Überblick: - Exerzitienerfahrungen im allgemeinen
- Exerzitienreflexionen
- Dynamik des Exerzitienprozesses
- Bedeutung der Heiligen Schrift in Einzelexerzitien
- Die Heilige Schrift als Samen und als Nahrung
- Die Heilige Schrift als "Wort Gottes"
- Wege des geistlichen Umgangs mit der Schrift
- Die Anwendung der Sinne
- Wirkung der Bilder
- Archetypische Bilder in der Bibel
- "Bilder" in ihren verschiedenen Bereichen
- Die "sakramentale" Wirklichkeit biblischer Urbilder
- Die Heilsgeschichte in mir
- Der geistliche Weg mit der Heiligen Schrift
Exerzitienerfahrungen im allgemeinenAm Ende meines ersten Exerzitienkurses, an dem ich teilnehmen konnte, erlebte ich am Schluss ein kurzes Gespräch, das mir tief zu denken gab: Ein junger evangelischer Theologe hatte als Teilnehmer im geschützten Raum dieser Exerzitien erstmals so etwas wie eine hautnahe Berührung der Wirklichkeit Gottes erlebt. Man spürte ihm an, dass er noch wie benommen davon war. Der geschützte Raum des Exerzitienhauses, das Schweigen miteinander, aber vor allem der verweilende, existentielle Umgang mit der Heiligen Schrift hatten ihm dieses kostbare Ersterlebnis beschert. Ich höre ihn noch tief erwartungsvoll fragen: "Kann man solches auch im Alltag weiterführen, dort ähnliches erleben?" Die Antwort des Leiters der Gruppe damals erschreckte mich zutiefst: "So etwas kann man nur während solcher Exerzitientage erfahren". Diese Antwort konnte doch nicht stimmen! Sie brachte mich auf einen Weg, der bis heute nicht abgeschlossen ist, mir aber sowohl durch eigene Exerzitienerfahrungen als auch durch häufige Begleitung von Einzelexerzitanten und vieler ökumenischer Exerzitienkurse schon manchen wichtigen Ausblick gewährt hat.
"Diese Tage waren für mich wie eine Oase in der Wüste, in der ich neu trinken und Wasser für den weiteren Wüstenweg mitnehmen konnte", äußerte eine Exerzitantin am Ende eines Kurses. Ein anderer beschrieb seine Exerzitien als eine kurze Regenzeit, die den verdorrten Garten bewässerte - noch einige Wochen würde die Erde feucht und der Garten fruchtbar bleiben - und dann beginne das Warten auf die nächste "Regenperiode", die nächsten Exerzitien. Diese Bilder gingen mit mir - und auch hier wurde mir immer klarer: Exerzitien könnten mehr sein: Sie müssten dem Wanderer durch die Wüste die Wünschelrute mitgeben, mit der er überall die Wasseradern selbst aufspüren könnte - sie sollten dem Teilnehmer den "Spaten" mitgeben, mit dem er in seinem eigenen Garten einen Brunnen mit eigenem Grundwasser graben könnte, um täglich seinen Garten zu bewässern.
Dynamik des Exerzitienprozesses
Die innere Dynamik, die in einem Exerzitienprozess oft so deutlich sichtbar wird, ist ein Wegabschnitt auf einem Weg, der lange vorher begonnen hat und vermutlich noch eine längere Strecke weiterführen wird. Mein Weg ist seit den letzten Exerzitien weitergegangen und wird, ja muss auch danach weitergehen. Vielleicht lässt mich dieser Abschnitt die hinter mir liegende und die vor mir liegende Wegstrecke etwas klarer erkennen. Die Dynamik des Exerzitienprozesses ist eine Bewegung, die entweder das ganze Leben bestimmt, - oder die Gefahr einer Flucht aus der Wirklichkeit ist groß 2. Es geht darum, mich selbst in den Exerzitien in meinem So, Hier und Nun vor Gott neu und klarer zu sehen, denn "Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist", sagt Meister Eckehart. 3
Die Wegstrecken zwischen den einzelnen Exerzitien sind mindestens ebenso wichtig wie die Exerzitien selbst - und diese sollen gerade dazu dienen, den Gesamtweg des geistlichen Lebens jeweils ein Stück tiefer zu begreifen und zu erfahren. Dafür bieten Exerzitien eine ganz bedeutende Hilfe.
