Karin Johne

Gefüllte Stille: Gebet, Wort Gottes, meditatives Gestalten 1

Überblick:
Einführung
Das Gebet
Das Wort Gottes.
Meditatives Gestalten

Einführung
Es gibt Schätze, die man hat, ohne sie zu kennen. Das sind nicht nur alte Möbel, die man vielleicht vor Jahren als wertloses Gerümpel verschenkt oder gar zerhackt hat - und eines Tages begreift man plötzlich, welche Werte da zerstört wurden. Das kann auch zutreffen für einen Wert unseres menschlichen Lebens, den wir seit langem nicht mehr als echten Wert erkannten: die Stille.

Die Dämmerstunde und der Feierabend, stundenlange, sich oft über Tage erstreckende Wanderungen, eine beschauliche Fahrt, die Gestaltung langer Winterabende, das sind nur einige Charakteristika, die bis vor wenigen Jahrzehnten noch Zeiten und Räume der Stille markierten, die ebenso selbstverständlich zum Leben gehörten wie Zeiten härtester körperlicher Arbeit und Anstrengungen. Doch gar nicht so selten hat man inzwischen diese Freiräume aufgelöst, sie bis obenhin angefüllt mit vielerlei persönlichen Verrichtungen - die Abende, die Nächte. Wege sind nur noch zu überwinden, damit man schnellstens vom Ausgangspunkt zum Ziel kommt.

Der Raum der Stille als Möglichkeit, etwas ausschwingen zu lassen, etwas zu verarbeiten und einzuordnen oder etwas still wachsen und reifen zu lassen, ging vielfach verloren und damit eine lebensnotwendige Dimension menschlichen Lebens und Daseins. Denn der Mensch braucht den Rhythmus zwischen Anspannung und Ruhe, zwischen Engagement und Stille, wie er den Rhythmus des Aus- und Einatmens, des Wachens und des Schlafens, des Gebens und des Nehmens braucht. Und es ist nicht von ungefähr, dass Mediziner und Psychologen in steigendem Maße aufgesucht werden von Menschen, die danach trachten, diese verlorene Dimension wiederzufinden, sei es durch verschiedenste Psychopharmaka, sei es durch das autogene Training.

Doch der Mensch braucht, um innerlich heil zu werden, mehr als reine Stille und Ruhe, wie sie vielleicht Psychopharmaka oder autogenes Training vermitteln können: Er braucht die gefüllte Stille. Was ist damit gemeint? Der Gesunde braucht die Pause, in der er sich erholen kann, in dem tiefsten Sinne, wie man schon immer in den Klöstern die Erholungszeit betrachtete: als "recreatio", das heißt wörtlich übersetzt "Neuschöpfung", Wiedergenesung. Und der kranke Mensch - der Körperbehinderte, der Dauerkranke aber auch der akut durch Krankheit aus der Arbeit gerissenen Mensch – braucht nicht nur Stille (die hat er zum Teil so reichlich, dass er darüber verzweifeln möchte!) er braucht die Möglichkeit, diese Stille zu füllen. Es geht darum, dass wir die Dimension der erfüllten Stille wiedergewinnen. Welche Wege bieten sich aus der Sicht des Christen an?


Das Gebet
Es braucht den Raum der Stille, um sich entfalten zu können: Nach einem Meditationskurs für Schüler des 7. und 8. Schuljahres, in dem wir versuchten, den jungen Menschen Hinweise zu geben, gefüllte Stille täglich zu erleben, äußerte sich ein Mädchen: "In diesen Tagen ist mein Gebet tiefer geworden." Und ein anderes bekannte: "Jetzt habe ich erlebt, dass das Beten richtig Spaß machen kann, vorher hatte ich es immer als langweilig, empfunden." Wo sich Beten im Raum der Stille entfalten kann, erlebt man, dass es sich unmerklich wandelt: Aus einem Gebet des Wortes, wie es uns Christen (hoffentlich l) vertraut ist, wird ein hörendes, lauschendes Beten, ein Warten, was Gott mir (nicht ich ihm!), zu sagen hat. Der Theologe Hans Urs von Balthasar schreibt:"Die meisten Christen sind überzeugt, dass Gebet mehr ist als ein äußerlicher, pflichtgemäß ausgeführter Akt, in dem man Gott Dinge sagt, die er schließlich weiß.... und wenn bei vielen Christen zu Ihrem Schmerz und Bedauern das Gebet auf dieser niedrigen Stufe stehen bleibt, sie wissen doch, es wäre mehr. "In diesem Acker läge ein verborgener Schatz, wenn ich bloß Hand anlegen und graben wollte und den Samen hineinlegen. In diesem Samenkorn läge die Kraft zu einem gewaltigen Baum, voll Blüten und Früchte, wenn ich es bloß pflanzen und hegen wollte" 2

