Überblick:
Märchen formen menschliche Urerfahrungen zum anschaubaren Bild
Märchen formen meditative Urerfahrungen zum anschaubaren Bild
Märchen formen christliche Urerfahrungen zum anschaubaren, Bild
"Noch mal!" sagt das Kind nach einem tiefen Aufatmen, als die Mutter das Märchen beendet hat. Und von neuem malt die Mutter erzählend die uralten und doch noch immer neu erlebbaren Bilder des Märchens, zaubert sie gleichsam vor das innere Auge des Kindes. Und die Kinderaugen hängen gebannt an den Lippen der Mutter, atemlos lauscht das Kind den Worten, in seinem Gesicht spiegeln sich miterlebte Freude, tiefempfundene Angst und Schmerzen - bis es mit seinem befreiten, erlösten Aufatmen in die Wirklichkeit zurückfindet.Was wir in Meditationskursen durch verschiedene methodische Hilfen einzuüben versuchen - das schweigende, bewegungslose Dasein - die innere Sammlung - die Beruhigung des Atems - die Öffnung der inneren Erlebnisschichten - das wiederholende Verweilen, um das Aufgenommene bis in die Tiefe eindringen zu lassen - all' diese Grundhaltungen echten Meditierens finden wir bei den Kindern, denen Märchen erzählt werden von einem Menschen, der fähig ist, durch die Art seines Erzählens das Kind in ein echtes, tiefes Meditationserleben hineinzuziehen. Denn, wenn es gilt, dass beim Meditieren ein jeder seinen eigenen, ihm gemäßen Weg finden muss, dann darf man ohne Abstriche sagen, dass solch ein "Märchenleben" für das Kind echte Meditation ist.
Nur ein Mensch, der aus seiner meditativen Mitte her erzählt, wird beim Kind die meditativen Schichten öffnen - und nur ein Medium, das aus der Meditation erwachsen ist, zieht auch spontan wieder in die Meditation hinein: das gilt in hohem Maße für das Märchen. Ein gewachsenes Märchen ist ebenso wie das Volkslied und das Sprichwort gestaltgewordene Meditation einer "Volksseele". Und es darf hier noch einmal daran erinnert werden, dass Märchen nicht als Kindermärchen, sondern als Volksmärchen überliefert wurden.
Worin liegt nun das meditative Element des echten Märchens? Schlicht und vereinfacht darf gesagt werden: Ein Märchen stellt wesentliche, "archetypische" (C.G. Jung) Grunderfahrungen menschlichen Daseins- und menschlichen Erlebens in ganz einfachen Bildern vor uns hin. Nun ist der Mensch so angelegt, dass er die Begegnung mit dem äußeren Symbol-Bild braucht, damit in dieser Begegnung das eigene innere Wesen sich formen und Gestalt werden kann, damit er sein Inneres wahrzunehmen vermag, und damit durch dieses Geschehen ein echter Heilungsprozess in Gang kommt. "Wo Urbilder sich nicht verwirklichen können oder sich in einer falschen Weise verwirklichen, wird der Mensch psychisch krank. Hilfe zur echten Verwirklichung kann deshalb oft Heilwirkungen auslösen, die man oft als Folge regelmäßiger Meditation erfährt« (Handbuch für Psychologie). Von drei Einzelaspekten her möchte ich versuchen, das zu verdeutlichen.
Märchen formen menschliche Urerfahrungen zum anschaubaren Bild
Im Märchen begegnen uns archetypische Gestalten. Die "Schwarz - Weiß – Malerei" des Märchens hat hier ihren Grund und ihren Sinn: Der Gute ist wahrhaft gut, ohne die Abstriche, die das Leben macht, weil in ihm das Symbol des Gutseins gezeichnet wird. Ebenso ist der König eine Symbolgestalt, es ist der König schlechthin, "königlich" in seiner Erscheinung und in seinem Verhalten. Und wer macht sich noch deutlich, dass das landläufige Bild des Teufels nichts anderes ist als ein Märchensymbol, ein archetypisches Symbolbild, in dem das Böse anschaubar wird in seiner Bosheit (aber oft auch in seiner Dummheit!)?