Bedeutung der Heiligen Schrift in Einzelexerzitien
Was hat das nun alles mit unserem Thema zu tun: "Exerzitien mit der Heiligen Schrift"? Ich möchte dieses Thema nicht vor dem Hintergrund sogenannter "Vortragsexerzitien" sehen, in denen ein Exerzitienmeister seine eigenen, oft sehr guten und wichtigen Gedanken zu einem biblischen Text oder einem geistlichen Thema zum Nachvollzug anbietet, sondern ich möchte dieses Thema in Verbindung mit den klassischen, ignatianischen "prozessorientierten Einzelexerzitien" behandeln. In solchen Exerzitien geht es in einem Zeitraum von mindestens acht, höchstens dreißig Tagen darum, dass der Exerzitant sich täglich viermal je eine Stunde auf einen biblischen Text einlässt 4, der seinem eigenen augenblicklichen inneren Weg und Zustand entspricht. Das tägliche Begleitergespräch dient vorrangig dazu, die jeweils der Situation des Exerzitanten "ent-sprechenden" (d.h. mit dieser Situation "sprechen" könnenden) biblischen Texte zu finden, auf die sich der Exerzitant dann meditierend einlassen kann. Alles weitere geschieht in der stillen Begegnung des Exerzitanten mit Gott, vor allem durch das Wort der Heiligen Schrift.
Die Heilige Schrift als Samen und als Nahrung
Jesus spricht vom Wort Gottes als dem "Samen", der in unser Leben hineinfällt, - auf unterschiedlichen Boden -, um dort Frucht zu bringen - sei es dreißigfältig oder gar hundertfältig 5. Und er weiß um die innere Kraft dieser "stillwachsenden Saat" 6, die unter Sonne, Wind und Regen zur Frucht heranreifen will. Dass das Wort Gottes in uns Frucht bringen will, sagt uns auch schon der Prophet Jesaja 7. Ein anderes Bild gebraucht Jesus dem Versucher gegenüber: dass der Mensch nicht allein vom Brot lebt, sondern vom Wort, das aus dem Mund des Herrn kommt 8 - dass das Wort "wahre Speise" des Menschen ist, die ihn zutiefst ernährt.
Die Heilige Schrift als "Wort Gottes"
Die Hymnen des Breviers wagen es, das "Wort Gottes" betend anzusprechen:
"Wort Gottes, dessen Macht und Ruf,Oder:
von Anbeginn die Welt erschuf,
du bist der Anfang und das Ende"."Göttliches Wort, der Gottheit Schrein,Man spürt etwas aus diesen Worten, was aus Erfahrungen der inneren Wirkkraft dieses Wortes geboren ist, aus Erfahrungen, in denen betende Menschen "in mit und unter" dem Wort etwas von Gott selbst berühren durften. Ich wage es deshalb, in diesem Zusammenhang vom sakramentalen Charakter des Gotteswortes zu sprechen. So wie man die Eucharistie, als wirklichkeitstragendes Zeichen Gottes sieht, ebenso haben immer neu Christen aller Zeiten das Gotteswort als Träger göttlicher Wirklichkeit erfahren, geliebt und verehrt.
führ uns in dein Geheimnis ein".Seit frühesten Zeiten bekam die Heilige Schrift den Titel "Wort Gottes". Und doch wissen wir sehr genau, dass dieses Wort durch Menschen niedergeschrieben wurde. Wie aber hören wir durch das Wort der Menschen hindurch die Stimme Gottes? Fragen wir bei Menschen nach, die ihre ganze Existenz darauf gebaut haben, dass ihnen das Wort der Schrift zur lebendigen Nahrung werden sollte: Ich möchte sie als "Fachleute" bezeichnen, als Fachleute für den geistlichen Umgang mit der Heiligen Schrift. Es waren die frühen Mönche der Wüste. Sie bezogen fast ausschließlich ihre geistliche Nahrung aus der Bibel, die sie in weiten Teilen auswendig gelernt hatten. Weil sie wussten, dass ein Wort Antwort erwartet, sprechen sie davon, dass die Grundvoraussetzung dafür, dass wir durch die Schrift die Stimme Gottes wirklich hören können, dass uns die Schrift zur wahren Nahrung werden kann, die "Antwort" des Menschen ist, und das heißt: "ein Leben nach dem Wort Gottes".
