Karin Johne
Vom Umgang mit der Angst  1
 

Überblick:
1. Eigenschaften der Angst.
Angst hat die Tendenz, sich zu verbergen.
Angst steckt an, wo ich sie verdränge.
Angst gewinnt um so mehr Macht über mich, je höher das Objekt, worauf sich meine Angst richtet, auf der Skala meiner Werte steht.
Angst treibt den Menschen dazu, gerade das anzusteuern, wovor er eigentlich Angst hat.
Angst ist der "Dämon", der das, was mir dienen sollte, zum Tyrannen über mich werden lässt.
2. Gebiete und Wirkungskreise der Angst.
Die Angst vor Verlusten.
Die Angst vor Gefahren.
Die Angst vor Verwandlung.
3. Geistliche Dimensionen der Angst.
Jesus weist uns hin auf die Freiheit, die der Verzicht auf äußeren Besitz schenkt.
Jesus weist hin auf die Freiheit, die im Vertrauen liegt

"In der Welt habt ihr Angst"
"Herr, sei mir gnädig, denn mir ist angst; vor Gram zerfallen mir Auge, Seele und Leib" (Psalm 31,10). Beim Nachsinnen über das Thema der Angst sprang mich beim Beten dieser Vers an. Sagt er nicht Entscheidendes aus über das Phänomen der Angst, der wir uns alle mehr oder weniger ausgeliefert erleben - besonders dann, wenn wir es uns nicht zugeben wollen?

Angst hat ursprünglich eine positive Funktion für das Leben: Sie will uns auf Gefahren aufmerksam machen, damit wir rechtzeitig vor der Gefahr fliehen oder ihr angemessen begegnen können. Ohne Angst wären schon viele Tierarten ausgestorben - und hätte auch der Mensch bisher wohl auch kaum überlebt.

Nun aber tritt beim Menschen neben diese "positive Angst" eine "negative Angst", eine Form von Angst, die ich durch dieses Bibelwort angesprochen sehe: "Vor Gram zerfallen mir Auge, Seele und Leib"..." Es gibt Angst, die mir meinen Blick verdunkelt, anstatt ihn zu schärfen ("Auge"); es gibt Angst, die mich von innen her lähmt und alle meine Lebensfunktionen brachlegt, anstatt sie zu aktivieren ("Seele"); und Angst, die wie ein permanenter Giftstoff meinen Körper von innen her zerstört ("Leib").

Ein Leben unter der Macht und Herrschaft dieser Form von Negativ-Angst ist kein volles, sondern ein sehr beschnittenes und eingeschränktes Leben. Wo im Leben eines Menschen die Angst krankhafte Züge annimmt, braucht diese These keine weitere Erklärung. Solche Menschen würden wer weiß was auf sich nehmen, um aus diesem Teufelkreis der Angst einmal herauszukommen. Wie ernst dieses Thema aber für jeden Menschen ist, zeigt schon, dass zwei so unterschiedliche Tiefenpsychologen wie Fritz Riemann und Eugen Drewermann  3 beide in der Angst den Schlüssel für die menschliche Not überhaupt sehen.

Beim Nachdenken über diese gewaltige, destruktive Angst-Macht, die unser Leben oft so sehr bestimmt, erinnere ich mich an die Wüstenväter, die ihr Leben lang "den Umgang mit Dämonen" geübt haben: Sie wussten sehr wohl, dass es sich bei den Mächten, die sie als "Dämonen" erlebten und bezeichneten, weitgehend um innerpsychische Wirklichkeiten handelt. 4 Aber sie benannten sie und stellten sie in ihrer Vorstellung nach außen, um mit ihnen umgehen zu können. Nur so lernten sie, diese Mächte zu besiegen und schließlich sogar, sie sich dienstbar zu machen.

Nun gehört die Angst zwar nicht zu den acht klassischen Lastern, auf die sich die Dämonenlehre des frühchristlichen Mönchtums bezieht. Doch gehört die Angst untrennbar zu einigen dieser Gefahren dazu. Der "Dämon" der Habsucht könnte zum Beispiel seine Gewalt über den Menschen nicht ausüben, wenn er nicht die Angst im Menschen anspräche, er könne eventuell irgendwann einmal nicht mehr genug zum Leben haben. Und wie weit unsere Aggressionen - von den Wüstenvätern unter dem Stichwort des Zornes benannt - letztlich der Angst entspringen, selbst angegriffen und bedroht zu werden, davon wissen die Psychologen viel zu sagen.

