Überblick:
1. Eigenschaften der Angst.
Angst hat die Tendenz, sich zu verbergen.
Angst steckt an, wo ich sie verdränge.
Angst gewinnt um so mehr Macht über mich, je höher das Objekt, worauf sich meine Angst richtet, auf der Skala meiner Werte steht.
Angst treibt den Menschen dazu, gerade das anzusteuern, wovor er eigentlich Angst hat.
Angst ist der "Dämon", der das, was mir dienen sollte, zum Tyrannen über mich werden lässt.2. Gebiete und Wirkungskreise der Angst.
Die Angst vor Verlusten.
Die Angst vor Gefahren.
Die Angst vor Verwandlung.3. Geistliche Dimensionen der Angst.
Jesus weist uns hin auf die Freiheit, die der Verzicht auf äußeren Besitz schenkt.
Jesus weist hin auf die Freiheit, die im Vertrauen liegt
"In der Welt habt ihr Angst"
"Herr, sei mir gnädig, denn mir ist
angst; vor Gram zerfallen mir Auge, Seele und Leib" (Psalm 31,10). Beim Nachsinnen über
das Thema der Angst sprang mich beim Beten dieser Vers an. Sagt er nicht
Entscheidendes aus über das Phänomen der Angst, der wir uns alle mehr oder
weniger ausgeliefert erleben - besonders dann, wenn wir es uns nicht zugeben
wollen?
Angst hat ursprünglich eine positive Funktion für das Leben: Sie
will uns auf Gefahren aufmerksam machen, damit wir rechtzeitig vor der Gefahr
fliehen oder ihr angemessen begegnen können. Ohne Angst wären schon viele
Tierarten ausgestorben - und hätte auch der Mensch bisher wohl auch kaum
überlebt.
Nun aber tritt beim Menschen neben diese "positive
Angst" eine "negative Angst", eine Form von Angst, die ich durch
dieses Bibelwort angesprochen sehe: "Vor Gram zerfallen mir Auge, Seele
und Leib"..." Es gibt Angst, die mir meinen Blick verdunkelt, anstatt
ihn zu schärfen ("Auge"); es gibt Angst, die mich von innen
her lähmt und alle meine Lebensfunktionen brachlegt, anstatt sie zu aktivieren ("Seele");
und Angst, die wie ein permanenter Giftstoff meinen Körper von innen her
zerstört ("Leib").
Ein Leben unter der Macht und Herrschaft dieser Form von
Negativ-Angst ist kein volles, sondern ein sehr beschnittenes und
eingeschränktes Leben. Wo im Leben eines Menschen die Angst krankhafte Züge
annimmt, braucht diese These keine weitere Erklärung. Solche Menschen würden
wer weiß was auf sich nehmen, um aus diesem Teufelkreis der Angst einmal
herauszukommen. Wie ernst dieses Thema aber für jeden Menschen ist, zeigt
schon, dass zwei so unterschiedliche Tiefenpsychologen wie Fritz Riemann 2 und Eugen Drewermann 3 beide
in der Angst den Schlüssel für die menschliche Not überhaupt sehen.
Beim Nachdenken über diese gewaltige, destruktive Angst-Macht,
die unser Leben oft so sehr bestimmt, erinnere ich mich an die Wüstenväter, die
ihr Leben lang „den Umgang mit Dämonen" geübt haben: Sie wussten
sehr wohl, dass es sich bei den Mächten, die sie als „Dämonen"
erlebten und bezeichneten, weitgehend um innerpsychische Wirklichkeiten
handelt.4 Aber sie benannten sie und stellten sie
in ihrer Vorstellung nach außen, um mit ihnen umgehen zu können. Nur so lernten
sie, diese Mächte zu besiegen und schließlich sogar, sie sich dienstbar zu
machen.