Wege des geistlichen Umgangs mit der Schrift
Die frühen Mönche sprechen weiter davon, dass man für jede Kunst die dazu notwendigen Fertigkeiten erwerben muss - das gilt ebenso wie für jedes Handwerk für die Kunst des Bibellesens. Dabei entwickeln sie die Lehre vom "vierfachen Schriftsinn". Johannes Cassian, der gesammelte Erfahrungen von Mönchen mit der Bibel zusammenstellt 9, spricht vom "historischen", vom "symbolischen", vom ethischen ("tropologischen") und vom eschatologischen Sinn der Schrift.
Diese Hinweise muten mich immer wieder erstaunlich modern an, wenn ich beachte, wie kostbar gerade diese Hilfen im Rahmen von Exerzitien für die Gottesbegegnung durch das Wort der Schrift werden können. Alle vier Weisen gehören zusammen, wenn der "Same des Wortes" in meinem Leben mehr und mehr Frucht bringen, wenn mir das Wort wahrhaft zum Brot werden soll, das mich im Innersten ernähren kann.
Ich fühle mich erinnert an das, was die Mönche nach ihrem damaligen Verständnis mit dem "historischen Schriftsinn" meinten, wenn Ignatius von Loyola an verschiedenen Stellen seines Exerzitienbuches Anweisungen gibt, dass man beim Lesen und Meditieren der biblischen Geschichten alle seine Sinne innerlich anwenden solle, so. als sei man selbst bei dem Geschehen anwesend. Es geht darum, eine biblische Geschichte mit allen Sinnen mitzuerleben. Ich kann mich in eine biblische Geschichte hineinversetzen, indem ich innerlich so genau als möglich zu sehen versuche, was da geschieht, indem ich mir die Stimmen der Menschen innerlich hörend vorstelle, wie sie das sagen, was von ihren Worten überliefert wird. Ganz entscheidend ist das Sich - Einfühlen in die einzelnen Gestalten einer Geschichte: Kann ich in etwa nachfühlen, was in jeder dieser biblischen Personen innerlich vorgegangen sein mag? Ebenso kann ich etwas von der Gesamtatmosphäre einer Erzählung "wittern", - und schließlich gebraucht Ignatius den Geschmackssinn in einem entscheidenden Wort: "Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge" 10. Nicht nur einmal habe ich Exerzitien damit begonnen, dass ich die Teilnehmer zum "Ankommen" fünfzig Minuten ins Freie geschickt habe mit der Aufgabe, je 10 Minuten nur zu beachten, was sie sehen, dann was sie hören usw. Das war die Vorbereitung für das Aufnehmen der ersten biblischen Geschichte mit "Anwendung der Sinne".
Bereits diese einfache Methode kann bei vielen Exerzitanten einen völlig neuen Zugang zur Heiligen Schrift vermitteln. Es ist oft tief bewegend, das miterleben zu dürfen. Wie aber ist das möglich? Mir sind zur Erklärung dieses Geschehens einige moderne Erkenntnisse zur wesentlichen Hilfe geworden und haben mir selbst damit zu einer klareren und bewussteren Anwendung bestimmter Bilder und Erzählungen der Bibel in den Exerzitien geholfen:
Alfons Rosenberg11 zeigt auf, welche Wirkung wesentliche Bilder haben, wenn wir uns ihnen meditierend aussetzen, - dass sie tiefe Urbilder in uns ansprechen - und damit Urkräfte, die in der menschlichen Seele verborgen liegen, zu ihrer eigenen Dynamik befreien. Er gründet sich damit auf C.G.Jung, dessen Entdeckung der Archetypen in der menschlichen Seele als eine der bedeutendsten Entdeckungen dieses Jahrhunderts bezeichnet worden ist. Und der Theologe Paul Tillich 12 geht in einer überzeugenden Weise auf die Macht wesentlicher Symbole ein, weil Ursehnsüchte, Uranliegen und Urfragen des Menschen niemals anders als im Symbolbild angesprochen werden können.
Archetypische Bilder in der Bibel
Nun können wir die Bibel fast an jeder beliebigen Stelle aufschlagen - und uns begegnen Bilder, archetypische Bilder und bildhafte, symbolhafte Erzählungen. Wenn ich hier das Wort "symbolhaft" gebrauche, so meine ich damit nicht eine Entwertung der historischen Wirklichkeit, die sich in diesen Bildern ausspricht. Aber diese Wirklichkeit wird uns von der Bibel in Bildern und Erzählungen, nicht in abstrakten theologisch-philosophischen Lehrsätzen vermittelt. So sahen die frühen Mönche auch die Schrift in ihrer symbolischen Tiefe ("symbolischer Schriftsinn").
