Überblick:
In unseren neuen Bundesländern machen wir seit der Wende eine merkwürdige Erfahrung: Während vordem Retraiten und Exerzitienkurse oft mit langen Wartelisten ausgebucht waren, haben wir jetzt Mühe, unsere schon reduzierten Kurse gerade so zu belegen, dass sie nicht ausfallen müssen. Im Gegensatz zu mehrtägigen Kursen in Exerzitienhäusern werden dagegen Briefkursangebote gewissermaßen "Exerzitien im Fernunterricht" als Exerzitien im Alltag sehr gern wahrgenommen. Sie haben stabile Anmeldezahlen. Ich möchte deshalb ein wenig von meinen Erfahrungen mit Briefkursgruppen berichten, ohne die Wichtigkeit von Kursexerzitien irgendwie in Frage zu stellen. Was ich in den Briefkursexerzitien anbiete, habe ich in Kursexerzitien von der Reaktion der Teilnehmer/innen gelernt. Briefkursangebote neben Exerzitienkursen das stellt uns vor die Frage, die mich von Jahr zu Jahr mehr bewegt:
Bereits im Jahre 1985 bekam ich auf die Einladung, sich auf ein erstes, neuartiges Experiment solcher Exerzitien im Alltag in Form eines Briefkurses einzulassen, bei etwa zwanzig gezielt hinausgeschickten Einladungen spontan über fünfzig Anmeldungen. Und als später dieses erste Briefkursangebot im "Geistlichen Übungsweg" veröffentlicht wurde3, stellte sich zu meiner großen Überraschung heraus, dass das Buch nicht nur der ehemaligen DDR, wo geistliche Literatur Mangelware war, sehr bald vergriffen war, sondern dass das auch für die Lizenzauflage in Westdeutschland zutraf. Das alles machte mir deutlich: Irgendwie schien mir hier ein wichtiges Interesse angesprochen worden zu sein. Und ich ging weiter in dieser Richtung.
Inzwischen sind nun seit meinem ersten Ansatz mehr als acht Jahre vergangen. In dieser Zeit sind auch von anderen Seiten ähnliche Versuche gestartet worden und von mir sind weitere Angebote gemacht und veröffentlicht worden. Geistlich interessierte Gruppen unterschiedlicher Art und Voraussetzung begaben sich auf solch einen Weg. Die Palette reichte von kleinen Gruppen in Pfarrgemeinden, die neu und tiefer beten lernen wollten bis hin zu Klöstern und geistlichen Gemeinschaften, welche diese Angebote in ihre Noviziatsausbildung einbezogen. Daneben begegnen mir auch immer wieder Einzelpersonen, die mich mündlich ansprechen oder mir schreiben, dass sie sich allein auf den Weg begeben haben und dankbar sind für vielerlei wichtige Erfahrungen, die sie dabei machen durften. Das führt zur zweiten Frage:
2. Kann ein innerer Weg überhaupt mitten in der Unruhe des Alltags gefunden werden?
Ist es aber überhaupt möglich, dass ein Mensch mitten in seinem Alltag einen inneren Weg gehen kann, der in seiner Intensität einem geistlichen Weg, wie er etwa in prozeßorientierten Einzelexerzitien gegangen wird, ähnlich oder gar gleichwertig ist? Ist für solch einen Weg nicht der abgeschirmte Raum eines Hauses der Stille, eine tägliche Begleitung und die Geborgenheit einer Gruppe unumgängliche Voraussetzung? Ich weiß, dass diese Frage von vielen selbstverständlich zugunsten fester Kurse beantwortet wird.4 Aber stimmt das wirklich und in jedem Falle?
Im abgeschirmten Raum ist vieles leichter und einfacher als mitten im Alltag, so dass manche Erfahrung deutlicher ins Bewusstsein treten mag. Aber demgegenüber ist die Gefahr eines Abhebens von der Realität auch viel größer5. Wenn Exerzitien nicht mehr und mehr den Alltag durchwachsen, dann mögen sie einige unerfüllte Sehnsüchte erfüllen aber sie verfehlen ihr eigentliches Ziel: Die Umgestaltung des gesamten Lebens von innen her in Christus hinein.