Nun gehört die Angst zwar nicht zu den acht klassischen Lastern,
auf die sich die Dämonenlehre des frühchristlichen Mönchtums bezieht. Doch
gehört die Angst untrennbar zu einigen dieser Gefahren dazu. Der „Dämon"
der Habsucht könnte zum Beispiel seine Gewalt über den Menschen nicht
ausüben, wenn er nicht die Angst im Menschen anspräche, er könne eventuell
irgendwann einmal nicht mehr genug zum Leben haben. Und wie weit unsere
Aggressionen - von den Wüstenvätern unter dem Stichwort des Zornes
benannt - letztlich der Angst entspringen, selbst angegriffen und bedroht zu
werden, davon wissen die Psychologen viel zu sagen.
Ich möchte so vorgehen, dass ich die Arbeitshypothese der Mönche
übernehme, und von dieser negativen Angst als einer realen Macht in unserem
Leben rede, dass ich sie gewissermaßen personifiziere, wenn ich von ihr
spreche.
Versuchen wir zuerst einmal, einige
Eigenschaften dieses "Angstdämons" in den Blick zu bekommen. Um einen
Dämon kennenzulernen - der erste Schritt, um ihn dann
besiegen zu können - besteht darin, diesen "Dämon" zu benennen und
ihn zu beobachten. Wir lernen die Angst kennen, wenn wir wagen, die Ängste
anzuschauen, die unser Leben bestimmen und unterdrücken wollen. Dabei können
sich einige wichtige Erkenntnisse einstellen, die allerdings keinerlei Anspruch
auf Vollständigkeit erheben:
Angst hat die Tendenz, sich zu verbergen.
Es war vor vielen Jahren während einer Kur, als ich das Thema
"Angst" in einer kleinen Kaffeerunde aufwarf. Eine sehr kompakt
erscheinende Frau wehrte sich gegen dieses Thema: "Ich kenne keine Angst -
wovor sollte ich Angst haben?". Doch nach nur wenigen Minuten, während
sich das Gespräch an das Thema herantastete, sprang sie so heftig von ihrem
Stuhl auf, dass er umstürzte, rannte hinaus und warf die Tür hinter sich zu, in
einer Weise, wie sie es sonst wohl kaum öffentlich getan hätte. Uns allen war
sofort deutlich, welche Macht die Angst im Leben dieser Frau besaß - gerade
dadurch, dass sie sie verdrängte und sich nicht eingestand. Verdrängte Angst
hat aber viel größere Gewalt über den Menschen als offen zugegebene und
ausgesprochene Angst.
Angst steckt an, wo ich sie verdränge.
Noch heute sehe ich eine unserer Töchter bei ihrer Schulaufnahme
verzweifelt schreien. Die Lehrer waren hilflos, und wir Eltern noch mehr.
Wochenlang vorher hatte sie schwere Schlafstörungen gehabt und uns Eltern keine
ruhige Nacht gegönnt. Ihre Hauptfrage ließ sie jede Nacht vielmals aus dem
Schlaf aufschrecken: "Was wird, wenn ihr diese Nacht sterbt?" Wenige
Tage später kam sie glücklich aus der Schule heim mit ihrer ersten Eins, die
sie auf eine gemalte Zuckertüte bekommen hatte. Von da an schlief sie durch und
ging gern zur Schule.
An diesem Beispiel wird gleich zweierlei deutlich:
a) Ihre wirkliche Angst hatte das Kind vor dem neuen Lebensabschnitt, vor der Schule gehabt. Die Angst, die Eltern könnten sterben, war gewissermaßen eine "Ersatzangst" - mit der sie sich vor sich selbst und vor uns anderen ihre eigentliche Angst vor der Schule verborgen hatte. Weil die eigentliche Angst aber verdrängt war, konnte sie nicht angeschaut, nicht ausgesprochen und nicht verarbeitet werden. Dadurch entfaltete sie ihre ungebremste Macht aus dem Unbewussten her - und wir alle waren demgegenüber ratlos. Weil die Angstursache nur eine scheinbare war, konnten wir ihr auch mit keinem Mittel beikommen.
