Karin Johne

Das Kreuz als Lebensbaum - Einübung geistlichen Lebens 1
Überblick:
1. Die Bedeutung der Stille und des Innehaltens.
2. Die Kreuzes - und Erlösungsthematik
3. Das Kreuz als Lebensbaum

Vielleicht hat es der eine oder andere von uns schon schmerzlich erlebt: Es gibt Situationen, wo wir brennend gern einem Menschen helfen möchten - und dann erleben müssen, dass alle Hilfsbereitschaft und auch Hilfsmöglichkeit an ein Ende kommen kann, wenn der Betroffene nicht "mittut". (Natürlich hängt das Nicht- Mittun oft mit einem tiefverwurzelten Nicht-Können eng zusammen.) Daraus ergibt sich die - mich erschütternde - Frage:
Ob es nicht Gott mit uns oft ebenso geht: Dass er - menschlich gesprochen - mit all seiner Liebe zu uns an eine Grenze stößt, die darin liegt, dass wir nicht "mittun". Meister Eckehart drückt es christlicher aus: dass wir uns seinen Gaben nicht öffnen können, weil wir zu sehr mit etwas anderem angefüllt sind... Gott tut gewöhnlich sein Werk an uns und durch uns gerade dadurch, dass er unsere äußeren und inneren Kräfte einfordert, oft bis an die letzte Grenze des Möglichen. Auch geistliches Leben bedarf der Einübung, damit die geheime Weisheit Gottes vernommen werden kann. "Das Wort vom Kreuz ist nämlich denen, die verloren gehen, eine Torheit, uns jedoch, die gerettet werden, eine Gotteskraft", schreibt der Apostel Paulus (1 Kor 1,18).

Seit vielen Jahren sind in den christlichen Kirchen Bestrebungen im Gange, christliche Botschaft und geistliches, spirituelles Leben durch "Exerzitien zu Hause" oder durch Briefkursangebote zu vertiefen. Hier geht es um die Aufforderung zum "Mittun" - welches in einem Sich - Öffnen vor Gott besteht. Mehr liegt nicht in unserer Macht. Was Gott in diesen für ihn geöffneten Raum hineingibt, ist sein freies Geschenk.

Früher hielt ich jährlich viele Meditationskurse und Retraiten/Exerzitien in geschlossenen Kursen. Dort wurde die Möglichkeit, sich im Gebet für Gott zu öffnen, bewusst eingeübt. Und es war immer neu überraschend, was sich da für innere Wege der Teilnehmer/innen öffneten. Doch niemals hätte ich damals gedacht, dass solch ein intensiver innerer Weg des Glaubens auch im Raume des Alltags möglich wäre. Aber bereits der erste Versuch mit einem "Briefkursangebot" (geistliches Leben gewissermaßen im Fernunterricht) lehrte mich, dass diese Vermutung falsch war. Eine Gruppe von ca 40 Teilnehmer/innen, welche sich für 15 Wochen auf diesen Weg eingelassen hatte, bewies mir überzeugend, dass die Suche nach einem vertieften geistlichen Leben auch mitten im Alltag möglich ist; und dass - darin eingeschlossen - sich auch ein menschlicher Reifungsprozess vollzieht.

Die Teilnehmer/innen hatten sich bei meinem ersten Briefkursangebot dazu verpflichtete, sich täglich 20-30 Minuten Zeit für Gebet und Meditation über einem angebotenen Thema (Bibeltext, Bild, Symbol oder ähnliches) zu nehmen und einmal wöchentlich kurz dem Verlauf der Woche im ganzen nachzuspüren, dieses schriftlich festzuhalten und mir kurz davon etwas mitzuteilen. Das machte eine lockere Begleitung möglich, die hilfreich sein kann, manchmal wirklich notwendig war. Die Erfahrungen, die ich bei dieser Begleitung machte, waren so positiv, dass ich seitdem immer neu versuche, mit ähnlichen Briefkursangeboten einen Kreis von Menschen zu erreichen, die sich durch eine äußere Ordnung auf einen inneren, geistlichen Weg einlassen. Dabei können sie ganz neu etwas von der Wirklichkeit und Liebe Gottes erfahren. Gleichzeitig erleben sie oft etwas davon, wie auch ihr konkretes Menschsein ein Stück gesünder werden kann, indem sie sich täglich eine stille Zeit der Besinnung und des Aushaltens ihrer Probleme vor dem Angesicht Gottes nehmen. "Diese stille Zeit täglich möchte ich beibehalten", äußerte nicht nur ein Teilnehmer nach Ende solch eines Briefkurses.2

Die Bedeutung der Stille und des Innehaltens.