Ich möchte so vorgehen, dass ich die Arbeitshypothese der Mönche übernehme, und von dieser negativen Angst als einer realen Macht in unserem Leben rede, dass ich sie gewissermaßen personifiziere, wenn ich von ihr spreche.


1. Eigenschaften der Angst.
Versuchen wir zuerst einmal, einige Eigenschaften dieses "Angstdämons" in den Blick zu bekommen. Um einen Dämon kennenzulernen - der erste Schritt, um ihn dann besiegen zu können - besteht darin, diesen "Dämon" zu benennen und ihn zu beobachten. Wir lernen die Angst kennen, wenn wir wagen, die Ängste anzuschauen, die unser Leben bestimmen und unterdrücken wollen. Dabei können sich einige wichtige Erkenntnisse einstellen, die allerdings keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben:

Angst hat die Tendenz, sich zu verbergen.

Es war vor vielen Jahren während einer Kur, als ich das Thema "Angst" in einer kleinen Kaffeerunde aufwarf. Eine sehr kompakt erscheinende Frau wehrte sich gegen dieses Thema: "Ich kenne keine Angst - wovor sollte ich Angst haben?". Doch nach nur wenigen Minuten, während sich das Gespräch an das Thema herantastete, sprang sie so heftig von ihrem Stuhl auf, dass er umstürzte, rannte hinaus und warf die Tür hinter sich zu, in einer Weise, wie sie es sonst wohl kaum öffentlich getan hätte. Uns allen war sofort deutlich, welche Macht die Angst im Leben dieser Frau besaß - gerade dadurch, dass sie sie verdrängte und sich nicht eingestand. Verdrängte Angst hat aber viel größere Gewalt über den Menschen als offen zugegebene und ausgesprochene Angst.

Angst steckt an, wo ich sie verdränge.

Noch heute sehe ich eine unserer Töchter bei ihrer Schulaufnahme verzweifelt schreien. Die Lehrer waren hilflos, und wir Eltern noch mehr. Wochenlang vorher hatte sie schwere Schlafstörungen gehabt und uns Eltern keine ruhige Nacht gegönnt. Ihre Hauptfrage ließ sie jede Nacht vielmals aus dem Schlaf aufschrecken: "Was wird, wenn ihr diese Nacht sterbt?" Wenige Tage später kam sie glücklich aus der Schule heim mit ihrer ersten Eins, die sie auf eine gemalte Zuckertüte bekommen hatte. Von da an schlief sie durch und ging gern zur Schule.

An diesem Beispiel wird gleich zweierlei deutlich:

a) Ihre wirkliche Angst hatte das Kind vor dem neuen Lebensabschnitt, vor der Schule gehabt. Die Angst, die Eltern könnten sterben, war gewissermaßen eine "Ersatzangst" - mit der sie sich vor sich selbst und vor uns anderen ihre eigentliche Angst vor der Schule verborgen hatte. Weil die eigentliche Angst aber verdrängt war, konnte sie nicht angeschaut, nicht ausgesprochen und nicht verarbeitet werden. Dadurch entfaltete sie ihre ungebremste Macht aus dem Unbewussten her - und wir alle waren demgegenüber ratlos. Weil die Angstursache nur eine scheinbare war, konnten wir ihr auch mit keinem Mittel beikommen.

b) Uns Eltern wurde dabei klar, dass wir selbst Angst davor gehabt hatten, dieses sensible Kind in die Schule gehen zu lassen, die in ihrer Klasse die Jüngste sein würde. - Das Kind hatte unsere Angst als ihre eigene Angst übernommen, obwohl wir sie vor dem Kinde nicht ausgesprochen hatten. Unsere Angst hatte das Kind "angesteckt". Gerade die Tatsache, dass auch wir Eltern selbst unsere Angst nicht zugegeben hatten, machte ihre Wirkung auf das sensible Kind um so stärker.

Angst gewinnt um so mehr Macht über mich, je höher das Objekt, worauf sich meine Angst richtet, auf der Skala meiner Werte steht.