b) Uns Eltern wurde dabei klar, dass wir selbst Angst davor gehabt hatten, dieses sensible Kind in die Schule gehen zu lassen, die in ihrer Klasse die Jüngste sein würde. - Das Kind hatte unsere Angst als ihre eigene Angst übernommen, obwohl wir sie vor dem Kinde nicht ausgesprochen hatten. Unsere Angst hatte das Kind "angesteckt". Gerade die Tatsache, dass auch wir Eltern selbst unsere Angst nicht zugegeben hatten, machte ihre Wirkung auf das sensible Kind um so stärker.
Angst gewinnt um so mehr Macht über
mich, je höher das Objekt, worauf sich meine Angst richtet, auf der Skala
meiner Werte steht.
Mir ist es erst in letzter Zeit klar geworden, weshalb es im
Orient zu so anderen Verhaltensweisen der Menschen kommen kann als im
Abendland: Wo in einer fundamentalistischen Religion oder einer politischen
Ideologie der Mensch sein eigenes Leben viel geringer einschätzt als das
Überleben des Staates oder die Regeln der Religion, dort ist auch entsprechend
die Angst, das eigene Leben zu verlieren, geringer als die Angst um die
"Sache", um die es geht. Ein junger Iraker im Fernsehen steht mir
noch deutlich vor Augen: Gefragt, ob er sich freiwillig für den Krieg melden
würde, obwohl er fallen könne, erwiderte er fast strahlend: "Dann beginnt
ja erst mein eigentliches, wahres Leben - was kann mir geschehen?" In
dieser Überzeugung sind auch die christlichen Märtyrer freudig in ihren Tod
gegangen - so fremd uns das heute oft anmuten mag.
Angst treibt den Menschen dazu, gerade das anzusteuern,
wovor er eigentlich Angst hat.
Es ist paradox, und doch wahr, - ich habe es aus dem Munde einer
inzwischen erwachsen gewordenen Frau gehört: Als Kind lernte sie nie das
Fahrradfahren, weil sie vor jedem Hindernis, was ihr entgegenkam, solche Angst
hatte, dass sie unmittelbar auf die Gefahrenquelle zusteuerte, - ohnmächtig,
diesem Drang zu widerstehen. Das mag uns krankhaft vorkommen - und ist in
dieser Ausprägung zum Glück auch nicht das Normale. Aber gerade dieses Beispiel
kann ein Vorgehen der Angst verdeutlichen wie kaum ein anderes: Die Angst
treibt den Menschen dazu, gerade das zu tun, was widersinnig ist, weil es das
hervorruft, wovor er Angst hat:
Hier einige Beispiele:
- Wie viel gefährdeter ist eine Ehe, wenn ein Partner eifersüchtig ist - aus Angst, er können seinen Partner verlieren - als eine Ehe, die sich auf gegenseitiges Vertrauen gründet?
- Warum kann ich gerade vor einem Tag mit schweren Belastungen, die auf mich zukommen, stundenlang nicht einschlafen, obwohl ich doch gerade für den nächsten Tag den Schlaf besonders dringend brauchte? Überhaupt: Warum kann ich nicht einschlafen, wenn ich Angst davor habe, nicht schlafen zu können?
- Warum rüsteten Jahre lang die Weltmächte auf - aus Angst vor einem Krieg? Und sie merkten es gar nicht, wie gerade ihre Aufrüstung die Kriegsgefahr verstärkte? Das ging so lange, bis ein Politiker den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen wagte, und statt weiter aufzurüsten mit Abrüstungsverhandlungen begann.
Das alles hat mit der These zu tun, dass die
Angst Macht über mich ausübt und mich dabei „zwingt", gerade das
anzusteuern, wovor ich am meisten Angst habe.