Ich persönlich erfahre immer wieder: Die "von außen" kommenden Botschaften verstehe ich in dem Maße, wie sie in mir selbst etwas zum Mitschwingen bringen. Dann ist mein inneres Erleben gewissermaßen der Spiegel, der die "äußere" Botschaft widerspiegelt - in der Weise und Art, wie ich sie verstehen und annehmen kann. Dazu brauche ich immer wieder die Zeit der Stille und Ruhe, die mir erlauben, einmal "innezuhalten" - mitten aus der Hektik, welche mich immer vorwärts - also in horizontaler Richtung - treibt, und den Weg in die Tiefe zu suchen. Besser gesagt wäre: zu erwarten, dass er sich mir erschließt.

In solcher Zeit des Innehaltens kann ich Dinge und Ereignisse, welche mich vielleicht schmerzhaft getroffen haben, im Nachhinein noch einmal anzuschauen mit der Frage, ob sie nicht etwa auch einen Sinn für mein Leben in sich getragen haben mögen. Wie oft erkenne ich im Nachhinein solch einen Sinn, einen nötigen Reifungsprozess, der gerade in dunklen Perioden meines Lebens geschehen ist! Aber auch das ist kein Gesetz, was immer gültig und nachvollziehbar, also "beweisbar" sein müsste, sondern jeweils ein neues Geschenk, ein Stück Segen und Heil für mein eigenes Leben. Und doch kann ich aus solchen Erfahrungen Vertrauen schöpfen, dass auch andere dunkle Strecken ein Stück Segen in sich tragen mögen, auch wenn ich ihn nicht gleich zu erkennen vermag.

Die Kreuzes- und Erlösungsthematik

Unser letzter Briefkurs - im zweiten Durchgang in der Fasten- und Osterzeit 1994 gehalten -, stand unter dem Thema "Kreuz als Erlösung". Wir wissen alle, dass dies ein zentrales Thema unseres christlichen Glaubens ist. Und wir wissen gleichzeitig - gewiss auch aus unserer persönlichen Erfahrung - wie schwer uns heutigen Menschen der Zugang zu diesem Thema fällt. Wir haben Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass vor 2000 Jahren ein Mensch sterben musste, damit wir heute unsere Sünde vergeben bekommen! Der Abgrund der Jahrtausende ist zu tief - der Begriff der Sünde und Schuld hat seine erschütternde Gewalt verloren in einer Welt, die entweder ohne "Jenseits", ohne Transparenz des Lebens auszukommen meint, oder auch von der Psychologie her weiß, wie sehr wir in unseren Fehlhaltungen durch unsere Kindheit und durch andere Menschen bestimmt worden sind.

Aber nun könnte gerade dieser letzte Gedanke uns auch wieder in einer neuen Tiefe begreifen lassen, wie viel Not gerade aus solcher gegenseitigen Schuldverstrickung fließen kann. Ob nicht unsere Väterlehre von der "Erbsünde" von einer anderen Ebene her etwas begriffen hat von dieser Schuldverflochtenheit der Menschheit?... Wen diese Frage beunruhigt, fragt sich wohl in immer neuer Form: Wie finden wir daraus neu zu einem "Heil", zum umfassenden "Schalom", dem Heil in sich bergenden Frieden Gottes?... Die christliche Botschaft bietet uns dazu den Blick auf das Kreuz als Erlösung an.

Wenn wir nun diesem "gelitten und gestorben für unsere Sünden" begegnen, dann finden wir so selten Zugang zu einer Lehre, die uns "von außen her" zu betreffen scheint. Zuerst schwingt da in unserem Inneren oft sehr wenig mit. Das kann sich aber schlagartig ändern - etwa wenn ein Mensch vor den Trümmern eines Lebens steht, die er selbst verursacht hat.3

Fragen wir noch einmal: Wie kann uns die zentrale christliche Botschaft von Kreuz und Heil so treffen, so "betroffen machen", - dass sie von innen her unser Leben verwandelt - unser Leben als Menschen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts? Denn jeder von uns ist Glied unserer heutigen Menschheit - "aussteigen" geht letztlich nicht -, es wäre nur eine Selbsttäuschung!

