Karin Johne

Der Mensch als Bild Gottes - Gedanken zur Entscheidungsfindung -
(zu Jesaja 55, 8-11)
1

"In jedem lebt ein Bild, des das er werden soll;
solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll"
(Angelus Silesius)

Überblick:
Das tiefe Ziel jeder Entscheidung für mich als Christen:
  In das Bild hineinwachsen, als das Gott mich gemeint hat.

1. Das Bild von der Größe Gottes
2. Das Bild des lebendigen Wachsens
3. Das Bild vom Regen, der die Erde fruchtbar werden lässt.

- Rechte Entscheidungen sollen von "innen" und von "außen" her gedeckt sein.
- Rechte Entscheidungen wachsen aus dem Horchen nach zwei Seiten hin.
- Rechte Entscheidungen sind "gottunmittelbar".

Das tiefe Ziel jeder Entscheidung für mich als Christen: In das Bild hineinwachsen, als das Gott mich gemeint hat.
Wenn ein Adler gesund und normal aufwachsen kann, wächst er natürlicherweise in das Bild hinein, das er "werden soll", nach Gottes Willen, als er dieses Geschöpf wollte. Das gilt für jedes Tier, für jede Pflanze - jedoch nicht einfach für den Menschen. Der Mensch muss aktiv daran mitwirken, sein eigenes Bild zu gestalten, in das Bild hineinzuwachsen und hineinzureifen, das Gott sich vorgestellt hat, als er ihn einmalig und einzigartig "nach seinem Bilde schuf" (Gen.1.18).

Wie geschieht dieses Hineinwachsen? Es geschieht durch die kleinen und großen Entscheidungen, die ich lebenslang fälle. Für uns Christen heißt das: Es geschieht durch die konkreten Schritte, die ich gehe im Horchen auf den jeweiligen Willen Gottes für mich in dieser augenblicklichen Situation meines Lebens.

Oft merke ich auch heute noch, wie schwer es mir fällt, Entscheidungen zu treffen. Denn jede Entscheidung, nicht nur die großen, stellt mich vor eine Weggabelung. Und das heißt: Ich kann nicht beide Wege wählen, auf einen muss ich verzichten, um den anderen gehen zu können. Und immer ist es ein Loslassen im Hinspüren auf den Willen Gottes: Was ist Dein Wille, Herr, für mein Leben jetzt in dieser Situation?

Das ließ mich mehr und mehr der Frage nachgehen: Wodurch kann konkrete Entscheidung blockiert werden und welche Hilfen könnte uns das Wort Gottes vielleicht dazu geben? Ich stieß auf den Text Jesaja 55, 8 - 11:

"Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,
und meine Wege sind nicht eure Wege -
Spruch des Herrn.
So hoch der Himmel über der Erde ist,/
so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege/
und meine Gedanken über eure Gedanken.
Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt
und nicht dorthin zurückkehrt,
sondern die Erde tränkt
und sie zum Keimen und Sprossen bringt,
wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zu Essen,
so ist es auch mit dem Wort,
das meinen Mund verlässt:
Es kehrt nicht leer zu mir zurück,
sondern bewirkt, was ich will,
und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe."
Entscheidungsfreiheit wird blockiert durch die Angst, ich könne mich - trotz aller Anstrengung - vor Gott falsch entscheiden, und damit einen unwiderruflich falschen Weg betreten. In meinem Leben gab es eine Zeit, wo ich an einer zu treffenden Entscheidung fast kaputt gegangen wäre. Die tiefe Angst, mich etwa falsch zu entscheiden, war übermächtig und blockierte alle innere Freiheit, aus der heraus allein echte und fruchtbare Entscheidung wachsen kann.

Hinter der inneren Blockade stand ein falsches Bild: Ich meinte, Entscheidungen, die ich als Mensch zu treffen hätte, glichen einer Kugelhälfte, die genau zu der anderen Hälfte - nämlich zu dem Willen Gottes - passen müssten. Angesichts dieses Bildes gab es nur ein "richtig" oder ein "falsch". Und hinter diesem Bild erschien beim genauen Zusehen ein anderes, verborgeneres: Das Bild von einem Gott, welcher wartet, ob ich mich richtig oder falsch entscheide - um mich dann dafür zu belohnen oder zu bestrafen.