Folgen wir Paul Tillich und Alfons Rosenberg, so sprechen diese Bilder in einer tiefen Schicht in uns bestimmte verborgene Dimensionen unseres Daseins an, die wir ohne diese Bilder gar nicht in den Blick bekommen könnten. Lassen wir die Bilder wirken, dann mögen sie in uns verborgene Sehnsüchte,- aber auch, und zwar unmittelbar damit verbunden - verdrängte, bisher unerschlossene Möglichkeiten unseres Lebens plötzlich in dem Raum des Bewusstseins treten. Das braucht Zeit zum Verweilen - aber diese Möglichkeit bieten uns gerade Einzelexerzitien als ein großes Geschenk an.
"Bilder" in ihren verschiedenen Bereichen
Der Begriff des "Bildes", des Urbildes oder des "archetypischen Bildes" ist sehr umfassend: Solche wirklichkeitstragenden Urbilder können Dinge sein: Wenn ich mir die Zeit nehme, bei den Bildern eines Psalmes zu verweilen, dann kann ich erleben, dass mich der Herr als "mein Fels" zu tragen beginnt und mir "Grund unter den Füßen" vermittelt - oder dass ich ein wenig in das "Licht" treten darf, von dem der Psalm sagt: "Der Herr ist mein Licht".
Es können ebenso Menschen sein: Wenn ich einmal begriffen habe, dass meine Person aus unendlich vielen "Teilpersönlichkeiten" besteht, die oft kaum etwas voneinander wissen , dann kann mir das Verweilen angesichts mancher biblischen Personen in einer überraschenden Weise bewusst machen, dass ich nicht nur die Martha, sondern auch die Maria in mir habe, nicht nur den Zöllner, sondern auch den Pharisäer, nicht nur den David, sondern auch irgendwo den Goliath. Jedes Meditieren einer biblischen Gestalt kann mir helfen, eine neue, eigene Dimension in mir zu entdecken - und sie - zugleich mit ihrer Gegengestalt! - zum Leben zuzulassen.
Das gilt vielleicht noch tiefer für bestimmte menschliche Urerfahrungen und Urfragen: Gerade die Bilder der ersten Kapitel der Bibel sprechen in eine Tiefe hinein, wo sie die in jedem Menschen verborgene Frage nach dem Woher und Wohin menschlichen Daseins, die Urfragen nach Schuld und Unheil berühren 13.
Das sind nur einige Beispiele, sie könnten lange fortgesetzt werden. Allen aber ist eines gemeinsam: Setze ich mich der Wirkung solcher Urbilder aus, wird dabei für mich ein Prozess der Ganzwerdung in Gang gesetzt, der mir vielleicht erst viel später bewusst wird. Und noch etwas: Die "ethische" Dimension des biblischen Wortes, von dem die frühen Mönche sprechen, gewinnt hier eine besondere Tiefe: Nicht über Appelle an den guten Willen wird sich das Verhalten des Menschen wirklich ändern - wer hätte da nicht schon seine Negativerfahrungen gemacht? - sondern durch eine allmähliche Verwandlung von innen her, die Kräfte aus einer anderen, tieferen Dimension freisetzt.
