Haben Sie schon einmal im Gehen meditiert - nicht irgend ein Thema - sondern das Gehen selbst? Wir üben es ja - unreflektiert - auf jedem Weg, den wir gehen: Ich muss das Stuck Boden, das mich eben noch getragen hat, loslassen, muss in der gleitenden Bewegung des Gehens unvermerkt das Schwergewicht auf den anderen Fuß verlagern, um den ersten Fuß loslassen zu können - eine unabdingbare Voraussetzung dafür, neu "Fuß fassen" zu können; aber auch das nur, um dieses neue Stück «Boden unter den Füßen" sogleich wieder zurückzulassen in einer ständigen Bewegung nach vorn, auf Zukunft hin, auf ein Ziel zu. Jeder Schritt ist letztlich eine kleine Entscheidung: für das Vorwärtsgehen, gegen das Stehen - bleiben.Was aber, wenn der Weg sich gabelt? Dann steht vor dem Gehenden die neue Entscheidung: Wohin geht der rechte Weg für mich? Ich kann mich bei einer Gabelung nur für einen der beiden Wege entscheiden, auf einen muss ich verzichten, auf den anderen muss ich mich einlassen. Ein kurzes Stehen - Bleiben ermöglicht mir, mich zu orientieren, vielleicht auf einen Menschen zu warten, der die Wege kennt. Aber ich kann den Helfer nicht herbeizaubern. Ich kann auf beiden Wegen probeweise ein Stückchen gehen, ob sich vielleicht ein neuer Blick auftut, der mir zur rechten Entscheidung hilft. Aber jeder weitere Schritt auf einem der Wege führt mich weiter weg von dem anderen, ein Rückweg wird immer weiter und schwerer. Und jedes Stehen - Bleiben wird ausschließlich zu einer ungewollten Entscheidung gegen den Weg nach vorn.
Beide Bilder sprechen Entscheidungssituationen an - große und kleine Entscheidungen auf dem Weg unseres Lebens. Wer kennt nicht die harten Belastungen, die sie mit sich bringen können? Und das gilt nicht nur für den äußeren Weg des Lebens - das gilt gleicherweise für den inneren "Weg", den ein Mensch zu gehen hat. Je entschiedener ein Mensch sich für einen Weg entscheidet, der ihn seiner inneren Bestimmung gemäß auf ein Ziel hin führen soll, desto schwerwiegender wird für ihn das Ringen und Fragen in konkreten Entscheidungssituationen, vor die das Leben stellt Einerseits spüren wir, dass äußere Entscheidungen oft nur "Leib" sind für innere Entscheidungen - andererseits sind aber äußere und innere Entscheidungen nicht einfach deckungsgleich.
Wer immer sich auf den "Weg" der Meditation begeben hat, nicht als Flucht vor der Welt, sondern als Verpflichtung zu einem sinnvollen und ganzheitlichen Lebensvollzug, wer spürt, dass meditierendes Horchen nach innen den Wurzelboden bildet, auf dem sich gesunder äußeres Leben entfalten kann, und dass die Öffnung zu den eigenen Tiefenschichten die Quelle immer neu aufgräbt, welche das Ganze des Lebens bewässert, - der weiß darum, dass sich der Weg lebendigen Lebens aus immer neuen Entscheidungen zusammen fügt.
Wo sich aber bei einem Menschen in einem jahrelangen Prozess (pro-cedere heißt: vorwärts gehen!) durch äußere Meditationsübungen eine Haltung meditativen Lebensvollzuges entwickelt hat, dort entfaltet sich eine wachsende innere Wachheit, die gleichzeitig "nach außen" wie "nach innen" gerichtet ist. In solcher Wachheit spürt der Mensch die Chancen und auch die Gefährdungen, die mit jeder Entscheidung verbunden sind. Solche innere Wachheit ist aber gerade die entscheidende Hilfe, richtige Entscheidungen treffen zu können.
Die "discretio", die "Gabe der Unterscheidung der Geister", gehörte schon immer zu den Gnadengaben eines geistlichen Lebens. Und immer steht sie im Dienste der Frage: Wohin führt der Weg, der mir die Fülle meiner eigenen Möglichkeiten eröffnet, weil er mich auf das Ziel zuführt, zu dem Gott mich ins Leben gerufen hat?
