Woche 15

Das Ziel vor Augen haben,
mich mehr und mehr in die Sendung Jesu Christi hineinnehmen zu lassen


Einführung in die fünfzehnte Übungswoche
Der dritte "Raum", in dem sich mein Hineingenommenwerden in die Schicksalsgemeinschaft mit Christus abspielen kann, ist das Eingehen in die Sendung Jesu Christi.

Schon zu Lebzeiten sendet Jesus seine Jünger aus - ein symbolisches Zeichen für die große Sendung, die der Auferstandene seinen Jüngern anvertraut, die Fortsetzung seiner eigenen Sendung in diese Welt: "Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker" (Mt 28,19). Das ist das Ziel unseres geistlichen Lebens - ein Ziel, das uns Gott selbst vor Augen stellt. Was ein Ziel für den bedeutet, der darauf zugeht, soll hier wieder nach verschiedenen Richtungen hin entfaltet werden:

- Erstens: Ein Ziel, das ich vor Augen habe, zieht mich an.

Im Leben kann ein lohnenswertes Ziel eine dynamische Macht ausüben - wie ein Magnet zieht es einen Menschen zu sich hin. Früher sprach man deshalb von einer "Zielursache", die den Menschen zu einem bestimmten Tun bewegt: die Kraft zu dieser Bewegung geht aus von dem Ziel, das mich anzieht und mir die Wege zu seiner Erreichung vor Augen stellt. Je leidenschaftlicher ich das Ziel anstrebe, desto größere Kraft setzt es in mir frei. Ich brauche mir nur einmal den Unterschied vor Augen zu halten, wie schnell ich nach einem Spaziergang müde bin - und wie ich nach der gleichen Wegstrecke bei einer großen Wanderung noch die ganze Kraft des Aufbruchs in mir fühlen kann.

Für die Übungen dieser fünfzehnten Wochen gilt nun in besonderer Weise, daß ich einfach das vor mir liegende Ziel anschauen sollte, daß ich meditierend in solchem Schauen verharre - um mich dadurch mehr und mehr der Kraft seiner Anziehung auszusetzen. Dieses Schauen auf das Ziel, diese wartende Mich-Aussetzen, damit es etwas mit mir machen kann, ist nichts anderes als intensives Gebet, Gebet ohne Worte. Dabei ist eines sicher: Erreichen kann ich dieses Ziel niemals in diesem Leben, etwa so, wie ich einen Berggipfel erklimmen kann. Und dennoch: "Der Sonne entgegen" kann zum Lebensinhalt werden - auch dann, wenn ich weiß, daß die Sonne selbst für mich immer unerreichbar bleiben wird.

- Zweitens: Ein Ziel, auf das ich zugehe, verändert mein Leben

Habe ich ein lohnendes Ziel vor Augen, so fällt es mir nicht schwer, andere verlockende Wege gelassen zu übersehen, einzig darauf bedacht, den richtigen Weg zu finden - den Weg, der zum Ziel hinführt. Und je konsequenter ich das Ziel allein suche, desto wichtiger wird dieses für mich, desto unwichtiger wird alles andere. Das Ziel, das Gott uns vor Augen stellt, ist das Einbezogenwerden in die große heilsgeschichtliche Sendung Jesu Christi. Indem ich mich nun mehr und mehr mit meinem ganzen Dasein auf die Dynamik diese Ziels einlasse, werde ich vielleicht eines Tages bemerken, daß in meiner Art, wie ich die Botschaft an andere weiterzugeben versuche, eine deutliche, mir selbst aber bis dahin verborgene Akzentverschiebung stattgefunden hat. Alles, was ich selbst tue oder getan habe, verliert das Gewicht dem gegenüber, was an mir geschieht. Immer häufiger kann ich mich als jemanden erleben, durch den etwas getan wird. Auch damit hat Gott seinen Plan: Wieviel unerlöstes "Ich" ist auch noch unseren frömmsten Aktivitäten untermischt! Wie sehr suche ich bei allem, was ich als Dienst für Gott tue, doch auch immer noch mich selbst, meine eigenen Entfaltungsmöglichkeiten, meine eigene Erfüllung und Befriedigung: wie wichtig ist mir die Anerkennung der Menschen und vieles andere. Das ist so, dem muß ich einfach ins Auge sehen. Vielleicht bin ich zum Beispiel gerade dort, wo ich selbst ein starkes Erlebnis hatte und eine wichtige Glaubenserfahrung machen konnte, voll missionarischen Eifers, dieses Erleben auch anderen vermitteln. Und ich meine, was mir selbst entscheidend wichtig geworden ist, müsse nun auch für jeden anderen Menschen von gleichem Gewicht für sein Glaubensleben sein. Doch eines Tages stehe ich dann plötzlich vor den Trümmern meines so gutgemeinten Engagements: Ich sehe und muß mir eingestehen, daß das, was für mich das einzig Wahre und Gute schien, für den anderen durchaus nicht diesen Wert besitzt, wie ich selbst es erlebt habe. Dann muß ich lernen, daß Gott mit einem jeden Menschen seine eigenen Wege geht. Und ich werde begreifen müssen, daß mein Zeugnis nur dann vom anderen als echt und überzeugend angenommen werden kann, wenn es keine zwingende oder auch nur fordernde Macht über ihn beansprucht. Das anzunehmen mag mir zuerst recht schwerfallen. Doch vielleicht finde ich mich dann Überraschenderweise selbst eines Tages in einer inneren Gelassenheit vor, die mir vordem unerreichbar schien: Ich kann es annehmen, ja, ich kann mich sogar darüber freuen, daß andere ihre eigenen Wege finden. Und ich kann gelassen feststellen, daß andere von dem, was ich ihnen zu vermitteln suchte, gerade etwas als entscheidende Hilfe erfuhren, was mir persönlich unwichtig erschien.