In gleicher Weise hält uns das Märchen in unzählbaren Einzelbildern archetypische Verhaltensweisen vor Augen: Was Gerechtigkeit, Tapferkeit, Ausdauer, Fleiß, Treue, aber auch was Geiz, Habgier, Missgunst ist, wird im Märchen nicht theoretisch beschrieben, sondern in Bildern anschaubar gemacht: Menschliche Werte und Gefahren, die im Erleben des Märchens im "Grunde" menschlichen Seins erfahrbar werden, können in der meditativen Begegnung mit diesen Bildern den Menschen von innen her, vom "Grunde" her formen.
In immer neuen Varianten begegnet uns im Märchen der Mensch auf dem Wege zu einem Ziel: Die Bilder dieses Weges mit seinen Bewährungsproben, mit Gefährdungen durch böse Gewalten wie auch mit Hilfe durch gute Mächte erschließen dem Meditierenden die Dimensionen seines Weges: Der Mensch auf seinem "Lebensweg" erhält durch die Bilder solcher archetypischer Ereignisse eine innere Erhellung seines eigenen "Weg – Daseins".
Märchen formen meditative Urerfahrungen zum anschaubaren Bild
Nicht nur im Spontanverhalten des Kindes, das dem Märchen lauscht, erleben wir die Verwirklichung meditativer Grundhaltungen und Grundbewegungen, sondern auch im Symbol-Bild weist das Märchen selbst auf die Dimensionen hin, die das meditative Geschehen bergen:
Das Schweigen - als meditative Grundhaltung zeichnet das Märchen im Motiv des freiwillig-sühnenden Verzichts auf das Wort oder als unfreiwillig auferlegte Sühne für ein Vergehen (die 12 Brüder, Marienkind). Immer steht der Verzicht auf die Sprache für ein echtes, fruchttragendes Opfer.
Sammlung wird anschaubar in dem so häufig auftauchenden Motiv, dass eine wichtige Wegstrecke - immer ist es die entscheidende, letzte Strecke – zurückzulegen ist, ohne sich umzudrehen, mag sich da abspielen, was immer will. Nur so wird das Ziel erreicht.
Der Weg in die Tiefe und - umgekehrt - das Erleben der Schwerelosigkeit kann unter Benutzung von Märchenmotiven erlebbar gemacht werden: Die innere Vorstellung, in einem tiefen Brunnen immer tiefer zu sinken (Frau Holle) führt viele Teilnehmer an Meditationskursen ebenso leicht zum Erfahren der eigenen Tiefe, wie die Vorstellung, auf einem fliegenden Teppich zu sitzen, das Gefühl des Schwebens vermitteln kann.
Der Wunsch nach Verwandlung, das Warten auf Verwandlung, etwa eines seit Urzeiten verzauberten Prinzen, ist symbolisches Bild für eine Sehnsucht, die viele Menschen zur Meditation hinzieht.
Das Bild des Vertrauens, wie es uns immer neu begegnet, führt schon über das hinaus, was wir meditative Urerfahrung nennen: Wo immer eine Gestalt im Märchen nur so ihren Weg durch alle Gefahren hindurch bestehen kann, dass sie sich bedingungslos - vertrauend der guten Macht, in welcher Gestalt sie auch begegnen mag - anvertraut, da führt dieses Symbol in eine Wirklichkeit, die wir als Christen für uns in Anspruch nehmen: Wer sich dem meditativen Verwandlungsprozess anvertraut, übergibt sich nicht einer unpersönlichen Macht, sondern dem Vater, der uns in personaler Liebe zu unserem eigenen persönlichen Ziel führen will. Lohnte es sich nicht, dieses Bild meditierend so in uns einzulassen, dass dieses Vertrauen von innen her wächst?