Es ist die gleiche Frage, die alle Heiligen unermüdlich stellten: Welches ist der Wille Gottes über meinem Leben? Eine Antwort auf diese Frage kann immer nur erspürt und ertastet werden. Drei Möglichkeiten dazu wollen wir hierzu in den Blick nehmen:
1. Äußere Gegebenheiten als Entscheidungshilfe
Es ist eine merkwürdige Erfahrung: Wenn ich vor einer wichtigen Entscheidung auf die äußeren Fakten schaue, das Für und das Wider genau gegeneinander abwäge, kann sich die Waagschale deutlich nach einer Seite hin neigen. Und dennoch: Immer wieder meldet sich die Frage, ob diese Kriterien wirklich ausreichen. Eine innere Unruhe lässt mich weiter fragen und stellt mir Situationen vor Augen, in denen Gottes Ruf einen Menschen gerade entgegen der Vernunft zu einem total "unvernünftigen" Schritt gerufen hat. Niemals wäre Abraham aufgebrochen, niemals wäre Petrus aus dem Boot gestiegen, wenn sie nur das Für und Wider vernünftig gegeneinander abgewogen hätten. Es muss also in gewissen Fällen noch ein "Mehr" geben, das die Vernunft als letztes Kriterium übersteigt. Was aber ist dieses "Mehr"?
Nicht ein moderner Meditationsmeister, sondern ein christlicher Mystiker, Meister Eckehart, sagte vor 600 Jahren diesen Satz: "Der Mensch muss lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen"2. Wozu üben wir in Meditationskursen immer wieder, uns von Symbolen ansprechen zu lassen, wenn nicht dazu, um in, mit und unter den uns umgebenden Dingen und Geschehnissen der Welt den "Grund" zu erspüren, in der "Tiefe der Dinge" den Gott wieder zu finden, den der moderne Mensch so oft verloren glaubt, weil er ihn in seinem fernen, uns entgleitenden "Himmel" sucht. In einem Meditationskurs äußerte sich ein Teilnehmer auf die Frage: "Wo habe ich Gott erfahren?" in einer bewegenden Weise: "Lange Zeit hatte ich riesige Sehnsucht, Gott zu lieben und ihn zu erleben. Nach vielen Hoch und Tief kann ich jetzt ohne große Schwierigkeit überall Gott erkennen und ihn anbeten." Auf dieses Ziel richtet sich doch die Kleinarbeit des täglichen Meditierens: Umstände und Ereignisse meines konkreten Alltags anzuschauen, ob sie vielleicht transparent werden für das, was "dahinter" liegt, zu lauschen, ob sie für mich zu Zeichen Gottes werden können, der mir Wegweisung anbieten will.
2. Wort Gottes als Entscheidungshilfe
Hier bietet sich eine zweite Dimension christlicher Entscheidungsfindung an: Das Horchen auf das "Wort Gottes". Andre Louf, ein begnadeter Kenner spiritueller Vorgänge, bezeugt eine tiefe innere Verwandtschaft zwischen dem "Wort Gottes" und dem "Herzen" (der Seinsmitte) des betenden Menschen 3. Durch die Taufe wird eine seinshafte Verbindung geschaffen zwischen dem "Herzen" des Menschen und dem "Wort", zwischen den unterbewussten Tiefenschichten und der objektiven Heilsgeschichte. Wer betend tief genug in sich hineinspürt, hört in sich selbst das eigene Echo, das auf das Wort der Bibel antwortet. Er ahnt und erfährt in blitzartigem Aufleuchten, dass die große Heilsgeschichte, die vom Wort Gottes bezeugt wird, ihre Entsprechung hat in seinem eigenen kleinen Leben. Aber der Raum dieses Aufleuchtens ist verschüttet, dieses tiefste Leben in uns muss immer neu erweckt werden - im Meditieren des Wortes.
Was nun bedeut et das für unsere Entscheidungsfindung? Wer Tag um Tag übt, die Abstimmung seines "Herzen" mit dem "Wort" herzustellen, der wird wach dafür, welche typische biblische Erzählung seine augenblickliche Entscheidungssituation "anspricht". Betend über dem biblischen Wort erfährt er, wie ihm das eine oder andere Wort geradezu "anspringt". Jede neue Lebenssituation schenkt ein neues Verstehen biblischer Bilder und Geschichten, ebenso wie umgekehrt das biblische Wort mein konkretes Üben immer neu durchleuchtet und deutet - und mich so hinein stellt mit meiner Entscheidung in den Strahlungsbereich des "Willens Gottes".