Das geht bis in sehr subtile Bereiche hinein: Als unsere Kinder
noch klein und sehr oft krank waren, sagte mir eine Bauersfrau, die mit beiden
Beinen auf dem Boden stand: „Sie haben viel zu viel Angst davor, dass
Ihre Kinder krank werden können - dadurch sind sie so viel krank!" Ich war
fassungslos - aber sie hatte Recht. Mit dem Abbau meiner Angst verringerten
sich schlagartig die Krankheiten unserer Kinder! Vermindert Angst vor Ansteckung
wirklich die Immunkräfte des Körpers - nicht nur für den eigenen Körper,
sondern sogar für andere?
Angst ist der "Dämon", der das, was mir dienen
sollte, zum Tyrannen über mich werden lässt.
Schon im Tierreich gibt es eine Fehlreaktion aus Angst: Das
Kaninchen, das auf die Schlange starrt, anstatt auszureißen, ist schon
sprichwörtlich geworden. Aber auch im menschlichen Bereich kennt man den „Typ"
des Geizhalses, der mitten in seinen Goldstücken verhungert - aus Angst, etwas
auszugeben und nicht mehr genug zu essen zu haben. Wovor immer ich Angst habe,
dem gebe ich Macht über mich, mich zu tyrannisieren. Das heißt doch mit anderen
Worten: Angst und Freiheit hängen aufs engste zusammen...
2. Gebiete und
Wirkungskreise der Angst.
Auch hier wieder kann nur versuchen, einige
Hinweise zu geben, die zu eigenem Weiterdenken anregen können:
Meister Eckehart führt Angst darauf zurück, dass der Mensch
Angst davor hat, etwas zu verlieren: "Nun sage ich weiter, dass alles
Leid aus der Liebe zu dem kommt, was mir der Schaden genommen hat." 5Sicher machen die Ängste vor Verlusten einen großen
Teil unserer Ängste aus. Aber neben der Angst vor Verlusten gibt es auch die
Angst vor Gefahren und Schmerzen - sowie die Angst vor allem Neuen, Unbekannten,
die jeder echten Krise innewohnt - und vielerlei weiter Ängste mit ihren
verschiedenen Nuancen, die unser menschliches Leben bestimmen.
Denn das ist unbestritten: Angst gehört einfach zum menschlichen
Leben dazu. Die Hauptfrage ist die, wie wir mit der Angst umgehen, wie wir
unsere „Negativ-Ängste" in positive Ängste umwandeln können. Einige
kleine Hinweise können vielleicht als Hilfe angeboten werden.
Die Angst vor Verlusten.
In wie vielen Gesprächen geht es um Ängste, etwas zu verlieren! Ganz
wichtig ist es hier, hinter der vordergründigen Angst die so oft verborgene,
eigentliche und wahre Angst zu erkennen.
Das kann in einer humorvollen Weise geschehen: In einer äußerst kritischen
Situation meines Lebens, als mir ein Verlust drohte, der für mich ins Zentrum
meines Lebens zu gehen schien, erzählte mir jemand, er habe eine Karikatur
gesehen, die ihn zum herzlichen Lachen veranlasst habe: Tieftraurig steht ein
Mensch gebückt vor einem Sarg: "Mein Idol ist gestorben!!" - und dann
folgt das nächste Bild, wo er fröhlich in die Luft springt: "Aber ich habe
es überlebt!"
Hinter dem so genannten „Altersgeiz" eines alten
Menschen, der auch den Angehörigen oft so viel Schwierigkeiten macht, kann
durchaus - wenn auch ihm selbst verborgen - seine Todesangst stehen. Das
Paradoxe, wie der „Angstdämon" hier vorgeht und den Menschen in
seinen Griff zu bekommen sucht, ist dabei ganz deutlich erkennbar: Die „Angst"
redet ihm innerlich ein: Je mehr du dich mit äußeren Gütern absicherst, desto
mehr bist du auch gegen alle Unsicherheiten des Lebens, ja selbst gegenüber
deinem Tod abgesichert! Doch der Fehlschluss liegt klar vor Augen: Je mehr sich
jemand an äußere Güter klammert, desto mehr hängt er sein Herz an sie, und
desto schwerer wird ihm das Loslassen, desto mehr wächst seine Angst!