Märchen formen christliche Urerfahrungen zum anschaubaren, Bild
Wir hätten diesen Punkt ausweiten können und von den religiösen Urerfahrungen sprechen, wie sie sich in den Mythen aller Religionen darstellen. Das wäre ein eigenes Thema. In diesem Zusammenhang sollte nur einmal in den Blick kommen, wie intensiv der Mutterboden, aus dem die deutschen Volksmärchen gewachsen sind - mag man ihn nun als Volksseele oder anders bezeichnen -, das genuin Christliche in sich aufgenommen hat. Denn niemals wird sich etwas, was mich nur einmal an der Oberfläche angerührt hat, in der Selbstdarstellung eines Symbolbildes gestalten. Was sich im meditativen Bilde darstellt, erwächst aus dem innersten Wesenskern.
Schauen wir uns zuerst drei Märchen an mit christlicher Thematik. - Das Märchen von den Sterntalern ist nur zu verstehen aus der Gewissheit und Erfahrung des Glaubens, dass Schenken reicher macht als jedes Festhalten des Besitzes. Keine Predigt über die Tugend des Maßhaltens wird wohl auch nur annähernd an die "eindrückliche" Kraft heranreichen, die das Märchen "Vom Fischer und siner Frau" in sich birgt, und das Märchen vom "Marienkind" muss man durchmeditieren, um zu spüren, welche Fülle christlicher Wahrheitsaussagen sich hier im Bilde verdichten.
Doch auch den thematisch scheinbar neutralen Märchen (ich beschränke mich in diesem Zusammenhang bewusst auf deutsche Volksmärchen) spürt man auf Schritt und Tritt an, wie viel christliches Blut in ihren Adern fließt: Ob es sich darum handelt, einen Menschen aus der Gewalt böser Mächte zu erlösen, oder ob man den Teufel lächerlich machen kann aus der letzten Gewissheit des Ostersieges her! Ob man die fraglose Selbstverständlichkeit erlebt, wie man sich an ein gegebenes Wort gebunden weiß, oder ob sich ein einzelner Satz in seiner christlichen Transparenz enthüllt, wie etwa der: "Tragt euer Bündel mit Geduld, wenn wir zu Hause angelangt sind, so will ich euch ein gutes Trinkgeld geben." (Die Gänsehirtin am Brunnen).
Könnte es nicht möglich sein, dass ein Mensch, der von Kindheit an in unauslöschlichen Bildern in sich eingelassen hat, dass Erlösung nötig und möglich ist, dass sie Opfer und Einsatz des Lebens fordert, dass sie nur im Gehorsam gegenüber strengen - meistens unverstandenen - Anordnungen geschehen kann, dass sie nur von einem Menschen mit reinem Herzen vollzogen wird, - könnte es nicht möglich sein, dass solch ein Mensch in ganz anderer Weise vorbereitet ist, die christliche Erlösungsbotschaft zu vernehmen als ein anderer, in dessen Innerem diese Dimension archetypischer Menschheitssehnsucht noch nicht Gestalt gewinnen konnte, weil ihm das Gegenüber des Symbol-Bildes fehlte?
Ich möchte schließen mit einem Vorschlag für den praktisch-christlichen Vollzug in der meditativen Dimension des Märchens. Man sollte einmal versuchen, in ein paar stillen Stunden seine eigenes Leben in der symbolbildhaften Gestalt eines Märchens Gestalt werden zu lassen. Und wer Kindern etwas von der christlichen Botschaft vermitteln möchte, dürfte hin und wieder einmal ausprobieren, ob er das zu Sagende in die Form eines aus eigener Meditation erwachsenen Märchens bringen könnte. Märchen tragen oft mehr Wahrheit in sich als mancher Tatsachenbericht.
* Veröffentlicht in „Meditation“ 1994 Heft 4 Weilheim 1994
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