Mir ist es erst in letzter Zeit klar geworden, weshalb es im Orient zu so anderen Verhaltensweisen der Menschen kommen kann als im Abendland: Wo in einer fundamentalistischen Religion oder einer politischen Ideologie der Mensch sein eigenes Leben viel geringer einschätzt als das Überleben des Staates oder die Regeln der Religion, dort ist auch entsprechend die Angst, das eigene Leben zu verlieren, geringer als die Angst um die "Sache", um die es geht. Ein junger Iraker im Fernsehen steht mir noch deutlich vor Augen: Gefragt, ob er sich freiwillig für den Krieg melden würde, obwohl er fallen könne, erwiderte er fast strahlend: "Dann beginnt ja erst mein eigentliches, wahres Leben - was kann mir geschehen?" In dieser Überzeugung sind auch die christlichen Märtyrer freudig in ihren Tod gegangen - so fremd uns das heute oft anmuten mag.

Angst treibt den Menschen dazu, gerade das anzusteuern, wovor er eigentlich Angst hat.

Es ist paradox, und doch wahr, - ich habe es aus dem Munde einer inzwischen erwachsen gewordenen Frau gehört: Als Kind lernte sie nie das Fahrradfahren, weil sie vor jedem Hindernis, was ihr entgegenkam, solche Angst hatte, dass sie unmittelbar auf die Gefahrenquelle zusteuerte, - ohnmächtig, diesem Drang zu widerstehen. Das mag uns krankhaft vorkommen - und ist in dieser Ausprägung zum Glück auch nicht das Normale. Aber gerade dieses Beispiel kann ein Vorgehen der Angst verdeutlichen wie kaum ein anderes: Die Angst treibt den Menschen dazu, gerade das zu tun, was widersinnig ist, weil es das hervorruft, wovor er Angst hat:

Hier einige Beispiele:

- Wie viel gefährdeter ist eine Ehe, wenn ein Partner eifersüchtig ist - aus Angst, er können seinen Partner verlieren - als eine Ehe, die sich auf gegenseitiges Vertrauen gründet?

- Warum kann ich gerade vor einem Tag mit schweren Belastungen, die auf mich zukommen, stundenlang nicht einschlafen, obwohl ich doch gerade für den nächsten Tag den Schlaf besonders dringend brauchte? Überhaupt: Warum kann ich nicht einschlafen, wenn ich Angst davor habe, nicht schlafen zu können?

- Warum rüsteten die Weltmächte auf - aus Angst vor einem Krieg? Und merkten es gar nicht, wie gerade ihre Aufrüstung die Kriegsgefahr verstärkte? Das ging so lange, bis ein Politiker den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen wagte, und statt weiter aufzurüsten mit Abrüstungsverhandlungen begann.

Das alles hat mit der These zu tun, dass die Angst Macht über mich ausübt und mich dabei "zwingt", gerade das anzusteuern, wovor ich am meisten Angst habe.

Das geht bis in sehr subtile Bereiche hinein: Als unsere Kinder noch klein und sehr oft krank waren, sagte mir eine Bauersfrau, die mit beiden Beinen auf dem Boden stand: "Sie haben viel zu viel Angst davor, dass Ihre Kinder krank werden können - dadurch sind sie so viel krank!" Ich war fassungslos - aber sie hatte recht. Mit dem Abbau meiner Angst verringerten sich schlagartig die Krankheiten unserer Kinder! Vermindert Angst vor Ansteckung wirklich die Immunkräfte des Körpers - nicht nur für den eigenen Körper, sondern sogar für andere?

Angst ist der "Dämon", der das, was mir dienen sollte, zum Tyrannen über mich werden lässt.

Schon im Tierreich gibt es eine Fehlreaktion aus Angst: Das Kaninchen, das auf die Schlange starrt, anstatt auszureißen, ist schon sprichwörtlich geworden. Aber auch im menschlichen Bereich kennt man den "Typ" des Geizhalses, der mitten in seinen Goldstücken verhungert - aus Angst, etwas auszugeben und nicht mehr genug zu essen zu haben. Wovor immer ich Angst habe, dem gebe ich Macht über mich, mich zu tyrannisieren. Das heißt doch mit anderen Worten: Angst und Freiheit hängen aufs engste zusammen...