Der Raum der Stille wird durch das Gebet zur erfüllten Stille – Vor vielen Jahren erzählte mir eine alleinstehende Krankenschwester: "Wenn ich abends heimkomme, sehne ich mich nach einem Menschen, mit dem ich mich noch der Last des Tages einmal gedanklich austauschen kann. Wenn ich nun niemanden habe, dann muss ich's eben Gott erzählen!'" Zuerst erscheint das Gespräch mit Gott oft nur wie ein Notbehelf, ein Ersatz für etwas Besseres, das ich mir gewünscht hätte. Aber plötzlich kann sich das Bild wandeln, wenn ich etwas von dem erfahre, In welcher Weise solches Beten die Stille füllen kann. Ein Mensch, der in vielen Jahren seines Lebens solche Schmerzen hatte, dass schlaflose Nachte für ihn das Normale wurden, begann in diesen Nächten für andere Menschen zu beten. Dieser Fürbittedienst wurde immer intensiver, bis er begriff, dass er hier eine wichtige, unübertragbare Aufgabe zu erfüllen habe. Was als "Notbehelf" begann, um die schlaflose Zeit irgendwie auszufüllen, wurde mehr und mehr für diesen Menschen zur Lebensaufgabe, die seinem Leben einen Sinn und sinnvollen Inhalt gab.


Das Wort Gottes.
Dieses Wort braucht den Raum der Stille, um für den Menschen vernehmbar zu werden. "Maria aber merkte es sich genau und dachte immer wieder darüber nach'" - "Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen" (Luk. 2,19). Zwei Übersetzungen des gleichen Verses (Gute Nachricht und Luther) lassen aus christlicher Erfahrung zwei verschiedene Lebensweisen aufleuchten: die Lebensweise eines Menschen, der sein Lebenszentrum in seinem Kopfe erlebt, und die Lebensweise eines Menschen, der weiß, dass wesentliche Dinge sich in der Tiefe des Menschen vollziehen Ohne dass das Wort "Stille" genannt wird, spürt man in der Lutherübersetzung die Stille, die dieses Geschehen umgibt und einhüllt. Ein Platzregen läuft von der vertrockneten Erde ab, ein stiller, sanfter Regen dringt ein bis in die Tiefe. Was bis in die Tiefe eines Wesens eindringen soll, darf einen nicht nur einmal heftig anrühren, sondern es braucht Zeit und Stille, um einzusinken und den Menschen zu durchdringen. "Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge" (Ignatius von Loyola) ist eine Anleitung zum Bibellesen, deren Wichtigkeit man kaum unterschätzen kann. Der Raum der Stille wird durch das Wort Gottes für uns zur erfüllten Stille.

Nicht immer gelingt es, in schlaflosen Stunden das fürbittende Gebet durchzuhalten. Auch Menschen, die viel beten, erleben es nicht selten, dass da plötzlich statt der Fülle eine tiefe Leere in ihnen ist, dass sie keine Worte des Gebetes mehr finden, so sehr sie sich auch darum bemühen.

Ein scheinbar ganz einfaches "Rezept" bietet uns dafür die Ostkirche an mit ihrer Aufforderung: Bete immer wieder im Rhythmus deines Atems ein kurzes Jesusgebet, etwa: "Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner." Die katholische Kirche fordert zum Rosenkranzgebet auf, wobei nicht das sich wiederholende "Gegrüßet seist du, Maria" das Wichtigste ist, sondern nur den Rahmen bildet, indem der Beter ein wesentliches Bild des Lebens Jesu anschaut, wie zum Beispiel: "Du hast uns den Heiligen Geist gesandt..."'

Wie könnten wir das für evangelisches Empfinden fruchtbar machen? Einige Vorschlüge: Ich nehme mir ein kurzes, wesentliches Wort der Bibel - das kann die Herrnhuter Tageslosung oder der Lehrtext sein, es kann ein Wort aus der Tageslese sein, vielleicht aber auch ein anderes, was mir gerade einfällt, etwa "Ich bin der Herr, dein Arzt' - oder einfach nur das Wort "Du" -, und ich wiederhole dieses eine Wort immer wieder, damit es ganz tief in mich eindringt. Nur aus dieser Tiefe her kann es dann immer mehr Bereiche meines Lebens beleuchten und durchdringen: Ich kann im Lichte dieses Wartes mein Leben anschauen, ich kann das Leben eines anderen Menschen anschauen (und so wieder in die Fürbitte hineingelangen) - ich kann auf Jesus schauen, damit ich sein Leben unter der Beleuchtung dieses Wortes neu in den Blick bekomme. Und ich werde die Stille als erfüllte Stille erleben, ob es sich um schlaflose Stunden in der Nacht handelt, ob ich an einem Krankheitstag einmal auf den Fernseher oder auf die Lektüre eines Krimis verzichte, um das Angebot solch eines "stillen Tages" nicht auszuschlagen, oder ob ich an einem Urlaubstag einmal bewusst eine Wanderung allein mache, um dabei etwas von echter "recreatio", Wiedergenesung, zu erleben.