Nun ist wohl keine Frage, dass solch ein hochgesteckte Ziel überhaupt nur in einem lebenslangen Wachstumsprozess stattfinden kann. Echtes Wachstum braucht immer Zeit und Geduld. Aber selbst im Leben des Kindes gibt es die sogenannten "Wachstumsschübe" (oft in Verbindung mit Kinderkrankheiten!). Bisher konnte man bildhaft gesprochen regelmäßige jährliche Exerzitien oder gar Einzelexerzitien oft als solch inneren Wachstumsschübe erleben und einordnen. Aber kann das auch auf Exerzitien im Alltag, auf die von uns versuchten Briefkursexerzitien zutreffen? Ich durfte es in all diesen Jahren miterleben und muss es einmal mit aller Freude so sagen: Auch in Alltagsexerzitien können Erfahrungen gemacht werden, die im weiten Sinne als mystische Erlebnisse angesehen werden dürfen auch in Alltagsexerzitien können wesentliche Grundausrichtungen des Lebens sich neu gestalten!6 Dass solches wirklich möglich ist, erweist sich in immer wieder neuer und überraschender Weise.
Wie tiefe Erfahrungen auf solch einem Weg des Meditieren im Alltag gemacht werden können, wurde mir bereits beim ersten Briefkursangebot bewusst, welches sich über 15 Wochen erstreckte und es wurde mir bei weiteren Angeboten immer neu bestätigt. Wie oft habe tief beschämt die Rückmeldungen von Teilnehmern in den Händen gehalten und hautnah erfahren, wie Gott auch heute noch wirken will und kann, wenn sich ihm jemand bewusst und kontinuierlich für eine Strecke seines Weges anzuvertrauen wagt!
So überwältigend waren die spirituellen Erfahrungen der Teilnehmer/innen für mich, dass ich in meiner letzten Veröffentlichung eines Briefkurses ("Kreuz als Erlösung") nicht nur meine eigenen Briefe mit den Übungsangeboten, sondern auch in einem zweiten Teil die Erfahrungen, Erkenntnisse und aufbrechenden Fragen der Teilnehmer/innen mit veröffentlicht habe. Ich meine, dass viele Menschen etwas davon miterleben sollten, wie Gott auch heute und hier noch mit Menschen umgeht, die sich in betender Weise auf ihn einlassen!
Da ich in den letzten Jahren manchen Briefkurs mehrfach angeboten habe, hat sich für mich auch einiges als wichtig herauskristallisiert, was ich für die Teilnehmer/innen als hilfreich bewährt hat. Das führt zur dritten Frage:
3.
Welche Voraussetzungen haben sich als hilfreich erwiesen, im Alltag
bewußt
eine spirituelle neue Wegstrecke zu gehen?
Zuerst einmal
stellte
sich eine klare Verpflichtung, für die Zeit des Angebotes
täglich
2030 Minuten in die Stille der Meditation und des Gebetes zu gehen,
für
die meisten Teilnehmer/innen als eine große Hilfe heraus. Ich
hatte
erst große Bedenken, diese Verbindlichkeit einzufordern. Dann
aber
erfuhr ich durch Rückmeldungen und in vielen
Auswertungsgesprächen,
wie hilfreich es für die Teilnehmer/innen gewesen sei, sich
verpflichtet
zu haben angesichts so vieler anderer Verpflichtungen, die sich
erfahrungsgemäß
immer wieder in den Vordergrund schieben. In einer Zeit, wo sich
Menschen
ungern binden, tut es auch gut, dass diese Bindung zeitlich begrenzt
ist.
In besonderen Fällen kann es natürlich Ausnahmen geben das
hebt
aber die grundsätzliche Hilfe einer solchen Verpflichtung nicht
auf.
Natürlich schließt solch eine Verpflichtung auch in sich,
sich
eine günstige Zeit am Tage für das Beten freizuhalten.7
Solche Notwendigkeit zum wöchentlichen Reflektieren des inneren Weges gibt dem Betendenselbst mehr Klarheit und oft eine neue, umfassendere Sichtseines Weges, der sich abzuzeichnen beginnt, als das in einer Reflexion am Abend eines Tages allein geschieht.8 Größere Linien zeichnen sich im regelmäßigen Rückblick ab die wieder helfen, den ureigenen Weg in der Zukunft besser zu erspüren. Und darauf kommt es ja entscheidend an auf einem spirituellen Weg!
Für denjenigen, der solches erfährt und reflektiert, ist es oft eine überwältigende Erfahrung: So ist Gott einen ganz persönlichen Weg mit mir in dieser Woche, in dieser Zeit gegangen! So persönlich geht Gott selbst mit mir! Und es kann gut sein, wenn dies auch einmal vom Begleiter bestätigt werden kann.
