Gott angerührten Menschen bekommt jedes archetypische Bild eine religiöse Dimension. Lesen Sie daraufhin einmal irgendwelche Predigten wirklich geistlicher Menschen - beachten Sie deren Umgang mit Bildern - und es braucht keiner weiteren Beweise mehr.
Wenn nun in unserer Zeit in einer ganz neuen Weise die Märchen mit ihren archetypischen Bildkomplexen von Psychologen neu entdeckt werden, so brauchen wir als Christen diese Neuentdeckung nicht den Psychologen allein zu überlassen. Sie werden - gemäß ihres Ansatzes - aus den Bildern und Symbolen der Märchen psychologische Erkenntnisse gewinnen. Und sie werden Märchen in der Therapie einsetzen können, um Menschen zu helfen, ihren eigenen Weg der Selbstwerdung zu finden. Das sehe ich nicht als außerhalb des christlichen Weges liegend, sondern mitten darin, als Grundlage des Weiteren. Aber wir als Christen können weitergehen: Die archetypischen Bilder des Märchens haben für den geistlich suchenden Menschen eine geistliche Dimension, und die gilt es, herauszuspüren. Was meint das konkret?
Ich nehme wieder auf, was schon gesagt wurde, und versuche, es auf der geistlich-spirituellen Ebene neu zu sehen. Ich könnte auch sagen: Ich versuche, grundlegende Aussagen der Märchen so in der Richtung auf Gott hin zu sehen, dass die Bilder transparent, durchscheinend werden für die letzte geistliche Wirklichkeit:
Der Christ braucht neben der Aktion die Kontemplation
- Das gilt für alle äußeren
Dienste in der Kirche. Es gilt - und wird dort noch klarer ausgesprochen
für die Menschen, die (z.B. in einem kontemplativen Orden) unmittelbar
Gott im Sinne und als Ziel ihres Lebens haben. Ganz besonders ausgeprägt
ist das bei den christlichen Mystikern. "Du findest Gott niemals wirklich,
wenn du ihn nicht in dir selbst, auf dem tiefsten Grunde deiner Seele findest",
sagt bereits der heilige Augustin. Johannes Tauler wird nicht müde,
in seinen Predigten zu sagen: Geh in dich selbst, in deinen tiefsten Grund,
lege ihn frei, damit sich Gott darin spiegeln kann. Er kann sagen: Ein
Mensch, der das nicht täglich tut, der "lebt nicht als ein rechter
Christ". Und vielleicht kenne wir den vielzitierten Satz von Karl Rahner,
der schon vor einigen Jahrzehnten gesagt hat: Der Christ der Zukunft
wird ein Mystiker sein (d.h. einer, der seine eigenen, inneren Erfahrungen
mit Gott gemacht hat), oder er wird überhaupt nicht mehr sein.
6 Denn den harten Gegenströmungen unserer heutigen Welt
ist nur derjenige gewachsen, der sich als Christ nicht nur auf Gehörtes
und Gelesenes berufen kann, sondern auf die Wirklichkeit, die er in sich
selbst erfahren hat.
Das Märchen kann uns helfen, als Christ den Weg zu Gott zu suchen
Das Märchen
kann uns helfen, auch das Kreuz in einem neuen Licht zu sehen
Das Märchen
kann uns zeigen, wie wichtig eine Möglichkeit des Neubeginns nach
einem Versagen ist.
Das Märchen
kann uns unsere stellvertretende Macht gegenüber den "Dämonen"
unserer Zeit aufzeigen
- Ich kann mich noch erinnern, wie nach 1949 unter uns jungen Menschen handgeschriebene Gedichte herumgingen, auswendig gelernt wurden und immer neu abgeschrieben - Gedichte von Bergengruen und von Reinhold Schneider - welche es wagten, wieder davon zu sprechen, dass es Mächte und Gewalten der Bosheit gibt, die in der Menschheit wirken, ohne dass die Menschen sie erkennen.
- Und heute ist es nicht so viel anders als damals. Nur die Probleme haben sich verlagert. Die Märchen wissen etwas davon, wie ein Mensch sich diesen Gewalten stellt, mit ihnen ringt, um endlich zu siegen - und damit sich selbst Erlösung zu schaffen für alle, welche durch die bösen, dunklen Gewalten verwandelt, in deren Bannkreis geraten waren.