Wie aber könnten wir diese Angst als positive Angst fruchtbar
werden lassen? Ich möchte einige Vorschläge machen, die jeder für sich selbst
ausprobieren und abwandeln kann:
- Sieh deiner Angst klar ins Auge: Was zu verlieren hast du wirklich Angst?...
- Wie sähe dein Leben aus, wenn dieser Verlust wirklich eintreten würde - wie ginge dein Leben weiter?...
- Wo steht dieser Wert, vor dessen Verlust du Angst hast, in der Wertskala deines Lebens?...
- Solltest du nicht vielleicht einmal die Wertskala deines Lebens neu überprüfen - gerade im Angesicht des auf jeden Fall eintretenden Todes? ...
Loslassen - Können ist ein zentrales
Thema unserer christlichen Mystiker. Es ist etwas Eigenartiges: Je mehr ich
etwas festzuhalten versuche, desto mehr scheint es sich mir zu entziehen - und
desto mehr bekommt mich die Angst in ihren Griff. Deshalb ist es schon fast zum
geflügelten Wort geworden: "Erst das, was ich losgelassen habe, gehört mir
ganz". Solange ich Angst davor habe, etwas mir Wichtiges zu verlieren,
solange hält mich diese Angst in Atem und tyrannisiert mich, solange kann ich
das, was ich besitze, nicht einmal wirklich genießen. Mit der Bereitschaft zum Loslassen
dagegen werde ich innerlich frei, zu haben oder zu lassen - und kann mich
wirklich ungeteilt freuen an dem, was mir geschenkt ist. Deshalb sagt Meister
Eckehart, wir sollten die Dinge unseres Lebens immer als "geborgt"
betrachten, niemals als unser Eigentum. Er sagt das, damit wir frei bleiben und
frei werden von der gefährlichen Verlustangst. Das aber ist eine Lebensaufgabe!
Kommen wir noch einmal auf unser Bibelwort des Anfangs zurück: "Vor
Angst vergehen mir Auge, Seele und Leib". Es geht darum, die verborgene
Angst ans Licht kommen zu lassen, zu ihr zu stehen: Ja, ich hätte Angst davor,
wenn mir gerade das genommen würde, an dem mein Herz so sehr hängt! Solange
diese Angst im Verborgenen bleibt, wird sie mich zu gefährlichen
Handlungsweisen veranlassen - werde ich eines Tages feststellen müssen, dass
dieser gefürchtete Verlust gerade durch meine Angst eingetreten ist.
Meditative Übungsmöglichkeit: Ich meditiere als Symbol den Archetyp: Vogel / Freiheit.
Immer wieder kommt in unterschiedlichsten Gruppen bei Metaphermeditationen über tiefste Sehnsucht ein gleiches Bild: "Ich möchte sein wie ein Vogel". Der Mensch hat ein tiefes Verlangen in sich, ungebunden und frei zu sein - dafür gibt ihm der Vogel das Bild. Schon Jesus hat es verwendet, um die Freiheit von Sorge damit vor Augen zu führen: "Sehet die Vögel unter dem Himmel - sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern - und euer himmlischer Vater nährt sie doch." (Mt 6,26)
Die Angst vor Gefahren.
Unter diesem Gesichtspunkt wird die positive Funktion der Angst
am deutlichsten: Tiere haben im Laufe von Jahrtausenden positive
Angstreaktionen auf bestimmte, ihnen besonders bedrohliche Gefahren entwickelt.