Nun bietet uns unser Jesaja - Text neben vielen anderen Möglichkeiten - drei Bilder an - Bilder, die befreien und damit überhaupt erst echte Entscheidung möglich machen:

1. Das Bild von der Größe Gottes

"So hoch der Himmel über der Erde ist"

Den Vergleich zwischen Himmel und Erde: - dieses Bild benutzen auch die christlichen Mystiker immer wieder, um zu zeigen, dass es Dinge gibt, die sich einfach nicht vergleichen lassen. Gott ist weit über unser Verstehen erhaben - und wir wären hilflos überfordert, wenn von uns verlangt würde, Gottes Willen immer klar und unzweideutig erkennen zu müssen.

Mir wurde das erstmals deutlich, als ich begriff, dass es für manche Entscheidungen nicht einfach ein Entweder - Oder, ein Richtig oder Falsch gibt, - sondern dass in manchen Situationen beide Wege erlaubt sein können. So groß ist unsere menschliche Freiheit! Erst auf dieser Grundlage löste sich die verkrampfende Angst - und machte eine Entscheidung überhaupt möglich.

Ein anderes Mal vertiefte sich diese Erkenntnis: In einer vertrauten Gruppe machten wir eine Übung, in der sich jeder eine Situation vorstellen sollte, in der er Ja gesagt hatte - und eigentlich hätte nein sagen wollen. Im ersten Moment sprangen wir alle spontan auf diese Übung an: Jeder hatte sofort eine Situation vor Augen, in der das zuzutreffen schien. Das Bedauern darüber, nicht nein gesagt zu haben, lag ganz offen da.

Doch im weiteren Verlauf der Übung stellten wir uns die Situation neu vor - mit den Konsequenzen für mich und die anderen, wenn ich wirklich nein gesagt hätte. Im folgenden Gruppengespräch merkten wir, dass wir sehr nachdenklich geworden waren: In einigen Fällen war das "Ja" wirklich das Richtige gewesen, obwohl ich es gefühlsmäßig innerlich bedauert hatte. Entscheidungen sind ja nicht nur abhängig von meinen eigenen Gefühlen, sondern stehen in einem Umfeld, für das ich verantwortlich bin. Die Kirche wusste schon immer, dass echte Berufungen nicht nur im Gefühl des Berufenen beheimatet sind, sondern dass auch die äußeren Gegebenheiten dafür da sein müssen.

Gottes Gedanken nachzudenken ist keine mathematische Aufgabe, wo es nur eine richtige Lösung geben kann!

Und noch ein weiterer Schritt in dieser Richtung: Ich erlebte, dass ich einige Entscheidungen einfach "wagen" musste, ohne vorher genau kalkulieren zu können, ob sie richtig oder falsch waren. Erst nach der getroffenen Entscheidung konnte es mir blitzartig bewusst werden: Das war richtig - oder auch: das war falsch. Kein noch so langes Hinausschieben hätte diese Erkenntnis bringen können, sie war nur durch das Wagnis möglich.

Gott mutet uns oft das Wagnis zu, ohne Absicherung zu entscheiden.

2. Das Bild des lebendigen Wachsens

Entscheidungen sind etwas genuin Menschliches - und haben etwas mit Leben zu tun. Das heißt: Entscheidungen müssen wie der Same der Erde wachsen und reifen. Die Zeit muss reif sein für eine Entscheidung. Dazu ist oft viel Geduld nötig - vielleicht über Jahre hin - und auf der anderen Seite gilt es, den rechten Augenblick für eine zu treffende Entscheidung klar zu erkennen und zu ergreifen.

Macht uns das Angst? Ich erinnere mich an ein Wort meiner Mutter, als sie einmal sagte: "Ich habe in meinem Leben oft erfahren, dass mir Gott immer die Möglichkeit gab, wenn ich eine falsche Entscheidung getroffen hatte, diese dann zu späterer Zeit noch einmal fällen zu können - zwar unter anderen Umständen, aber diese ermöglichten mir dennoch, die zuvor falsch getroffenen Entscheidung neu und diesmal richtig zu treffen". Wachsam gemacht durch dieses Wort, habe ich auch schon öfter seine Wahrheit erfahren. Und das kann befreien - Blockierungen lösen, die aus der Angst entstehen - und damit helfen, wirklich entscheidungsfähig zu werden.