2. Gebiete und Wirkungskreise der Angst.
Auch hier wieder kann nur versuchen, einige Hinweise zu geben, die zu eigenem Weiterdenken anregen können:

Meister Eckehart führt Angst darauf zurück, dass der Mensch Angst davor hat, etwas zu verlieren: "Nun sage ich weiter, dass alles Leid aus der Liebe zu dem kommt, was mir der Schaden genommen hat."  5Sicher machen die Ängste vor Verlusten einen großen Teil unserer Ängste aus. Aber neben der Angst vor Verlusten gibt es auch die Angst vor Gefahren und Schmerzen - sowie die Angst vor allem Neuen, Unbekannten, die jeder echten Krise innewohnt - und vielerlei weiter Ängste mit ihren verschiedenen Nuancen, die unser menschliches Leben bestimmen.

Denn das ist unbestritten: Angst gehört einfach zum menschlichen Leben dazu. Die Hauptfrage ist die, wie wir mit der Angst umgehen, wie wir unsere "Negativ-Ängste" in positive Ängste umwandeln können. Einige kleine Hinweise können vielleicht als Hilfe angeboten werden.

Die Angst vor Verlusten.

In wie vielen Gesprächen geht es um Ängste, etwas zu verlieren! Ganz wichtig ist es hier, hinter der vordergründigen Angst die so oft verborgene, eigentliche und wahre Angst zu erkennen.

Das kann in einer humorvollen Weise geschehen: In einer äußerst kritischen Situation meines Lebens, als mir ein Verlust drohte, der für mich ins Zentrum meines Lebens zu gehen schien, erzählte mir jemand, er habe eine Karikatur gesehen, die ihn zum herzlichen Lachen veranlasst habe: Tieftraurig steht ein Mensch gebückt vor einem Sarg: "Mein Idol ist gestorben!!" - und dann folgt das nächste Bild, wo er fröhlich in die Luft springt: "Aber ich habe es überlebt!"

Hinter dem sogenannten "Altersgeiz" eines alten Menschen, der auch den Angehörigen oft so viel Schwierigkeiten macht, kann durchaus - wenn auch ihm selbst verborgen - seine Todesangst stehen. Das Paradoxe, wie der "Angstdämon" hier vorgeht und den Menschen in seinen Griff zu bekommen sucht, ist dabei ganz deutlich erkennbar: Die "Angst" redet ihm innerlich ein: Je mehr du dich mit äußeren Gütern absicherst, desto mehr bist du auch gegen alle Unsicherheiten des Lebens, ja selbst gegenüber deinem Tod abgesichert! Doch der Fehlschluss liegt klar vor Augen: Je mehr sich jemand an äußere Güter klammert, desto mehr hängt er sein Herz an sie, und desto schwerer wird ihm das Loslassen, desto mehr wächst seine Angst!

Wie aber könnten wir diese Angst als positive Angst fruchtbar werden lassen? Ich möchte einige Vorschläge machen, die jeder für sich selbst ausprobieren und abwandeln kann:

- Sieh deiner Angst klar ins Auge: Was zu verlieren hast du wirklich Angst?...

- Wie sähe dein Leben aus, wenn dieser Verlust wirklich eintreten würde - wie ginge dein Leben weiter?...

- Wo steht dieser Wert, vor dessen Verlust du Angst hast, in der Wertskala deines Lebens?...

- Solltest du nicht vielleicht einmal die Wertskala deines Lebens neu überprüfen - gerade im Angesicht des auf jeden Fall eintretenden Todes? ...

Loslassen - Können ist ein zentrales Thema unserer christlichen Mystiker. Es ist etwas Eigenartiges: Je mehr ich etwas festzuhalten versuche, desto mehr scheint es sich mir zu entziehen - und desto mehr bekommt mich die Angst in ihren Griff. Deshalb ist es schon fast zum geflügelten Wort geworden: "Erst das, was ich losgelassen habe, gehört mir ganz". Solange ich Angst davor habe, etwas mir Wichtiges zu verlieren, solange hält mich diese Angst in Atem und tyrannisiert mich, solange kann ich das, was ich besitze, nicht einmal wirklich genießen. Mit der Bereitschaft zum Loslassen dagegen werde ich innerlich frei, zu haben oder zu lassen - und kann mich wirklich ungeteilt freuen an dem, was mir geschenkt ist. Deshalb sagt Meister Eckehart, wir sollten die Dinge unseres Lebens immer als "geborgt" betrachten, niemals als unser Eigentum. Er sagt das, damit wir frei bleiben und frei werden von der gefährlichen Verlustangst. Das aber ist eine Lebensaufgabe!