Die "sakramentale" Wirklichkeit biblischer Urbilder
Vielleicht hat sich jetzt mancher beim Lesen an einigen Stellen gefragt: Ist das nicht alles jetzt auf einer psychologischen Strecke gelandet - die wir uns gerade für die Exerzitien nicht wünschen? Diese Bedenken können die nächsten Überlegungen leicht zerstreuen: Es gehört zu den einschneidendsten Exerzitienerfahrungen, dass im Meditieren der biblischen Bilder immer wieder einmal ein Funken der Wirklichkeit Gottes überspringt, der in diesen Bildern enthalten ist. Paul Tillich 14 sagt über das Geheimnis echter (nämlich biblischer) Symbole: "Ein echtes Symbol hat und vermittelt wahrhaft Anteil an dem, worauf es hinweist", nämlich auf die Wirklichkeit, die uns zutiefst angeht, und die doch nur im Bilde berührbar ist. So umschreibt er die Wirklichkeit Gottes für den heutigen Menschen. Gerade die Tatsache, dass die Bilder uns in Tiefenschichten aufschließen, die sonst im Verborgenen liegen, ermöglicht Erfahrungen der Gegenwart Gottes. Wenn Gott den Menschen manchmal ahnungshaft ein wenig von seiner Wirklichkeit spüren lässt , dann geschieht dies wohl in den seltensten Fällen beim Nachdenken über ein bestimmtes Problem, sondern dann, wenn der Mensch in seiner Tiefe für diese Wirklichkeit geöffnet ist. Gott spricht uns normalerweise nicht im Verstand, sondern in unseren Herzen an - und gerade diese Bereiche öffnen sich im Meditieren biblischer - d.h. aber nach Paul Tillich "gottesträchtiger" - Bilder. So kann uns durch die Bibel wahrhaft und wirklich Gott berühren, ohne dass wir solche Erfahrungen von uns aus herbeiführen könnten. Und sie treffen uns in aller Vorläufigkeit, die unser irdisches Leben beinhaltet.
Gott hat uns nach seinem Bild geschaffen, und je mehr wir "ganze Menschen" werden, desto mehr wachsen wir in dieses Bild hinein. Aber wir dürfen noch einen wichtigen Schritt weitergehen. Seit unserer Taufe ist noch etwas anderes geschehen: André Louf15 spricht davon, dass in der Taufe das "Wort" in uns "eingesämt" worden ist - und wenn wir dem Wort der Schrift begegnen, dann begegnet das äußere Wort in uns diesem inneren Wort - und sie erkennen sich gegenseitig.
Die Mystiker sprechen von der Gottesgeburt im Menschen, durch die aller Segen und alles Heil in ein Leben hineinkommt. Christus will in uns geboren werden - aber mehr noch: er will in uns sein eigenes Leben weiterleben, und zwar in der Form und Gestalt, die ihm unser einmaliges und unaustauschbares Menschsein anbietet, mit seinem äußeren Schicksal und seiner inneren Befindlichkeit. Ein Mystiker wie Meister Eckehart kommt ins Stammeln, wenn er von dieser Wirklichkeit Gottes in uns sprechen will, von dem, was sich eigentlich jedem Wort entzieht, und was dennoch wirklicher ist als vieles, was uns so "wirklich" erscheint.
Letzten Endes ist der tiefste Sinn jeder biblischen Meditation, dass das innere Anschauen des äußeren Bildes - meistens des Bildes Jesu Christi - sein Bild in uns mehr und mehr zur Entfaltung bringt - dass wir mehr und mehr seinem Bilde in unserem Leben gleichgestaltet werden (Röm 8,29).
Und wenn man dem klassischen Exerzitienweg des Ignatius folgt, so gestaltet sich dieses Bild nach und nach in ähnlichen Schritten, die uns die Evangelien vom Leben Jesu vor Augen stellen: Da gibt es die "Geburt" und das "verborgene Leben" - da gibt es die Glücksstunden der Berufung, wo wir etwas von dem geöffneten Himmel ahnen - und da gibt es die Wüstenzeiten mit ihren Versuchungen - und oft die so langen, ermüdenden alltäglichen Wege. Und wenn der Apostel Paulus dem Christen das "Mit-Leiden, das "Mit-Sterben" und das "neue Leben mit dem Auferstandenen" zuspricht, so ist es für ihn wie eine Selbstverständlichkeit, was wir immer neu - und gerade in Exerzitien - für uns buchstabieren müssen: Dass das Leben Christi in jedem von uns in einer Art wachsen möchte, die in engster Verbindung mit der Heilsgeschichte Gottes in Christus Jesus steht.
Die Wirklichkeit Gottes in mir und seine Gegenwart in der Schrift kann sich gegenseitig bestärken - aber das schließt nicht aus, dass ich weite Strecken meines Weges nichts zu erleben scheine als die nackte Wüste. Gott ist immer noch größer als jedes Bild ("eschatologischer Schriftsinn" 16), auch als jedes biblische Bild - und solche Wüstenstrecken wollen uns immer neu daran erinnern. Dann scheint die Bibel zu schweigen, nichts spricht mich spürbar an - und gerade solche Trockenheiten können sich oft während der Exerzitien einstellen. Dann ist es besonders gut, einen Begleiter zu haben, der für mich weiß und glaubt, dass "Wüste" Vorbereitung auf neue Aufgabe sein, - dass "Tod" seit Jesus für uns Weg mitten hinein ins Leben werden kann. Es ist die Heilige Schrift, der wir dieses Wissen verdanken - und vielleicht sind es gerade Exerzitien, die uns in solches Wissen einüben können. Denn Exerzitien sind Geistliche Übungen - und wollen uns wieder etwas vermitteln von einem Weg, den die frühe Christenheit den "mystagogischen Weg" nannte.