Deshalb ermöglichen solche Rückmeldungen auch ein Stück geistlicher Begleitung . Die Suche nach geistlicher Begleitung ist vielleicht heute umfassender als früher und so oft schmerzlich erfolglos. Aus Rückmeldungen heraus kann der/die Begleitende Fragen heraushören eventuell auch einmal eine tief verwurzelte Fehlhaltung des Gebetslebens, die sich abzeichnet, ansprechen und in Frage stellen. In einer für mich geradezu beschämenden Weise sind oft die Teilnehmer/innen meiner bisherigen Briefkurse auf solche vorsichtigen Rückfragen meinerseits eingegangen und sind sich über vieles bisher Unbewusste klargeworden, was bisher ihr Gebetsleben und ihren geistlichen Weg mehr oder minder blockiert hatte.9
Dass dieses auch einmal Skeptiker erkennen mögen, welche meinen, Menschen heute könnten nicht mehr beten, war für mich der Anlass, in mein letztes veröffentlichtes Briefkursangebot: "Kreuz als Erlösung" in einem zweiten Teil auch die Rückantworten der Teilnehmer/innen mit aufzunehmen. Denn mancher mag es kaum glauben, dass jemand nach einer Zeit von nur 4 Wochen (so lange dauerte dieser Briefkurs), in der er sich täglich die regelmäßige Stille für Gott genommen hat, schreiben kann: "Der Briefkurs war für mich etwas, für das ich schwer Worte finde, sie sind alle zu flach. Das Gehen von Tag zu Tag hat mich befruchtet und bereichert und den Wunsch und die Sehnsucht nach Gott verstärkt. Danke, von Herzen!"
Anmerkungen:1 Veröffentlicht in „Entschluss“ 1994 – Heft 5 (Beten lernen“) und in „Meditation“ 1995 Heft 3 (Christianopolis - Verlag, Weilheim 1995)
2 "Es ist eine verflixte Sache mit solchen Exerzitien", äußerte einmal ein Ordensmann, "ich brauche immer mindestens sechs Wochen, bis ich mich wieder in meinem normalen Alltag eingelebt habe!" Da scheinen Exerzitien mit ihren Gebetserfahrungen neben dem Alltag zu stehen ohne in ihn integriert zu werden.
3 Johne,K. ,"Geistlicher Übungsweg für den Alltag", (Briefkurs von 15 Wochen), Styria - Verlag, Graz 19933
Johne,K., "Einübung in christliche Mystik", (Briefkurs von 12 Wochen), Styria - Verlag, Graz 1991
Johne,K., "Kreuz als Erlösung" (Briefkursangebot von 6 Wochen), Styria - Verlag, Graz 19934 Noch habe ich von meinem ersten Exerzitienkurs, an dem ich teilnehmen konnte, lebhaft in Erinnerung, wie ein junger Mann fragte: "Kann ich so etwas, was hier geschehen ist, auch zu Hause weiter tun?" Und er kam die spontane Antwort: "Nein, zu Hause ist das nicht möglich." Intuitiv war ich damals empört über diese Antwort aber sie scheint gar nicht selten in ähnlicher Weise gegeben zu werden!
5 Wer hat es noch nicht erlebt, wie hart die Umstellung aus intensiver Exerzitienerfahrung dann hinein in den Alltag werden kann? Und dann geschieht es immer wieder, dass bei der ersten Gesprächsrunde in Exerzitien gesagt wird: "Seit meinen letzten Exerzitien habe ich nach diesen Tagen gehungert!" Ich glaube, Gott wünscht sich mehr von uns, als dass wir nur einmal im Jahre wirklich mit ihm leben...!
6 Allerdings geschieht dies niemals nur "nebenbei" spirituelles Wachstum fordert mich ganz und will langsam und stetig von innen her reifen.
7 vgl. dazu den Rückmeldungen der Teilnehmer/innen des Briefkurses "Kreuz als Erlösung" auf S.134-135.
9 Wenn mir dann jemand schreibt: "Ich habe das erkannt und ich will dranbleiben", ist mir das wichtiger, als wenn jemand meint, mit dem Erkennen einer Fehlhaltung habe er diese bereits überwunden. Aber im weiteren Verlauf solcher Übungs-wochen wird demjenigen das dann meistens selbst deutlich.
10 Nicht umsonst sind heute Kurse, welche meditativen Tanz anbieten, sehr gefragt.
11 s.a.a.O. S.142: Eine Teilnehmerin schrieb: "Ich habe gemerkt, dass das so ein Symbol wie das Radkreuz ganz tief in mir drin ist! Das war mir bisher nicht bewusst, dass ich damit "herumlaufe". Als ich es lange angeschaut habe, habe ich mich sehr gefreut..."
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