Kommen wir noch einmal auf unser Bibelwort des Anfangs zurück: "Vor Angst vergehen mir Auge, Seele und Leib". Es geht darum, die verborgene Angst ans Licht kommen zu lassen, zu ihr zu stehen: Ja, ich hätte Angst davor, wenn mir gerade das genommen würde, an dem mein Herz so sehr hängt! Solange diese Angst im Verborgenen bleibt, wird sie mich zu gefährlichen Handlungsweisen veranlassen - werde ich eines Tages feststellen müssen, dass dieser gefürchtete Verlust gerade durch meine Angst eingetreten ist.

Meditative Übungsmöglichkeit: Ich meditiere als Symbol den Archetyp: Vogel /Freiheit.

Immer wieder kommt in unterschiedlichsten Gruppen bei Metaphermeditationen über tiefste Sehnsucht ein gleiches Bild: "Ich möchte sein wie ein Vogel". Der Mensch hat ein tiefes Verlangen in sich, ungebunden und frei zu sein - dafür gibt ihm der Vogel das Bild. Schon Jesus hat es verwendet, um die Freiheit von Sorge damit vor Augen zu führen: "Sehet die Vögel unter dem Himmel - sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern - und euer himmlischer Vater nährt sie doch." (Mt 6,26)

Die Angst vor Gefahren.

Unter diesem Gesichtspunkt wird die positive Funktion der Angst am deutlichsten: Tiere haben im Laufe von Jahrtausenden positive Angstreaktionen auf bestimmte, ihnen besonders bedrohliche Gefahren entwickelt. Wo Tierarten auf Feinde stießen, auf die sie sich nicht eingestellt hatten, wurden sie in wenigen Jahren ausgerottet. 6

Die allerorts weltweit aufbrechende Angst der Menschheit vor uns bevorstehenden möglichen Katastrophen sollte uns zuerst einmal als eine positive Angst bewusst werden: Die Gefahren, die der Menschheit drohen, sind keine eingebildeten Phantome, sondern sie existieren wirklich. Und deshalb kommt alles darauf an, von den verderblichen - hier menschheitsbedrohenden - Negativangst freizuwerden, die uns daran hindert, der wichtigen, wirklichkeitsnahen Positivangst Raum zu geben.

Das bedeutet: - Ich darf diese Angst nicht verdrängen.

Das heißt nicht, dass ich ständig in meinem Wachbewusstsein mit mir herumtragen muss, dass das Leben unserer Kinder und Enkel vielleicht auf dieser Erde nicht mehr möglich sein wird oder dass Atomwaffen in der Hand eines unverantwortlichen Tyrannen die gesamte Menschheit ausrotten können usw. usw.

Aber ich kann mein Leben gerade durch die Bedrohung, die ich wahrnehme, intensivieren - und kann dadurch auch wachsamer werden für jede Möglichkeit, die drohende Gefahr wirklich zu bannen.

Was hier gemeint ist, möchte ich mit der alten christlichen Übung, die man "ars moriendi", die Kunst des Sterben-Lernens, bezeichnete, verdeutlichen. Erst wenn ich den Gedanken an meinen Tod nicht mehr aus meinem Leben verdränge, finde ich - so paradox es klingt - zum vollen Leben. Solange die Todesangst verborgen über allem schwebt, was ich tue und erlebe, vergiftet sie von innen her mein Leben. Ähnliches meint die Benediktusregel, wenn sie unter den Instrumenten des geistlichen Lebens nennt: "Sich täglich den drohenden Tod vor Augen halten". 8

Ich kann aus eigener Erfahrung nur berichten, wie kostbar ich in der Zeit der Bombenangriffe auf Leipzig (1943 - 1945) mein Leben empfunden und ausgekostet habe - immer in dem Bewusstsein, in dem ich täglich erwachte: Ist dieser Tag heute vielleicht der letzte deines Lebens? Dieser Gedanke hat mein Leben nicht gelähmt, sondern im Gegenteil bis zum äußersten intensiviert. Kaum wieder habe ich so intensiv wirklich "gelebt" wie in diesen letzten Monaten des Krieges. Das Bewusstsein der Gefahr lähmte mich nicht in Angst, sondern aktivierte alle Lebenskräfte, wozu auch das besonnene Umgehen mit der wirklichen Gefahr gehörte.