3. Das Bild vom Regen, der die Erde fruchtbar werden lässt.

Entscheidungen, die Leben wachsen lassen, kann uns niemand abnehmen. Sie müssen aus uns selbst heraus "wachsen". Wie der Same die Nährstoffe der Erde in sich aufnehmen kann, wenn der Regen das Erdreich tränkt, und er sich entfalten kann, so fällt das Wort Gottes, der Wille Gottes für eine bestimmte Lebensrichtung in mich hinein - aber die Entscheidung "wächst" aus den Realitäten meines eigenen, unvertauschbaren Lebens heraus. Es gibt da manche Gefahren einseitiger Entscheidungen, denen es nicht gelingt, mich mehr und mehr in das Bild hineinwachsen zu lassen, das "ich werden soll" (s.o.). Diese Entscheidungen berücksichtigen entweder nur den "Samen vom Himmel" oder nur "das Erdreich":

Rechte Entscheidungen sollen von "innen" und von "außen" her gedeckt sein.

- Um mich in einer Entscheidungssituation richtig zu entscheiden, damit daraus Leben wächst und Frucht bringt, reicht es nicht aus, einfach nur auf meine inneren Wünsche und Sehnsüchte zu achten und sie als das einzige Kriterium anzuerkennen. Das Zulassen meiner Wünsche und Sehnsüchte ist wichtig - doch "Selbstentfaltung" in dem tiefsten Sinne, den das Wort des Angelus Silesius meint, geschieht nur in der Begegnung zwischen dem "Innen" und dem "Außen", zwischen Gott und mir.

Rechte Entscheidungen wachsen aus dem Horchen nach zwei Seiten hin.

- Um mich richtig zu entscheiden, damit daraus Leben wächst und Frucht bringt, reicht es deshalb auf der anderen Seite auch nicht aus, - wie es in manchen pietistisch geprägten Kreisen geschah -, dass ich die Bibel blind aufschlage und mit einer Stecknadel irgendwohin steche, um daraus den Willen Gottes für mich jetzt zu finden, als sei die Bibel ein Orakel. (Natürlich schließe ich nicht aus, dass Gott auch solche Methoden bei manchem benutzen kann, um ihn weiterzuführen). Lebensfördernde Entscheidungen brauchen den Blick nach zwei Seiten hin: sowohl auf Gott in seinem Wort als auch auf das lebendige Geschehen, in dem mein Leben steht und sich entfalten soll. Und noch etwas:

Rechte Entscheidungen sind "gottunmittelbar"

- Um mich in einer schwierigen Entscheidungssituation richtig zu entscheiden, reicht es nicht, einfach das Wort eines anderen Menschen unmittelbar als den Willen Gottes für mich zu übernehmen. Es geht nicht, einen anderen zu fragen, ihn für mich entscheiden zu lassen, seine Entscheidung zu übernehmen. Ich erlebte es vor vielen Jahren in einer christlichen Laienbewegung, dass dort gesagt wurde: "Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann nimm einfach das Wort deines Vorgesetzten als Gottes Willen an." Selbst wenn dieser "andere" mein geistlicher Begleiter wäre und ich ihm voll vertraute: Echte Entscheidungen müssen frei und aus mir selbst heraus wachsen, wie eine Pflanze in ihrem Erdreich wurzelt. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass ich auf die Meinungen anderer höre, sie sorgfältig abwäge - aber dieses aus meiner ureigenen Situation heraus, die "gottummittelbar" ist, wenn ich dieses Wort gebrauchen darf. Wenn bei mir nichts mitschwingt, wenn ich nicht von innen her eine Bestätigung spüre, dass er recht haben könnte, dann muss ich um so intensiver auf meine eigene innere Stimme hören.

Das macht wohl das Geheimnis meines Menschseins aus, das tiefe Geheimnis meiner Gottebenbildlichkeit als Mensch, dass ich nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen bin - und in dieses Bild mein Leben lang mehr und tiefer hineinwachsen darf: durch meine kleinen und großen Lebensentscheidungen, die mir dazu helfen sollen, dass mein Leben immer "stimmiger" wird - dass die lebendige Quelle in mir mein ganzes Leben mehr und mehr "bewässern" und fruchtbar machen kann - damit ich mein Leben als eine reife Frucht einmal Gott zurückgeben kann:

"So ist es auch mit dem Wort,
das meinen Mund verlässt:
Es kehrt nicht leer zu mir zurück,
sondern bewirkt, was ich will,
und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe."

* Veröffentlicht in „Meditation“ 1991 Heft 4 (Christianopolis-Verlag, Weilheim 1991

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