Überblick:1. Das Kreuz - Struktur unseres Menschseins
2. Das Kreuz - Symbol unserer Erlösung
3. Das Kreuz - Angebot wahren Lebens
Das Kreuzzeichen - als ein uraltes Menschheitssymbol, findet es sich bereits in der Frühgeschichte menschlicher Kunst. Zwei Linien, die sich in der Mitte kreuzen, bilden dieses Symbol - in der Mitte zusammengefasst, strahlt es aus nach allen vier Seiten, in die Gesamtheit des Kosmos. Alfons Rosenberg nennt das Kreuz ein von Gott der Welt eingestiftetes Heilszeichen, welches das Chaos zum Raume gliedern und dem Bewusstsein des Menschen seine heilende Grundstruktur einprägen kann, wo der Mensch sich meditierend diesem Zeichen aussetzt. 2
1. Das Kreuz - Struktur unseres MenschseinsDie Leibstruktur des Menschen ist von der Kreuzform geprägt. Breitet der Mensch seine Arme aus, wird er zum lebendigen Kreuz, in welchem Zeichen sich sein Menschsein ursprünglich darstellt: Er steht fest auf dem Boden der Erde, verwurzelt im irdischen Sein - und zeigt gleichzeitig in seiner aufrechten Haltung sein ihm zutiefst eingestiftetes Streben nach oben, nach dem, was über ihm ist. Seine ausgebreiteten Arme lassen ihn gleichsam schutzlos, preisgegeben in dieser Welt stehen - und gerade so verbinden ihn seine geöffneten Arme mit der ganzen Wirklichkeit des Daseins. 3 Diese beiden Grundrichtungen wahren Menschseins "durchkreuzen" sich nun gegenseitig. Wie ein trennender Querstrich können bestimmte Realitätserfahrungen ("Querbalken-) mein Streben "nach oben" - und damit meine innerste Lebensdynamik abschneiden. Ich kann mich so an der Realität "stoßen", dass ich meinen Kopf einziehe und auf des Streben nach Höherem verzichte. Ich richte mich ein unterhalb des Querbalkens: "Du spinnst", sagte die Raupe zum Schmetterling, der ihr von seinen Flügen erzählt. Doch auch das andere ist möglich: Ich lasse mich von dem Querbalken der Realität, die ich als unerträglich erfahre, vom Wurzelbereich meines Daseins anschneiden: "Wozu brauche ich die Entspannungsübungen? Wozu Atemhilfen? Wozu Aufarbeitung meines Lebens? – Ich habe doch meinen Glauben, das genügt mir." Wer kennt nicht solche Worte? Damit aber verliert der Glaube seinen Leib- und damit seinen Wirklichkeitsbezug, seine Verwurzlung in den Quellbereichen des Daseins. Und so wird er blutarm und verliert mehr und mehr seine Fähigkeit, in die Wirklichkeit dieser Welt und meines eigenen Lebens verwandelnd hinein zu wirken.