Meditatives Gestalten
Auch dieses braucht den Raum der Stille, um sich entfalten zu können. Spontaneität und Kreativität sind Stichworte, die mit Recht heute viel gebraucht werden, weil sie verschüttete Dimensionen wieder aufgraben. Meditatives Gestalten birgt Kreativität wie Spontaneität in sich, weil es ein Gestalten aus der Wesensmitte des Menschen ist. Ich könnte in diesem Zusammenhang ausführlich von unseren Konfirmanden-Meditationskursen erzählen, die regelmäßig mit einem Gottesdienst abgeschlossen werden, den die Jugendlichen ganz selbständig - spontan und kreativ - gestalten. Sie malen Bilder, gestalten Plakate, verfassen Gedichte und Erzählungen, dichten und komponieren Lieder und halten eine selbstgestaltete Predigt. Gegeben ist dazu nichts als der Bibeltext und das Thema des Gottesdienstes. Fast immer erleben wir dort, wo wir von diesen Gottesdiensten berichten und einige Teile daraus vom Tonband abspielen, dass niemand glaubt, Vierzehnjährige hätten solches ohne Hilfe Erwachsener zustande gebracht. Man glaubt es eben deshalb nicht, weil man vielfach nichts mehr weiß von den schöpferischen Fähigkeiten, die das Erleben solcher gefüllten Stille gerade in jungen Menschen hervorruft. Aus dem Raum der Stille wächst meditatives Gestalten - in die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit hinein. Meditatives Gestalten in Malerei oder Plastik, in Bewegung und Tanz, wie es immer wieder in Meditationskursen angeboten und geübt wird, ist mehr als Spielerei! Gerade für den Christen vollzieht sich hier eine Einübung in etwas viel Größeres, Wesentlicheres:

Ich lerne das, was aus meinem Wesen aufsteigt, in einer mir gemäßen Form zu gestalten, nicht nur auf einem Blatt Papier oder mit einem Klumpen Ton, nicht nur in der Stunde einer spielerischen Tanzübung, sondern in der Verwirklichung meiner Lebens"gestaltung". Das ist nichts Geringeres als die Möglichkeit, mein Christsein in einer verantwortlichen, mündigen Weise zu leben. Jeder einzelne ist aufgerufen, das, was Christus ihm anvertraut hat, was er betend und hörend in sich aufgenommen hat, in seinem Leben zu verwirklichen: meditatives Gestalten des eigenen Lebens, das seine Wurzeln in der gefüllten Stille hat.

Es ist nicht zufällig, dass das Gottesvolk zu seiner eigenen, unvertauschbaren Gestalt in seiner Wüstenzeit wuchs und die Propheten immer wieder an diese Zeit erinnern, ebenso wie es nicht zufällig ist, dass Jesus sein Wirken in den vierzig Tagen seiner Wüstenzeit begann und dass Paulus zwei Jahre die Stille der Wüste brauchte, ehe er begann, durch seine Botschaft die damalige Welt zu verändern.

In Bethel bei Bielefeld
hat man vor einigen Jahren ein "Haus der Stille" gebaut - ein Haus, das von seiner Gestalt und von seiner Atmosphäre her den verschiedensten Menschen den äußeren Raum der Stille verschaffen möchte. Es nimmt Einzelgäste auf und Gruppen - Menschen - die sich nach Stille sehnen, nicht noch leerer, sondern nach gefüllter Stille. Wir wünschen uns viele solche Häuser, und wir brauchen Menschen, die uns dabei helfen. 3


Anmerkungen:
1 Veröffentlicht in „Ruf an den Bruder Heft 39, Evangelische Verlagsanstalt  Berlin 1981

2 H.U.v.Balthasar, “Das betrachtende Gebet“- Johannes-Verlag, Einsiedeln, 1965).

Inzwischen (im Jahre 2001) gibt es in vielen Landeskirchen und Ordenshäusern solche Häuser der Stille - so deutlich ist das Bedürfnis danach gewachsen und gesehen worden.


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