Das Kreuz als Lebensbaum

Ich meine, dass eigenes Leid-Erleben, das sich im Nachhinein als sinnvoll für mein Leben erzeigt, der Ausgangspunkt ist, um etwas vom Geheimnis vom Kreuz als Erlösung zu ahnen. Von hier aus können sich neue Horizonte erschließen: Im Blick auf manche der asiatischen Religionen werde ich mir immer neu und tief dankbar bewusst, wie unser christlicher Glaube mit den Urfragen von Schmerz, Tod und Schuld umgeht. Er klammert sie nicht aus oder versucht auch nicht, sie als unwichtig hinzustellen, etwa als Trug einer vergehenden Welt. Und er bekämpft sie auch nicht in einem harten Vernichtungsfeldzug, der nur immer neue Dunkelheiten aus sich gebären würde. Nein - Christus geht mitten in die tiefsten Dunkelheiten menschlichen Daseins hinein, und indem er sie "betritt", verwandelt er sie von innen her.

Frühere Generationen, die noch mehr Zeit zum Innehalten und Nach-Spüren hatten, haben dieses unerforschliche Geheimnis noch tiefer im Bewusstsein gehabt als wir, wohl auch deshalb, weil sie noch nicht so ausschließlich wie wir aus dem Verstand her lebten. Seit den frühen christlichen Jahrhunderten gibt es die Vorstellung des "blühenden Kreuzesbaumes", des Kreuzes, das über dem Grab Adams errichtet worden ist und den Baum des Fluches, an dem die Menschen im Paradies scheiterten, in den Baum des Lebens verwandelt. Dieser Lebensbaum, wurzelnd in der Dunkelheit des Todesgrabes, wächst nach oben, dem Licht zu. Aus dem toten Holz sprießt neues Leben, der Baum blüht und trägt reiche Frucht. Und die Vögel des Himmels nisten in ihm - er nimmt den Tod in sich auf und trägt ihn hinauf zum Licht, in die Region des Himmels und der Sterne.



Dieser Lebensbaum findet sich auf einem griechischen Elfenbeintäfelchen. Wer es anschaute, mag sich dadurch immer neu haben erinnern lassen, dass im Kreuz das Heil bereits verborgen begonnen hat, dass das Kreuz Leben in sich birgt und Frucht tragen will - auch im eigenen Leben mit seinen Schmerzen, seinen Leiden und seinem Sterben. Der Tod wird verwandelt, er wird Weg zum neuen unauslöschlichen Leben in der Auferstehung.

Eine Teilnehmerin des Briefkurses "Kreuz als Erlösung" schrieb als Zusammenfassung: "Für mich war wichtig, das Kreuz nicht nur als Zeichen von Leiden und Schmerzen, sondern auch als Anfang von Blühen und Frucht zu erleben. Neu für mich war, dass diese positive die grundlegende "negative" Seite des Kreuzes nicht verdrängt, sondern auf deren Ernst aufgebaut ist und durch die Tiefe zur Höhe führen kann."


Anmerkungen:
1 Veröffentlicht in "Erneuerung" (etwas gekürzt), 29.6.94

2  Briefkursangebote:
- Johne, Karin, Geistlicher Übungsweg für den Alltag, Graz 2000 4
- dgl. Einübung in christliche Mystik (Meister Eckehart), Graz 1991
- dgl. Kreuz als Erlösung, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2000

3 Es ist sicher kein Zufall, dass gerade Drogenabhängige einen unmittelbaren Zugang fanden zu der Botschaft, dass sie von Gott schrankenlos Geliebte sind. Welche Sehnsucht nach Liebe konnte da aufbrechen und Erfüllung finden! In seinem Büchlein "Das Kreuz und die Messerhelden", beschreibt der amerikanische Pfarrers Wilckerson, wie er sich in den fünfziger Jahren um drogenabhängige Kinder und Jugendliche kümmerte. Aber womit begann diese ganze Bewegung in den USA? Ein Pfarrer beschloss, das Abenteuer mit Gott zu wagen, was wohl Gott aus seinem Leben machen würde, wenn er ihm täglich die Zeit seines bisherigen Fernsehkonsums als Gebetszeit zur Verfügung stellen würde. Und er begann, jede Nacht etwa zwei Stunden Gott im Gebete zu schenken.


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