Oder es kann geschehen, daß ein Mensch, der sich lange Jahre seines Lebens hindurch geradezu unwiderstehlich zu bestimmten Vollzügen seines christlichen Daseins hingezogen fühlte (zur Meditation, zum Gottesdienst, zu einem Gesprächskreis oder wozu auch immer), der meinte, ohne solches nicht leben zu können, eines Tages einen inneren Abstand, eine Loslösung von diesen Dingen spürt, die er kaum deuten kann. Wenn damit aber ein noch intensiverer Eifer verbunden ist, alles zu tun, was in seinen Kräften steht, um anderen Menschen zur Freude in Gott zu verhelfen, dann kann ihm die Ahnung kommen, daß er vielleicht jetzt in den Raum des Gesendetseins eingetreten ist, wo eigene Aktivität immer mehr zurückbleibt und wo er mehr und mehr reines Werkzeug in der Hand dessen ist, der auch heute noch die Seinen in die Welt sendet.

- Drittens: Ein Ziel, dem ich mich nähere, tritt mir immer klarer vor Augen

Je vertrauter mir Jesus Christus wird, desto deutlicher wird mir, welches zentrale Wort er über sich gesagt hat, als er sprach: "Ich bin der Weg" (Joh 14,6). Er zeigt uns nicht nur einen Weg; er nimmt für sich in Anspruch, der Weg zu sein, und zwar der Weg, der über den Abgrund der Unendlichkeit hinweg Himmel und Erde, Gott und Mensch verbindet. Als "wahrer Gott" ist er der Weg Gottes zu den Menschen, als "wahrer Mensch" führt er uns Menschen wieder zu Gott zurück - der gleichzeitig unser Ursprung und unser Ziel ist.

Wenn wir nun durch das "für euch" Jesu zur Schicksalsgemeinschaft mit Christus gerufen sind, dann bedeutet diese Schicksalsgemeinschaft, daß wir - je an unserer Stelle und in unserer eigenen, einmaligen und unersetzbaren Weise - in dieses "Weg"-Sein Jesu hineingenommen werden sollen. Wer Zeuge der Auferstehung Jesu ist, das heißt, wer mit seinem ganzen Dasein die Auferstehungsbotschaft bezeugt (unter Umständen bis in den Tod hinein), der ist mit seinem Leben nicht nur Botschafter, sondern selbst Botschaft der Auferstehung geworden. Solch ein Mensch ist Träger des Gottesheils zu den Menschen, in diese Welt hinein. so kann jeder an seiner Stelle, in dem Lebensraum, in den er hineingestellt ist, Träger der Liebesbotschaft Gottes für die Welt sein - und damit der Weg werden, durch den die Liebe Gottes Menschen erreichen kann. Doch das gleiche gilt auch in umgekehrter Richtung: als "wahrer Mensch" hat Christus das ursprüngliche Bild des Menschen, wie es von Gott in der Schöpfung gemeint war, wiederhergestellt. Der Apostel Paulus schreibt in tiefer Freude: "Wenn ... jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden" (2 Kor 5,17). Damit nimmt er den eben genannten Gedanken auf und weitet ihn aus auf jeden Menschen, der "in Christus ist". Je mehr ein Mensch "in Christus" lebt, also in die Schicksalsgemeinschaft mit Christus eingetreten ist, desto mehr wird er zum "neuen Menschen", wächst er hinein in das Bild des Menschen, den Gott ursprünglich in seiner Schöpfung gemeint und gewollt hat. Es ist der Mensch, der mit seinem ganzen Leben auf die unergründliche Liebe Gottes die Antwort seiner Liebe gibt, ja, der mit seinem ganzen Sein zur Antwort auf diese Liebe wird, wie es in Christus aufleuchtet. Solch ein Mensch ist der auf Gott bezogene, mit Gott in ursprünglicher Liebe verbundene Mensch - er lebt nicht für sich selbst, sondern "dem Herrn": "Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn" (Röm 14,8). Und dann wird dieser Mensch, der in Christus neu lebt, hineingenommen in die große, alle Zeiten und Räume umgreifende Heilsdynamik Gottes, die in Christus begonnen hat; "Christus ist auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind ... In Christus werden alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören ... Wenn aber alles ihm (Gott, dem Vater) untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem" (1 Kor 15,20;22f;28).