3. Innere Bewegungen als Entscheidungshilfe
Als dritte Dimension möglicher Entscheidungsfindung möchte ich das wachsame Hineinlauschen in mich selbst als unerlässliches Kriterium ansprechen. Ob ich in der richtigen Richtung - meiner tiefsten Bestimmung gemäß - weitergehe oder ob ich in Gefahr bin, stehen zu bleiben oder gar eine falsche Richtung einzuschlagen: Darauf machen mich weniger meine Gedanken aufmerksam, als meine spontanen Gefühle und Stimmungen. Vielleicht sind es plötzliche, scheinbar unmotivierte Aggressionen, vielleicht heftige emotionale Erregungen, mit denen ich auf bestimmte Situationen reagiere, die ich beachten sollte. Nicht zufällig erlebten die ersten "christlichen Psychologen", die Wüstenmönche, in emotionalen Erregungen den Einbruch von Mächten, die aus dem Inneren des Menschen hervorbrechen und gleichzeitig als von außen kommend erfahren werden.4 Nicht umsonst gibt lgnatius von Loyola in seinen "Regeln zur Unterscheidung der Geister" immer neue Hinweise auf die inneren Gedanken und Stimmungen, an denen man erkennen kann, wohin der "Weg" führt.5 Ein unendlicher Reichtum an konkreten Erfahrungen steht hinter solchen Regeln, ein tiefes Wissen um Gesetzmäßigkeiten, mit denen ein Mensch gewöhnlich auf bestimmte Herausforderungen richtig oder falsch reagiert. Aber es steht auch dahinter ein starkes Gespür dafür, dass der Mensch in seinem tiefsten Inneren "weiß", was für ihn gut und richtig wäre - , dass aber dieses Wissen oft verschüttet ist.
Alle geistlichen Lehrer wissen um Blockaden, die echtes Horchen verbauen. Deshalb fordert Ignatius vor einer wichtigen Entscheidungsfindung die "Indifferenz" des Menschen, die Bereitschaft sowohl für den einen wie für den anderen Weg. Denn nur so kann der innere Kompass frei schwingen und in die richtige Richtung weisen. Gefährlich ist sowohl das zu starke Begehren eines bestimmten Weges als auch die lähmende Angst vor einer bestimmten Entscheidung. Während das Begehren blind und taub machen kann, blockiert Angst jede echte Entscheidung, wenn sie sich nicht gar ins Gegenteil verkehrt: Hat es Angst doch in sich, den Menschen unbewusst gerade auf das zuzutreiben, wovor er Angst hat, ihn zum Gegenteil dessen zu bringen, was gut und vernünftig wäre. 6
Drei verschiedene Möglichkeiten der Entscheidungsfindung sahen wir vor uns. Sie ergänzen und bedingen sich gegenseitig: Das, was mir "von außen" begegnet, das, was mir durch das Wort Gottes gleichzeitig von außen und von innen her deutlich werden kann, und die Abstimmung meines Weges mit meinem eigenen tiefsten Wesenskern - es sind drei Dimensionen, die eine Einheit bilden. Sie lassen etwas ahnen vom unergründlichen Geheimnis Gottes, der sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist bezeugt, sowohl in der großen Heilsgeschichte, als auch in der kleinen Heilsgeschichte meines Lebens mit ihren konkreten Einzelschritten kleiner und großer Entscheidungen, die jeweils Schritte sind auf dem Weg, durch den mich Gott mehr und mehr in das Bild hinein gestalten will, dass er sich von mir ursprünglich gemacht hat: Angelus Silesius dichtet:
"In jedem lebt ein Bild, des, das er werden soll,
solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll"
1 Veröffentlicht in „Meditation“ 1988-Heft 1 (Christianopolis-Verlag, Weilheim 1988)2 Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, München 1963, S. 61
3 A. Louf, "In uns betet der Geist', Einsiedeln 1974
4 Anselm Grün, Der Umgang mit dem Bösen Münsterschwarzach 1980
5 Ignatius von Loyola, geistliche Übungen, Freiburg 1983
6 vgl. den Beitrag: Vom Umgang mit der Angst
Veröffentlicht in „Meditation“ 1988-Heft 1 (Christianopolis-Verlag, Weilheim 1988)
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