Was aber macht diesen gefährlichen "Querbalken" aus, der unser gradliniges Aufwachsen so krass zu durchtrennen scheint? Es ist unser Ausgespanntsein zwischen den positiven und den negativen Erfahrungen unseres Alltags. Wo er ausbalanciert wäre, könnte dieser "Balken" unser Leben durch seine positive und seine negative Seite im Gleichgewicht halten. Doch wird er seinerseits wieder durchkreuzt von dem "Vertikalbalken" unserer Sehnsüchte und Ideale. Weil wir nach dein Absoluten streben (müssen?), strebt in uns selbst auseinander, was in der Wirklichkeit dicht beieinander ist, - als seien wir unfähig, beides miteinander zu ertragen: Entweder zieht uns die Sogkraft der negativen Erfahrungen mit solch unwiderstehlicher Gewalt in ihren Bann, dass wir uns selbst dazu disponieren, nur noch Negatives sehen und registrieren zu können. Oder wir werden zu Menschen, die es in einer grandiosen Fähigkeit fertig bringen, nichts Negatives wirklich an uns herankommen zu lassen. Hier verschluckt die Idee, das Wunschbild die volle Realität: "Nicht sein kann, was nicht sein darf"
Fassen wir zusammen: Der Mensch in seiner Kreuzform -ausgespannt nach oben und unten, nach rechts und links, sieht sich der Sogkraft der einzelnen Linien, die ihn jeweils in nur eine Richtung ziehen wollen, in kaum vorstellbarem Maße ausgesetzt. Gibt er aber dem Sog einer Seite auf Kosten der anderen Seite nach, verliert er damit sein inneres Gleichgewicht. Gerade dieses Gleichgewicht aber macht den Menschen heil und schenkt ihm Frieden. Deshalb braucht er lebens-, ja heilsnotwendig, was die auseinanderstrebenden Tendenzen zusammenhält-. die einigende Mitte. Die Mitte aber, in der sich im Menschen die Vertikale und die Horizontale kreuzen, ist das menschliche Herz. Wo ein lebendiges "Herz" den Menschen zum wahren Menschen macht, wird der Sog nach außen, der allen vier Einzelstrebungen innewohnt, gehalten und zurückgeholt in die einigende Mitte. Sie kann den Menschen davor bewahren, nach einer Richtung hin wegzufließen.
2. Das Kreuz - Symbol unserer Erlösung
Noch einmal vertieft sich dieses kosmische und menschliche Heilssymbol und erfährt seinen innersten Sinn in dem Zeichen, das zum Zeichen der erlösten Welt geworden ist: im Kreuz Jesu Christi
Schon sehr früh wurde das Kreuz zum Heilszeichen der Christen. Wer sich bekreuzigte, übernahm mit dieser heilsbedeutsamen Geste die Kreuzstruktur seines menschlichen und christlichen Daseins bewusst in sein Leben auf.
Versuchen wir, das zu konkretisieren: Wer sich meditierend der Kreuzstruktur seines Daseinsöffnet, dem kann sich der Blick auftun für sein vertikales Ausgespanntsein zwischen den dunklen Erfahrungen seiner tiefverwurzelten Schuld, seines Eingebundenseins in die Dunkelheitsfahrungen der Menschheit überhaupt - und seiner immer tiefer aufbrechenden Sehnsucht nach Heil und Liebe, einem heilen Leben in einer heilen Welt.
Und diese "Vertikalerfahrungen" nach "unten" und nach "oben" werden nun immer wieder durchkreuzt von den Realerfahrungen auf horizontaler Ebene: Sie spannen sich aus – oft bis zur Unerträglichkeit – zwischen konkretem Gelingen und konkretem Versagen, zwischen Niederlagen und Erfolgserlebnissen. Wer kann dem gefährlichen Sog wehren, der ihn - nach der einen Seite bei eigenen Schulderfahrungen dahin zieht, diese Schuld zu verdrängen und auf andere zu projizieren? Oder wer vermag - nach der anderen Seite hin - dem Bedürfnis zu widerstehen, bei Erfolgserlebnissen auf andere herabzuschauen, sich im eigenen Erfolg zu sonnen auf Kosten anderer? Wo ist der Weg zur heilenden, zentrierenden Mitte?
Als heiler, aus seiner Herzmitte heraus lebender Mensch weist Jesus den Weg: Statt Schuldprojektionen auf andere abzuwälzen, ruft er dazu auf, die eigene Schuld anzuerkennen, zu übernehmen und um Vergebung zu bitten. Dem Streben nach dem ersten Platz stellt er das freiwillige Einnehmen des letzten Platzes gegenüber: Wer sich selbst erniedrigt, wird an erster Stelle teilnehmen am Gastmahl, dem Symbol erfüllten Lebens.
Jesus zeigt nicht nur den Weg, er macht sich selbst zum Weg: Er geht ans Kreuz, anstatt den Königsthron zu suchen. Er stellt sich hinein in die Schuldverflochtenheit der Menschen, anstatt sich wie die Pharisäer davon abzusondern. So geht und zeigt er den Weg nach unten statt nach oben, nach innen statt nach außen, zur bindenden Herzmitte der Liebe, statt zu immer tieferer Trennung. Dieser Weg aber führt zum Kreuz. So wird er zum ganzen, heilenden Menschen, der sich dann in der Auferstehung sichtbar darstellt. Seitdem leuchtet im Weg des Kreuzes der Weg heilender Erlösung auf.