Wo Tierarten auf Feinde stießen, auf die sie sich nicht eingestellt hatten, wurden
sie in wenigen Jahren ausgerottet. 6
Die allerorts weltweit aufbrechende Angst der Menschheit 7 vor uns bevorstehenden möglichen Katastrophen
sollte uns zuerst einmal als eine positive Angst bewusst werden: Die Gefahren,
die der Menschheit drohen, sind keine eingebildeten Phantome, sondern sie
existieren wirklich. Und deshalb kommt alles darauf an, von den verderblichen -
hier die Menschheit bedrohende - Negativangst freizuwerden, die uns daran
hindert, der wichtigen, wirklichkeitsnahen Positivangst Raum zu geben.
Das bedeutet: - Ich darf diese Angst nicht verdrängen.
Das heißt nicht, dass ich ständig in meinem Wachbewusstsein mit mir
herumtragen muss, dass das Leben unserer Kinder und Enkel vielleicht auf dieser
Erde nicht mehr möglich sein wird oder dass Atomwaffen in der Hand eines
unverantwortlichen Tyrannen die gesamte Menschheit ausrotten können usw. usw.
Aber ich kann mein Leben gerade durch die Bedrohung, die ich
wahrnehme, intensivieren - und kann dadurch auch wachsamer werden für jede
Möglichkeit, die drohende Gefahr wirklich zu bannen.
Was hier gemeint ist, möchte ich mit der alten christlichen
Übung, die man "ars moriendi",
die Kunst des Sterben-Lernens, bezeichnete,
verdeutlichen. Erst wenn ich den Gedanken an meinen Tod nicht mehr aus meinem
Leben verdränge, finde ich - so paradox es klingt - zum vollen Leben. Solange
die Todesangst verborgen über allem schwebt, was ich tue und erlebe, vergiftet
sie von innen her mein Leben. Ähnliches meint die Benediktusregel, wenn sie
unter den Instrumenten des geistlichen Lebens nennt: "Sich täglich den
drohenden Tod vor Augen halten". 8
Ich kann aus eigener Erfahrung nur berichten, wie kostbar ich in
der Zeit der Bombenangriffe auf Leipzig (1943 - 1945) mein Leben empfunden und
ausgekostet habe - immer in dem Bewusstsein, in dem ich täglich erwachte: Ist
dieser Tag heute vielleicht der letzte deines Lebens? Dieser Gedanke hat mein
Leben nicht gelähmt, sondern im Gegenteil bis zum äußersten intensiviert. Kaum
wieder habe ich so intensiv wirklich "gelebt" wie in diesen letzten
Monaten des Krieges. Das Bewusstsein der Gefahr lähmte mich nicht in Angst,
sondern aktivierte alle Lebenskräfte, wozu auch das besonnene Umgehen mit der
wirklichen Gefahr gehörte.
Meditative Übungsmöglichkeit: Ich meditiere den Archetyp: Das Reh/ es wacht sogar im Schlaf
Wir tun als Menschen genau das Gegenteil von dem, was jedes Reh tut, wenn wir unser Gefahrenbewusstsein unterdrücken oder gar verdrängen! Wir sollten uns einmal die Zeit nehmen, die Wachsamkeit eines Rehes zu meditieren, was das Tier dadurch gewinnt - um es dann entsprechend auf das eigene Leben zu übertragen: Was gefährdet mein Leben wirklich?...
Die Angst vor Verwandlung.
„Krisenangst" wird in der Literatur eine Form von
Angst bezeichnet, die noch unmittelbarer als die beiden bisher genannten
Angstformen menschliches Leben bestimmt und begleitet. Diese Form von Angst beginnt
bei der Angst des Kindes während der Geburt und endet mit der letzten Angst des
Menschen im Augenblick seines Todes. Jede entscheidende Übergangsperiode des
Lebens ist mit solch einer Angstsituation verbunden - und wer dieser Angst
ausweichen würde, würde dem Leben selbst ausweichen.