Immer neue Dimensionen der Heilsgeschichte Gottes begegnen uns im Spiegelbild eigenen inneren Erlebens - und lassen uns dadurch diese Heilsgeschichte als etwas Atemberaubendes und uns existentiell Angehendes jeweils neu erleben und erfahren. Diese Sicht üben wir in Exerzitien ein, damit wir sie uns mehr und mehr auch im Alltag zu einer gewissen Selbstverständlichkeit wird. Und ich denke, so kann uns Gottes Wort wirklich zu einer Speise werden, die unser eigentliches, wahres Leben nährt.
Der geistliche Weg mit der Heiligen Schrift
Wer in Exerzitientagen besonders dicht erlebt, dass ihn Gott gerade durch das Wort der Schrift existentiell berührt und in seinem Leben anspricht, der mag eines Tages tief bewegt begreifen: Die Heilige Schrift darf ich mitnehmen, wohin immer ich gehe - auch außerhalb des geschützten Exerzitienraumes 17. Ich brauche Gott nicht nur an bestimmten Orten anzusiedeln oder zu bestimmten Zeiten mir nahe zu glauben. Und gerade deshalb geht auch mein Weg weiter, wo immer ich ihn mit der Bibel im Glauben an die Nähe Gottes gehe. So wird der Übungsweg der Exerzitien mit der Heiligen Schrift mehr und mehr zu einem geistlichen Übungsweg des gesamten Lebens.
1 (Veröffentlicht in „Jetzt“ 1992 Heft 2 – Ordensfrauen Ordensleben Kirche, -Verlag J. Pfeiffer, München2 Es gibt Exerzitienbegleiter, die beim Beginn neuer Exerzitien an das Ende der letzten Exerzitien anknüpfen wollen - ich halte es für weit fruchtbarer, bei der konkreten, augenblicklichen Wegstrecke, also im Jetzt, Hier und So, einzusetzen.
3 Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes Nr.202 S. 72,14ff. vgl. dazu auch Johne,K, Einübung in christliche Mystik, Graz 1991
4 Ich meine hier das Wort "einlassen" im wörtlichen Sinne
9 Johannes Cassian, Ruhe der Seele, Collatio XIV, Freiburg 1984
10 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, Nr.2, Freiburg 1983
11 Rosenberg, Alfons, Christliche Bildmeditation, München 1965
12 Tillich, Paul, Systematische Theologie Bd III, Stuttgart 1966
13 Die großartigen Bilder der Jona-Geschichte können zum Beispiel in bestimmten Situationen die Sehnsucht nach einer Zeit der Regression, des Kräftesammelns in einer notwendigen Periode der Zurückgezogenheit - vielleicht die Sehnsucht nach einer Rückkehr in den Mutterleib tief ansprechen. Und jeder von uns weiß, dass er solche Ruhepausen in seinem Leben braucht, und wenn wir sie uns selbst nicht gönnen, dann wird uns vielleicht eine unvorhergesehene Krankheit diese Atempause verschaffen, deren Ziel es ist, uns neue Kräfte für eine neue Wegstrecke sammeln zu lassen.
14 vgl. dazu Johne,K. Geistlicher Übungsweg, S.66ff, Graz 1989
15 Louf, André, In uns betet der Geist, Einsiedeln 1976
16 Eschaton ist das Äußerste, das Letzte, das, was über sich hinausweist. Wenn die Mönche vom "eschatologischen Schriftsinn" sprachen, dann hatten sie gewiss zuerst die Zeit nach diesem irdischen Leben im Blick, aber sie wussten auch davon, dass diese Ewigkeit Gottes bereits mitten in diese unsere Zeit in Jesus hereingebrochen ist.
17 Im Blick darauf entstand das Buch: Johne,K, Dein Wort wird mich verwandeln, Meditieren mit dem Matthäusevangelium, Freiburg 1991
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