3. Das Kreuz - Angebot wahren Lebens
'Wie zwischen Schuld und Heil, so erlebt sich der Mensch zwischen Tod und Leben, Gebundenheit und Freiheit. Vertikal erfährt er sich ständig ausgespannt zwischen seiner begrenzten Endlichkeit, seiner gewissen Todverfallenheit einerseits und seinem unstillbaren Durst nach Leben, nach Dauer und Ewigkeit andererseits. Wer ist fähig, sich das volle Auslöschen seines Lebens wahrhaft vorzustellen? Und gleichzeitig erfährt er sich horizontal ausgespart zwischen dem Erleben von Verlust und Gewinn, Gebundenheit und Freiheit, Leben und Sterben in der Alltäglichkeit der "kleinen Tode" und der kleinen "Osterfeste".
Und der Sog verabsolutiert sowohl seine Sucht nach Leben wie seine Flucht vor dem Sterben. Beides aber führt am wahren Leben vorbei: Wer sich übermäßig dem Sog nach dem "kleinen Leben" aussetzt, lässt sich in ein hysterisch – vordergründiges Leben hineinsaugen, das mehr und mehr an seiner Diskontinuität und Wurzellosigkeit leidet (und andere leiden lässt). Wer sich dagegen zu stark dem Sog der Todbedrohung ausgesetzt fühlt, sichert sich unter dem Druck der Angst zwanghaft ab, oft bis in die kleinsten Dinge des Alltags hinein, und verliert gerade so in einer zunehmenden Erstarrung den Zugang zum Leben. Das neue Lebensgesetz, das sich in Tod und Auferstehung Jesu Christi in dichtester Weise darstellt, beinhaltet weder die Sucht nach Leben noch die Flucht vor dem Sterben. Weder vergötzt Jesus den Besitz (als Symbol des vordergründigen Lebens), der in dämonischer Weise in den Sog des "immer Mehr" hineinzieht, noch verdrängt er die Angst, die ihn angesichts seines bedrohten Lebens in die vordergründige Absicherung hineintreiben will. Wieder kehrt er den verderblichen "Sog nach außen" um, indem er den Weg zur Mitte sucht. Statt immer mehr haben zu wollen, lässt er eines nach dem anderen los; statt sich durch himmlische Mächte abzusichern, geht er – in einem harten Kampf – mitten in das, was sein Leben bedroht, hinein. Der Weg zur Mitte ist immer auch der Weg in die Liebe – damit aber der Weg zum wahren Leben, der Weg zur wirklichen Freiheit. Dieses Leben ist nur über den Tod, nur durch den Tod hindurch zu gewinnen. Das macht das Geheimnis des Kreuzes aus.
Und dies gilt nicht nur für das endgültige Sterben im leiblichen Tod des Menschen. Es kann die kleineren Schritte unseres Alltags bestimmen: Jedes Loslassen, jeder angenommene Schmerz, jedes kleine "Sterben" wird hineingenommen in das Geheimnis des Kreuzes, das Tod in Leben verwandelt.
So kann mich das Meditieren des Kreuzsymbols zurückholen aus meinem leidvollen Zerrissensein, indem es mich den Weg zur heilenden Mitte finden lässt. Doch nur, wo die Kreuzstruktur mein eigenes Leben erfasst und durchdringt, bezieht sie mich ein in das Heilsgeheimnis des Kreuzes Jesu Christi. In dieser Teilhabe eröffnet sich erfahrbar der Weg zum Heilwerden: "Ich bin mit Christus gekreuzigt. So lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!", schreibt der Apostel Paulus an die Galater (2,19f).
Anmerkungen:
1 Veröffentlicht in „Meditation“ 1989 Heft 2, Weilheim 1989
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