Sicher war auch die Angst unseres Schulanfängers ein Stück
solcher „Krisenangst". Es ist ja ein ungeheurer Einschnitt im Leben
eines Kindes, wenn es aus der Familie heraus den Schritt in die Schule tun
muss. Ähnliche Angstperioden erleben wir beim Übergang ins Erwachsenenalter 9 , vor einer Eheschließung oder einem Ordenseintritt, und
schließlich auch beim Übergang in die letzte Lebensphase des Alters. -
Worauf es mir hier ankommt, ist wieder die Erkenntnis: Wer sich
in solchen Krisenzeiten von der „Negativangst" beherrschen ließe,
den würde die Angst dazu bringen, einen notwendigen Lebensschritt zu
verweigern, den Lebensschritt, der jetzt geschehen muss, wenn Leben gelingen
soll. Ein Kind, das die Geburt verweigern würde, müsste als Totgeburt
abgestoßen werden. Ein Mann, der das Erwachsen-Werden nicht wagen würde, blieb
infantil.
Immer setzt das Betreten eines neuen Lebensabschnittes sowohl
Ängste frei, als es auch den Menschen herausfordert, mit dem Wagnis, das
Vertraute loszulassen, diese Angst zu überwinden, und den neuen Schritt zu
wagen. Wer sich dem verweigern würde, wäre er nicht wirklich lebensfähig. Und
das ist ja oft genug erschütternd zu erleben: Menschen, die dem Leben nicht
mehr gewachsen sind, weil sie nicht mit dem Leben gewachsen sind. Oft werden
sie von einer permanenten Lebensangst beherrscht, ja tyrannisiert. Sie erleben
sich nicht als freie Menschen, sondern als getrieben, als ständig überfordert,
im "Frondienst" des Lebens. Weil sie Angst hatten vor dem neuen
Lebensabschnitt mit seinen unbekannten Gefahren, die sie in Freiheit meistern
könnten, bleiben sie dem Alten, dem Bekannten verhaftet - und das Leben
stagniert, anstatt sich zu entfalten.
Hier trifft ein Wort von Corona Bamberg zu, das mich schon über
Jahre meines Lebens begleitet: "In manchen Angstsituationen hilft nur
eines: Schritt um Schritt auf das zuzugehen, was mir Angst macht".
Wo ich das tue, durchbreche ich die Taktik des Angstdämons: Ich schaue
nicht nur an, was mir Angst macht, sondern ich gehe sogar darauf zu. Michael
Ende hat in seinem Buch "Der Wunschpunsch" eine Gestalt gezeichnet,
die mich tief beeindruckt hat: In der Wüste gibt es einen ungeheuerlichen
Menschen, dessen Größe alle ihm Begegnenden weit in die Flucht jagt. Als aber
einer ihm wirklich näher kommt, nicht flieht, sondern auf ihn zugeht, schwindet
von Meter zu Meter seine Größe, bis er bei der Begegnung zu einem ganz normalen
Menschen zusammengeschrumpft ist. Aus dieser Begegnung entwickelt sich eine
tiefe Freundschaft.
Wie oft erscheint mir das, was mir Angst macht, nur aus der
Entfernung als ein "Ungeheuer", vor dem ich nur die Flucht ergreifen
möchte. In dem Augenblick aber, wo ich nicht mehr davor fliehe, sondern wenigstens
einen Schritt darauf zugehe, verliert es viel von seiner Unberechenbarkeit -
und damit von dem, was mir Angst macht. Und eines Tages werde ich erleben, wie
nötig und heilsam dieser Schritt für mich war - und dass ich gerade an der
Überwindung der Angst, an dem Wagnis, weiterzugehen, gereift und mehr Mensch
geworden bin. Wo ich auf das zugehe, was mir Angst macht, durchbreche ich den
dämonischen Kreislauf, dass ich mich durch meine Flucht immer tiefer in die
Abhängigkeit dessen begebe, wovor ich Angst habe.