Das Märchen
kennt den christlichen Grundgedanken der Erlösung
- Hier mag die Frage auftauchen: Verlassen hier nicht die Märchen den christlichen Weg, sprechen sie nicht von der Möglichkeit bestimmter Menschen, sich selbst - und dadurch auch andere - zu erlösen? Sicher kann man Märchen so lesen. Aber Bilder sind immer offen. Und wie ich sie deute, das kommt auf meine Voraussetzung an. Man kann die verschiedenen "Erlösungsmärchen" auch gerade so hören, dass die entscheidenden Siege über das Böse eben gerade nicht vom Menschen allein zu erringen sind, sondern dass gerade an den gefährlichsten Stellen die hilfreiche Macht von außen da ist - und die Gefahr zu überwinden hilft. Nie tut sie das ohne die letztmögliche Beteiligung des Märchenhelden, aber dennoch würde er allein auf sich gestellt niemals die Gefahren bestehen. Und genau so verstehe ich die Aufforderung des Paulus, die so paradox klingt: "Schaffet, dass ihr selig werdet - mit Furcht und Zittern - denn Gott ist‘s, der beides in euch wirkt, das Wollen und das Vollbringen" (Phil.2,12f) Ein Ausleger sagte einmal dazu: Wir müssen 100% tun - und Gott ,muss 100 % tun. Bilder des Märchens können etwas von diesem Geheimnis verdeutlichen.
Das Märchen
kennt das Ziel des "Lebens in Fülle" (Joh 10,10)
- Wieder sind es die christlichen Mystiker, die diesen Weg ausgeschritten haben bis zu einem Ziel hin, das für uns meist sehr in der Ferne zu liegen scheint: Für Meister Eckehart würde das Bild der Goldenen Kugel der Ganzheit des Menschen das Ziel anzeigen, das er so formuliert: "Gott ist Eins - und eins (in sich) muss der Mensch werden, wenn er Gott begegnen will". Dieses Einswerden meint aber bei Eckehart nichts anderes als dass alles, was an inneren Gegensätzen im Menschen klafft, zusammenfindet. Und dies ist für ihn die unerlässliche Voraussetzung der Gottesbewegung.
- Oder nehmen wir das Bild des Lebenswassers, das an verborgener Stelle entspringt, und alles Kranke gesund, alles Tote wieder lebendig macht: Erinnert es uns nicht an die Worte Jesu im Johannesevangelium: "Das Wasser, das ich geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt" (Joh 4,14). - Gerade in diesem Gespräch mit der samaritanischen Frau macht es Jesus deutlich, dass es um eine Art vom Leben geht, die alles "normale" Leben qualitativ weit übersteigt. Und dieses Wasser bringt Jesus. Dieses Wasser hat er auf seinem Weg für uns erschlossen, doch nun soll es in uns selbst weiterquellen, immer neu und lebendig: Als Wasser, das in das ewige Leben fließt.
- Die Mystiker sind den Weg zu diesem Ziel konsequent gegangen. Die Märchen mit ihren archetypischen Bildern zeigen mir, dass diese tiefste Sehnsucht nach einer allerletzten Erfüllung etwas mit Begegnung zwischen Du und Du, mit Liebe im tiefsten Sinn zu tun hat.
1 Gehalten
als Vortrag in Innsbruck 1989 etwas überarbeitet (Der Vortragsstil
wurde beibehalten)
2
Linde Thylmann, Der Rosengarten, Herder 1979, S.5f
3 Paul Tillich, Systematische Theologie, Stuttgart 1955 Bd. 3
4 Immer müssen wir uns bei dieser Sicht der Märchen vor Augen halten, dass alle im Märchen vorkommenden Personen nur verschiedene Aspekte einer einzigen Person sein können, - dass es also von daher gesehen unwichtig ist, ob sich die Person, von der das Märchen ausgeht, sich selbst auf den Weg macht, oder ob diese Aufgabe von einer anderen Person - meistens dem jüngsten Sohn - wahrgenommen wird.
5 Klemens Tilmann, Die Führung zur Meditation, Zürich 1972 4
6 Karl Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 7, Einsiedeln 19666, 22
7 Augustin,
Bekenntnisse, Union-Verlag, Berlin