Meditative Übungsmöglichkeit: Ich meditiere den Archetyp: Das Reh/ es wacht sogar im Schlaf

Wir tun als Menschen genau das Gegenteil von dem, was jedes Reh tut, wenn wir unser Gefahrenbewusstsein unterdrücken oder gar verdrängen! Wir sollten uns einmal die Zeit nehmen, die Wachsamkeit eines Rehes zu meditieren, was das Tier dadurch gewinnt - um es dann entsprechend auf das eigene Leben zu übertragen: Was gefährdet mein Leben wirklich?...

Die Angst vor Verwandlung.

"Krisenangst" wird in der Literatur eine Form von Angst bezeichnet, die noch unmittelbarer als die beiden bisher genannten Angstformen menschliches Leben bestimmt und begleitet. Diese Form von Angst beginnt bei der Angst der Kindes während der Geburt und endet mit der letzten Angst des Menschen im Augenblick seines Todes. Jede entscheidende Übergangsperiode des Lebens ist mit solch einer Angstsituation verbunden - und wer dieser Angst ausweichen würde, würde dem Leben selbst ausweichen.

Sicher war auch die Angst unseres Schulanfängers ein Stück solcher "Krisenangst". Es ist ja ein ungeheurer Einschnitt im Leben eines Kindes, wenn es aus der Familie heraus den Schritt in die Schule tun muss. Ähnliche Angstperioden erleben wir beim Übergang ins Erwachsenenalter 9 , vor einer Eheschließung oder einem Ordenseintritt, und schließlich auch beim Übergang in die letzte Lebensphase des Alters. -

Worauf es mir hier ankommt, ist wieder die Erkenntnis: Wer sich in solchen Krisenzeiten von der "Negativangst" beherrschen ließe, den würde die Angst dazu bringen, einen notwendigen Lebensschritt zu verweigern, den Lebensschritt, der jetzt geschehen muss, wenn Leben gelingen soll. Ein Kind, das die Geburt verweigern würde, müsste als Totgeburt abgestoßen werden. Ein Mann, der das Erwachsen-Werden nicht wagen würde, blieb infantil. Immer setzt das Betreten eines neuen Lebensabschnittes sowohl Ängste frei, als es auch den Menschen herausfordert, mit dem Wagnis diese Angst zu überwinden, das Vertraute loszulassen und den neuen Schritt zu wagen. Wer sich dem verweigern würde, wäre er nicht wirklich lebensfähig. Und das ist ja oft genug erschütternd zu erleben: Menschen, die dem Leben nicht mehr gewachsen sind, weil sie nicht mit dem Leben gewachsen sind. Oft werden sie von einer permanenten Lebensangst beherrscht, ja tyrannisiert . Sie erleben sich nicht als freie Menschen, sondern als getrieben, als ständig überfordert, im "Frondienst" des Lebens. Weil sie Angst hatten vor dem neuen Lebensabschnitt mit seinen unbekannten Gefahren, die sie in Freiheit meistern könnten, bleiben sie dem Alten, dem Bekannten verhaftet - und das Leben stagniert, anstatt sich zu entfalten.

Hier trifft ein Wort von Corona Bamberg zu, das mich schon über Jahre meines Lebens begleitet: "In manchen Angstsituationen hilft nur eines: Schritt um Schritt auf das zuzugehen, was mir Angst macht".

Wo ich das tue, durchbreche ich die Taktik des Angstdämons: Ich schaue nicht nur an, was mir Angst macht, sondern ich gehe sogar darauf zu. Michael Ende hat in seinem Buch "Der Wunschpunsch" eine Gestalt gezeichnet, die mich tief beeindruckt hat: In der Wüste gibt es einen ungeheuerlichen Menschen, dessen Größe alle ihm Begegnenden weit in die Flucht jagt. Als aber einer ihm wirklich näher kommt, nicht flieht, sondern auf ihn zugeht, schwindet von Meter zu Meter seine Größe, bis er bei der Begegnung zu einem ganz normalen Menschen zusammengeschrumpft ist. Aus dieser Begegnung entwickelt sich eine tiefe Freundschaft.