Meditative Übungsmöglichkeit: Ich meditiere den Archetyp: Ritter / Mut
Ein archetypisches Bild für diese Angstbewältigung scheint mir das Bild des Ritters zu sein, dessen Aufgabe es ist, zu wagen, um zu siegen und damit Neuland zu erobern. Solche Bilder, auch wenn sie vom heutigen Leben her unzeitgemäß erscheinen, haben oft eine tiefe Symbolkraft in sich, die sich dem meditierenden Verweilen erschließt.
3. Geistliche
Dimensionen der Angst.
Hier möchte ich das Gesagte noch einmal
aufnehmen und in seiner geistlichen Dimension anschauen. Schon mehrmals klang
diese an - und darf nun hier als Ziel alles bisher Gesagten aufgezeigt werden.
Da aber das Ziel eines jeden Lebens niemals von außen her deklariert werden
kann, kann es hier nur um Angebote gehen, die ein jeder selbst auf sein eigenes
Leben übertragen und dafür fruchtbar werden lassen kann. Ich möchte dazu einige
Übungen anbieten - meditieren Sie das eine oder andere Wort, von dem Sie sich
angesprochen fühlen - und lassen es als Verheißung tief in sich einsinken:
Jesus weist uns hin auf die Freiheit, die der Verzicht auf
äußeren Besitz schenkt.
- "Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz"...(Mt 6,11)
- "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele"...(Mt 16,26)
- "Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer"...(Lk 6,20)
- "Sehet die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht - und euer himmlischer Vater nährt sie doch"...(Mt 6,26)
- "Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht für euren Leib, was ihr antun sollt. Das Leben ist mehr denn die Speise, der Leib mehr denn die Kleidung"... (Lk 12, 22f)
Jesus weist hin auf die Freiheit, die im
Vertrauen liegt
- „Die Haare auf eurem Haupte sind alle
gezählt"...(Mt 10,30)
- "Fürchte dich nicht, glaube
nur"... (Mk 5, 36)
- "Fürchtet euch nicht vor denen, die den
Leib töten, und die Seele nicht können töten"....(Mt
10, 28)
- "Euer Herz erschrecke nicht und fürchte
sich nicht"...(Joh
14,27
- „In der Welt habt ihr Angst, aber seid
getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16,33)
Sören Kierkegaard sagt:
"Es muss jeder lernen, sich zu ängstigen,
denn sonst geht er zugrunde
dadurch, dass ihm nie angst war,
oder dadurch, dass er in der Angst versinkt.
Wer hingegen gelernt hat, sich recht zu ängstigen,
der hat das Höchste gerlernt"
Anmerkungen
1 Vortrag,
gehalten in Meißen, Akademie, 1982
2 s.Riemann,
Fritz, Grundformen der Angst, München 1967
3 s.Drewermann,
Eugen. "Strukturen des Bösen, Paderborn 1977-78
4 s. Grün, Anselm, Vom Umgang mit dem Bösen,
Münsterschwarzacher Kleinschriften Nr.6, Münsterschwarzach 1980
5 Meister Eckehart: Deutsche Predigten
und Traktate, Diogenes - Taschenbuch 202, S.106, 1ff. (Es ist interessant, dass
das Wort Angst in den gesamten Deutschen Predigten und Traktaten bei Meister
Eckehart nur an einer einzigen Stelle vorkommt.)
6 Nicht ohne weiteres kann man
Tierreaktionen immer auf menschliches Verhalten übertragen - aber hier scheint
mir die Parallele unübersehbar zu sein.
7 vgl. Schulz,Hans-Jürgen
(Hrg), Angst, Stuttgart 1987, S.32ff
8 vgl.Holzherr,G. Die
Benediktusregel, Zürich 1985
9 Nie werde ich vergessen, wie ich bei einer
Meditationsgruppe von etwa 40 15-jährigen Mädchen einen Weg meditieren ließ -
und wie sich dann bei der Auswertung herausstellte, dass mindestens 70% der
Jugendlichen ihren Weg bei trübem Wetter gehen mussten!