Je mehr ein Mensch "in Christus" ist, desto mehr wird er in diese allumfassende Heilsdynamik der Welt hineingezogen, an deren Ende alles wieder in Gott, den Ursprung und das Ziel alles Seins, einmündet.

Mit Christus "Weg" werden, ein winziger Teil des Weges, auf dem dieses geschieht, das ist ein uns weitgehend verlorengegangener Gedanke. Aber er ist biblisch. "Priesterliches Dasein" der Christen meint das gleiche: an unserer Stelle die Welt, die sich von Gott abgewandt hat, wieder in die Richtung auf Gott hin zu bringen - das geschieht nicht nur für mich, sondern ein Stück stellvertretend für die anderen. Alles ist und bleibt in diesem Äon zeichenhaft, symbolisch - doch in solchem Symbol ist ein Stück über sich hinaus weisende wahre Erfüllung bereits enthalten.

Weg werden, in und durch Christus: nicht nur vom Licht in das Dunkel dieser Erde, sondern auch aus dem Dunkel zum Licht; nicht nur von Gott zu den Menschen, sondern auch wieder von den Menschen zu Gott - darum geht es in einem geistlichen Leben, in der Nachfolge dessen, der immer sowohl für die Menschen als auch für Gott gelebt hat.

- Viertens: Ein Ziel, dem sich Menschen aus verschiedenen Richtungen nähern, bringt diese Menschen näher zusammen.

Als ein Grundanliegen durchzog der Wunsch Jesu nach der Einheit der Kirche das ganze Kursangebot. Darauf möchte ich in der Einführung dieser letzten Übungswoche noch einmal zurückkommen. Die Auffächerung der Übungen in "Bild werden", "Wort werden" und "Gabe werden" fiel mir fast ungewollt zu. Vor Jahren formulierte ein junger katholischer Priester das Grundanliegen seines Priestertums mit den Worten: "Mache mich zur lebendigen Hostie (=Opfergabe) für die Menschen." An diese Worte erinnerte ich mich sofort, als ich vor kurzem das Gebet einer orthodoxen Christin las: "Mache mich für die Menschen zur lebendigen Ikone." Was lag näher, als dazu das entsprechende evangelische Gebet zu formulieren: "Mache mich zu deinem lebendigen Wort für die Menschen"?

Nicht als einander ausschließende Gegensätze, sondern als Möglichkeiten fruchtbarer Ergänzung hat Gott jedem Menschen, aber auch jeder Kirche ihre besonderen spirituellen Gaben gegeben, mit dem Wunsch: "Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes" (1 Petr 4,10). Ungeklärte theologische Fragen hindern noch die sichtbare Einheit der Kirche. Was jedoch die verschiedenen Kirchen an spirituellem Reichtum haben, was in Jahrhunderten gewachsen ist, das dürfen sie einander schenken, auch heute und jetzt schon. Und so mag auch dieses Kursangebot ein kleines Stück Weg werden und geworden sein - Weg, der zueinander führt, indem er uns gemeinsam zu Gott hinführt: Je näher die Strahlen der Sonne sind, desto näher sind sie sich auch untereinander. Dieses Bild finden wir schon in den ersten Jahrhunderten der Kirche als Gleichnis.


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