Wie oft erscheint mir das, was mir Angst macht, nur aus der Entfernung als ein "Ungeheuer", vor dem ich nur die Flucht ergreifen möchte. In dem Augenblick aber, wo ich nicht mehr davor fliehe, sondern wenigstens einen Schritt darauf zugehe, verliert es viel von seiner Unberechenbarkeit - und damit von dem, was mir Angst macht. Und eines Tages werde ich erleben, wie nötig und heilsam dieser Schritt für mich war - und dass ich gerade an der Überwindung der Angst, an dem Wagnis, weiterzugehen, gereift und mehr Mensch geworden bin. Wo ich auf das zugehe, was mir Angst macht, durchbreche ich den dämonischen Kreislauf, dass ich mich durch meine Flucht immer tiefer in die Abhängigkeit dessen begebe, wovor ich Angst habe.

Meditative Übungsmöglichkeit: Ich meditiere den Archetyp: Ritter / Mut

Ein archetypisches Bild für diese Angstbewältigung scheint mir das Bild des Ritters zu sein, dessen Aufgabe es ist, zu wagen, um zu siegen und damit Neuland zu erobern. Solche Bilder, auch wenn sie vom heutigen Leben her unzeitgemäß erscheinen, haben oft eine tiefe Symbolkraft in sich, die sich dem meditierenden Verweilen erschließt.


3. Geistliche Dimensionen der Angst.
Hier möchte ich das Gesagte noch einmal aufnehmen und in seiner geistlichen Dimension anschauen. Schon mehrmals klang diese an - und darf nun hier als Ziel alles bisher Gesagten aufgezeigt werden. Da aber das Ziel eines jeden Lebens niemals von außen her deklariert werden kann, kann es hier nur um Angebote gehen, die ein jeder selbst auf sein eigenes Leben übertragen und dafür fruchtbar werden lassen kann. Ich möchte dazu einige Übungen anbieten - meditieren Sie das eine oder andere Wort, von dem Sie sich angesprochen fühlen - und lassen es als Verheißung tief in sich einsinken:

Jesus weist uns hin auf die Freiheit, die der Verzicht auf äußeren Besitz schenkt.

- "Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz"...(Mt 6,11)
- "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele"...(Mt 16,26)
- "Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer"...(Lk 6,20)
- "Sehet die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht - und euer himmlischer Vater nährt sie doch"...(Mt 6,26)
- "Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht für euren Leib, was ihr antun sollt. Das Leben ist mehr denn die Speise, der Leib mehr denn die Kleidung"... (Lk 12, 22f)
Jesus weist hin auf die Freiheit, die im Vertrauen liegt
- "Die Haare auf eurem Haupte sind alle gezählt"...(Mt 10,30)
- "Fürchte dich nicht, glaube nur"... (Mk 5, 36)
- "Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die Seele nicht können töten"....(Mt 10, 28)
- "Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht"...(Joh 14,27

Sören Kierkegaard sagt:

"Es muss jeder lernen, sich zu ängstigen,
denn sonst geht er zugrunde
dadurch, dass ihm nie angst war,
oder dadurch, dass er in der Angst versinkt.
Wer hingegen gelernt hat, sich recht zu ängstigen,
der hat das Höchste gerlernt"



Anmerkungen
1  Vortrag, gehalten in Meißen, Akademie, 1982

2  s.Riemann, Fritz, Grundformen der Angst, München 1967

3  s.Drewermann, Eugen. "Strukturen des Bösen, Paderborn 1977-78

4  s. Grün, Anselm, Vom Umgang mit dem Bösen, Münsterschwarzacher Kleinschriften Nr.6, Münsterschwarzach 1980

5  Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes - Taschenbuch 202, S.106, 1ff. (Es ist interessant, dass das Wort Angst in den gesamten Deutschen Predigten und Traktaten bei Meister Eckehart nur an einer einzigen Stelle vorkommt.)

6  Nicht ohne weiteres kann man Tierreaktionen immer auf menschliches Verhalten übertragen - aber hier scheint mir die Parallele unübersehbar zu sein.

7  vgl. Schulz,Hans-Jürgen (Hrg), Angst, Stuttgart 1987, S.32ff

8 vgl.Holzherr,G. Die Benediktusregel, Zürich 1985

9 Nie werde ich vergessen, wie ich bei einer Meditationsgruppe von etwa 40 15-jährigen Mädchen einen Weg meditieren ließ - und wie sich dann bei der Auswertung herausstellte, dass mindestens 70% der Jugendlichen ihren Weg bei trübem Wetter gehen mussten!


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