Ich bin dankbar, heute in dieser weltweiten Umbruchszeit leben zu dürfen und es ist für mich etwas Großes, solch ein wichtiges Kapitel der Menschheitsgeschichte miterleben zu dürfen. Aber das heißt in keiner Weise, dass dieses Leben einfach wäre. Im Gegenteil, es stellt uns vor entscheidende Fragen. Wer wachsam in unsere Zeit und in sich selbst hineinlauscht, wird sie kaum überhören. Ich nenne nur einige:Wie verarbeiten wir die Flut von Informationen, die täglich auf uns einstürmen?
Woher nehmen wir die Freiheit und die nötigen Kenntnisse, um uns in dem Urwald von Angeboten richtig zu entscheiden?
"Werden wir gelebt", anstatt wirklich selbst zu leben? Rennen wir nicht oft an unserem eigentlichen Leben vorbei - weil wir nie Zeit haben?
Wird die Menschheit Wege finden, dass sie überhaupt überleben kann?
Es waren nicht diese Fragen, die mich bewegten, mich mit unserem größten deutschen Mystiker, mit Meister Eckehart zu befassen - aber je mehr ich es tat, desto deutlicher wurde mir, dass er - bereits vor 700 Jahren - auf viele dieser Fragen hilfreiche Antworten gegeben hat. Diese Antworten sind aus dem Leben erwachsen, nicht am Schreibtisch entstanden - und sie werden von dem verstanden, der sie zu leben versucht.
1. Meister Eckehart weist uns hin auf einen Ruhepunkt inmitten der Unruhe.
Wer von uns brauchte und suchte nicht immer wieder solch einen Ruhepunkt? Eckehart prägt den Satz: "Dem Menschen in solch vollkommen guten Willen kann... keine Zeit zu kurz sein" 3 . Ich habe selten so betroffen aufgehorcht wie bei diesen Worten. Wer war das, der so etwas sagen kann?
2. Meister Eckehart weist uns hin auf die Einheit, in der alle Vielfalt wurzelt.
Noch keine Generation vor uns hatte eine solche Vielfalt von Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten wie wir Menschen der westlichen Welt. Aber es ist merkwürdig: Wer ist wirklich zufrieden? Ein Sprichwort sagt: "Jeder erfüllte Wunsch bekommt Junge". Waren nicht vielleicht unsere Großeltern oft glücklicher als wir heute? Und dabei liegt es doch auf der Hand, dass wir so nicht weitergehen können - ohne unseren ganzen Lebensraum zu zerstören. Was stimmt da nicht?.
Meister Eckehart sagt: Der Mensch sucht in der falschen Richtung, wenn er sein Glück nur "draußen" sucht: Er sucht im Grunde nach etwas anderem, nach dem "Einen" in sich selbst - solange er das nicht findet, wird er ruhelos weiterjagen.
3. Meister Eckehart zeigt den Weg des Lassens als Weg zur wahren Fülle.
Wie schwer können wir wirklich etwas oder jemanden loslassen! Das macht uns oft das Schlafen und auch das Sterben so schwer! Meister Eckeharts Denken kreist um das Geheimnis der "Gelassenheit". Loslassen braucht kein Verlust zu sein - im Gegenteil: Jedes "Lassen" jeder Verzicht - von Gott angenommen - öffnet mich für größere Fülle wahren Lebens. Jede Leere will Gott selbst ausfüllen, in "jedem Nicht wird Gott geboren".
4. Meister Eckehart verlegt das Gewicht vom Haben auf das Sein.
Erich Fromm hat das vielbeachtete Büchlein geschrieben: "Haben oder Sein". Fromm übernimmt Gedanken von Meister Eckehart. Mir hat dieses Buch die Augen geöffnet für die Gefahren unseres Lebensstiles. Auch anderen erging es so: Zu einem meiner Meister Eckehart- Kurse meldeten sich junge Menschen, die durch dieses Buch E. Fromms auf diesen mittelalterlichen Meister gestoßen waren und ihn näher kennen lernen wollten.
5. Meister Eckehart zielt auf die Verwandlung des Menschen von innen her.
Müssen es uns heute erst die Anhänger der New-Age-Bewegung sagen, dass die Rettung der Menschheit nur von einem verwandelten Bewusstsein ausgehen kann? Sie bieten z.T. merkwürdige Wege an und diese werden begierig aufgenommen! Bei Meister Eckehart ist das viel einfacher: In seinem Innersten kann der Mensch mit Gott "eins" werden, indem er sich von Ihm prägen und durchprägen lässt.
Alles, was zu Gott kommt, wird verwandelt. Wenn das schon mit geringfügigen Dingen geschieht - wie viel mehr wird er den Menschen verwandeln, wenn er sich ihm hinhält!
Solche Erkenntnisse kann ich nicht einfach übernehmen, sie erschließen und bewahrheiten sich im Leben. Deshalb möchte ich mit einem Meister Eckehart- Wort schließen: "Solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar" .
Anmerkungen1 Einladung zum Meister Eckehart - Kurs in Schönbrunn
2 Als Briefkurs (Exerzitien im Alltag) angeboten in "Einübung in christliche Mystik" - Ein Kursus mit Meister Eckehart Styria-Verlag Graz 1991
3 Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes 1963, S. 91
a.a.O. S. 309
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